D i e T ä n z e r i n
Die verhängnisvollen Herbsttage begannen für Manfred wie alle anderen Arbeitstage, seit er die Assistentenstelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte. Morgenlärm drang von der Straße durch das gekippte Fenster und beendete seinen traumlosen Schlaf. Er kleidete sich an, setzte die Brille auf, formte die schütteren Haare zu einem Scheitel, ging in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb. An diesem Morgen lag auf dem Esstisch ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und lies es wieder sinken. Dann legte er es neben die Zeitungen auf den Kühlschrank. Nach dem Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Seine Hauptlektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen 7 Tage. Manfreds Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ausgereicht, nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, es meldeten sich aber lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.
Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen von Aufgabenblättern, die wöchentlich von Studierenden abgegeben wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Fachdokumenten, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.
Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa sah er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »NEUERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner geschriebene Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter. Doch an der nächsten Kreuzung zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße zum Institut und zu seiner Wohnung, sondern bog ab auf den Waldweg. Bald kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Strasse an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später hatte er es kaum mehr betreten. Der Eingang, der zu einer Empfangshalle mit Garderobe und zur Aula führt, war verschlossen, doch fand er den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn in den Garten führte, ohne dass er das Haus durchquerte. Im Garten setzte er sich auf eine Bank und ließ den Blick schweifen. An der Rückseite des Hauses lagen schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer dieser Räume war hell erleuchtet und erregte Manfreds Aufmerksamkeit. Durch das Glas sah er eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung. Sie saß ganz still mit gekreuzten Beinen auf den Boden, der Oberkörper war nach vorne gebeugt, die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt. Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie jetzt ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Blume. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an. Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation allmählich unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also stand er auf und ging. Er spürte sein Herz schlagen. Das Seminar vergaß er, er lief zu seiner Wohnung. Unterwegs erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu der ihn seine Tante als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, dass Ballett nichts für Jungen sei. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Monate bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.
Am nächsten Morgen saß er grübelnd im Institut. Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt verspürte er den starken Wunsch, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, in denen kleine Effekte bekannte Hypothesen oder Theorien bestätigen, sondern ein Experiment als Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoss versetzt, der etwas ganz Neues hervor bringt.
Manfred verzichtete auf eine Literaturrecherche, blickte auf das schwarze Bild des ausgeschalteten Computers und dachte nach. Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurück wirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und sie dann in kurzer Zeit übertragen.
Die Essenszeit war verpasst. So lief er, wie er sich vorgenommen hatte, direkt zum Waldweg. Diesmal gelangte er durch das Gebäude in den Garten. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Enttäuscht fuhr er nach Hause und brütete bis zum späten Abend über seine neue physikalische Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa Wasser, energetisch anregen, indem man sie mit Teilchen beschießt, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls Wellenzahl der Protonenwellen und die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers ein bestimmtes Zahlenverhältnis exakt annehmen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld dauerhaft aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet dieses Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen.
Ermüdet ging Manfred zu Bett. Nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht sagen können. Unruhig wechselte er seine Lage im Bett, wendete die Decke und warf dabei fast die Lampe um. Wozu warten? Er stand auf, sammelte die Blätter mit seinen Berechnungen zusammen, und machte sich auf den Weg. Es war kalt und kurz vor drei, als er am Institut ankam. Er erwog, den Zaun zu übersteigen, um eher an die Versuchsanlage zu kommen, begab sich dann doch zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals, nahm die sechs Treppenstufen am Rand und in Doppelschritten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den umliegenden Häusern, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun kam er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?« zischelte die Gegensprechanlage. »Beschleuniger«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unschlüssig im Lautsprecher, doch weil der Pförtner Manfred als Institutsmitarbeiter kannte, gab seine Hand einen Summton und die Tür frei.
Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten ringförmigen Gang unter der Erde. Ein Umbau im letzten Jahr hatte die nutzbare Energie enorm gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief es umständlich ausdrückte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch ein Praktikum, das er gegen Ende seines Studiums absolviert hatte, wusste er, wie die Anlage zu bedienen war. Er verschaffte sich Zugang, legte den Hauptschalter um und deaktivierte die Überlastsicherung, denn er würde sehr viel Energie brauchen. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas auf der Toilette mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert. Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verschwendete keinen Gedanken daran, das Experiment zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht an mögliche Risiken. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen und man würde es tun. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner direkt hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »Nein!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.
Vor 14 Milliarden Jahren war der Weinbergwinkel auf einen metastabilen Wert eingerastet, in der Probe begann er jetzt zu fluktuieren. Erst erhöhte er sich um einen Milliardstel seines Wertes, anschließend verringerte es sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm erhaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde erst an den äußeren Grenzen des Sonnensystems halt machen.
In diesem Augenblick erschien Manfred die Tänzerin erneut. Sie trug schwarze glatte Kleidung, die im Schein der Entladungsblitze aufglänzte. Direkt vor ihr stand sie, aufrecht, gestreckt; den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und sah ihn an. Ihre Lippen waren breit und rot; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein großes Staunen und ein Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.
Die verhängnisvollen Herbsttage begannen für Manfred wie alle anderen Arbeitstage, seit er die Assistentenstelle am physikalischen Institut der Universität angetreten hatte. Morgenlärm drang von der Straße durch das gekippte Fenster und beendete seinen traumlosen Schlaf. Er kleidete sich an, setzte die Brille auf, formte die schütteren Haare zu einem Scheitel, ging in die Küche und nahm die Kaffeemaschine in Betrieb. An diesem Morgen lag auf dem Esstisch ein Band aus einer Gesamtdarstellung der Quantenfeldtheorie; eines von wenigen Büchern, in denen er während der letzten Monate gelesen hatte. Er hob das Buch mit der rechten Hand an, als wolle er das Gewicht prüfen, und lies es wieder sinken. Dann legte er es neben die Zeitungen auf den Kühlschrank. Nach dem Frühstück ging er zu Fuß ins nahe gelegene Institut. Er schloss sein Zimmer auf, setzte sich an seinen Arbeitsplatz und startete den Computer, automatisch wurde die Internetverbindung zum Fachdokumenten-Server hergestellt. Seine Hauptlektüre bestand aus Artikeln in Fachzeitschriften, genauer gesagt: den elektronischen Versionen dieser Artikel. Als Suchbegriffe gab er zuerst seinen eigenen Namen ein, um festzustellen, ob er irgendwo zitiert wurde, dann »Higgs Field«. Keine Treffer für den Zeitraum der vergangenen 7 Tage. Manfreds Blick fiel auf die Ecke des Schreibtisches, wo in einem Zeitschriftenstapel die Ausgabe der »Communications on mathematical Physics« mit seiner letzten Veröffentlichung lag. Diese sorgfältige Arbeit hatte ausgereicht, nach dem Diplom eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu ergattern. Doch seine Forschung kam kaum voran. Er hatte auf Anregungen von Fachkollegen und fruchtbare Diskussionen gehofft, es meldeten sich aber lediglich zwei Doktoranden, die im gleichen Forschungsbereich tätig waren, mit speziellen Fragen zu ihren eigenen Arbeiten.
Den restlichen Vormittag korrigierte Manfred Lösungen von Aufgabenblättern, die wöchentlich von Studierenden abgegeben wurden, um einen »Schein« zu bekommen. Bevor er zum Mittagessen in die Zentralmensa aufbrach, suchte er nochmals nach Fachdokumenten, jetzt unter dem Begriff »Field«. Der Computer zeigte eine Vielzahl von Treffern an, doch nichts davon half ihm weiter.
Er beeilte sich mit dem Essen und wollte ins Institut zurück. Auf dem Weg zum Ausgang der Mensa sah er im Vorbeigehen ein Stellschild. Er las den Text: »NEUERÖFFNUNG ÜBUNGSRÄUME WALDWEG«, darunter standen kleiner geschriebene Worte, die er nicht las. Ohne zu halten oder nachzudenken ging er weiter. Doch an der nächsten Kreuzung zögerte er einen Moment. Er sah auf die Uhr. Bis zum Beginn der Seminarveranstaltung war noch Zeit. Einem inneren Impuls folgend, blieb er nicht auf der Straße zum Institut und zu seiner Wohnung, sondern bog ab auf den Waldweg. Bald kam er bei einem alten Gebäude am Ende der Strasse an. Das Gelände um das Haus am Waldrand hatte er in seiner Kindheit erkundet, später hatte er es kaum mehr betreten. Der Eingang, der zu einer Empfangshalle mit Garderobe und zur Aula führt, war verschlossen, doch fand er den Trampelpfad neben dem Parkplatz wieder, der ihn in den Garten führte, ohne dass er das Haus durchquerte. Im Garten setzte er sich auf eine Bank und ließ den Blick schweifen. An der Rückseite des Hauses lagen schallgedämmte Räume, die zum Musizieren und für andere künstlerische Tätigkeiten genutzt wurden. Einer dieser Räume war hell erleuchtet und erregte Manfreds Aufmerksamkeit. Durch das Glas sah er eine Frau in grüner und blauer Tanzkleidung. Sie saß ganz still mit gekreuzten Beinen auf den Boden, der Oberkörper war nach vorne gebeugt, die Arme neben dem Rumpf ruhig abgelegt. Als hätte sie auf Manfred gewartet, spannte sie jetzt ihre Muskeln an und begann, sich aufzurichten. Die Hände hoben sich, der Körper schraubte sich aufwärts wie eine in Zeitraffer wachsende Blume. Die geschlossene Gestalt öffnete sich zu einem Kelch und nahm rhythmisch fließende Bewegungen an. Manfred wusste nicht, ob die Tänzerin ihn bemerkt hatte, trotzdem wurde ihm die Situation allmählich unangenehm, und er wandte sich zur Seite ab. Auch das war ihm unangenehm, also stand er auf und ging. Er spürte sein Herz schlagen. Das Seminar vergaß er, er lief zu seiner Wohnung. Unterwegs erinnerte er sich an die Ballettstunde, zu der ihn seine Tante als Kind mitgenommen hatte. Es hatte Spaß gemacht, und sie bot an, ihn für den Unterricht anzumelden. Doch die Eltern meinten, dass Ballett nichts für Jungen sei. Das selbe hörte er von Schulkameraden, und er übernahm diese Auffassung. Statt Ballett hatte er einige Monate bei einer Theater-AG mitgemacht, aber es hatte ihn gelangweilt, Texte auswendig zu lernen.
Am nächsten Morgen saß er grübelnd im Institut. Sein Tagewerk bestand darin, Labormessungen über Protonenstreuung mit den Gleichungen einer bekannten Theorie in Einklang zu bringen. Jetzt verspürte er den starken Wunsch, das ganze Thema auf eine grundsätzliche, neue Art zu anzugehen: Er wollte ein Experiment durchführen. Keines der üblichen Art Experimente, in denen kleine Effekte bekannte Hypothesen oder Theorien bestätigen, sondern ein Experiment als Eingriff in die Natur, der ihr einen Stoss versetzt, der etwas ganz Neues hervor bringt.
Manfred verzichtete auf eine Literaturrecherche, blickte auf das schwarze Bild des ausgeschalteten Computers und dachte nach. Er kannte das Higgsfeld als unbeobachtbares, aber allgegenwärtiges Hintergrundfeld, das die Eigenschaften der beobachtbaren Materie beeinflusst. Er fragte sich, ob es geschehen könnte, dass Protonen auf das Higgsfeld zurück wirken und es verändern. Diese Protonen müssten zuerst gewaltige Energie speichern und sie dann in kurzer Zeit übertragen.
Die Essenszeit war verpasst. So lief er, wie er sich vorgenommen hatte, direkt zum Waldweg. Diesmal gelangte er durch das Gebäude in den Garten. Hinter den Fenstern regte sich nichts. Enttäuscht fuhr er nach Hause und brütete bis zum späten Abend über seine neue physikalische Fragestellung. Man konnte ein Material mit beweglichen Protonen, etwa Wasser, energetisch anregen, indem man sie mit Teilchen beschießt, beispielsweise mit anderen Protonen in der Beschleunigeranlage des Institutes. Falls Wellenzahl der Protonenwellen und die Umlaufdauer auf der kreisförmigen Bahn des Beschleunigers ein bestimmtes Zahlenverhältnis exakt annehmen, müsste Resonanz einsetzen. Mit der Resonanzenergie könnte er das Higgsfeld dauerhaft aus dem stabilen Zustand heraus führen. Unter Billionen Billionen Protonen würden statistisch nur einige wenige an der Reaktion teilhaben. Doch geriet dieses Feld nur im Inneren eines einzigen Teilchens aus dem Gleichgewicht, so würde sich die Zustandsänderung durch einen Dominoeffekt räumlich ausdehnen - auch im Vakuum zwischen den Atomen.
Ermüdet ging Manfred zu Bett. Nach wenigen Stunden wachte er schweißgebadet auf. Ein schlimmer Albtraum musste das gewesen sein. Was genau er geträumt hatte, hätte er allerdings nicht sagen können. Unruhig wechselte er seine Lage im Bett, wendete die Decke und warf dabei fast die Lampe um. Wozu warten? Er stand auf, sammelte die Blätter mit seinen Berechnungen zusammen, und machte sich auf den Weg. Es war kalt und kurz vor drei, als er am Institut ankam. Er erwog, den Zaun zu übersteigen, um eher an die Versuchsanlage zu kommen, begab sich dann doch zum Haupteingang, mied den Scheinwerfer in der Mitte des Portals, nahm die sechs Treppenstufen am Rand und in Doppelschritten. Er hatte das merkwürdige Gefühl, von den umliegenden Häusern, ja von der ganzen Stadt beobachtet zu werden. Nun kam er an der Pförtnerloge vorbei. »Wohin?« zischelte die Gegensprechanlage. »Beschleuniger«, antwortete Manfred. Eine Sekunde lang knisterte es unschlüssig im Lautsprecher, doch weil der Pförtner Manfred als Institutsmitarbeiter kannte, gab seine Hand einen Summton und die Tür frei.
Manfred war so aufgeregt, dass er beinah gegen ein Schild lief, welches mitteilte, dass auf dem gesamten Gelände die Straßenverkehrsordnung gelte. Der Beschleuniger lag in einem großen betonierten ringförmigen Gang unter der Erde. Ein Umbau im letzten Jahr hatte die nutzbare Energie enorm gesteigert, etwa auf das Zehnfache, oder wie der Institutsrundbrief es umständlich ausdrückte: »Um eine Zehnerpotenz«. Durch ein Praktikum, das er gegen Ende seines Studiums absolviert hatte, wusste er, wie die Anlage zu bedienen war. Er verschaffte sich Zugang, legte den Hauptschalter um und deaktivierte die Überlastsicherung, denn er würde sehr viel Energie brauchen. Anschließend suchte er lange nach Reagenzgefäßen, bis er eines in der Hand hielt, das ihm groß genug schien, füllte das Glas auf der Toilette mit Wasser und verbrachte es in den Beschleunigerring. Vierzig Minuten später hatte er die Steuerung programmiert. Die Stromversorgung fuhr hoch. Manfred verschwendete keinen Gedanken daran, das Experiment zu dokumentieren und Messungen anzustellen. Er dachte auch nicht an mögliche Risiken. Hier war eine Möglichkeit, fundamental in die Natur einzugreifen und man würde es tun. Er würde der Erste sein. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Plötzlich durchfuhr ihn der Gedanke, dass der Pförtner direkt hinter im stehe, ihn die ganze Zeit beobachtet hätte, ihn jetzt wegreißen und die Anlage abschalteten würde. Manfred wandte sich um. Im nächsten Moment glaubte er, dass eine mächtige, dröhnende Stimme von hinten, von oben, von überall her rufen müsse: »Nein!« Doch zu hören war nur das Summen der schweren Elektromagneten, die ihr Feld verstärkten.
Vor 14 Milliarden Jahren war der Weinbergwinkel auf einen metastabilen Wert eingerastet, in der Probe begann er jetzt zu fluktuieren. Erst erhöhte er sich um einen Milliardstel seines Wertes, anschließend verringerte es sich um den gleichen Prozentsatz. Nach einigen Oszillationen sprang das Higgsfeld in einen anderen Zustand, der den Raum erfasste und die in ihm erhaltene Materie transformierte. Die Neutrinos in der Luft wurden schwer wie Elefanten und donnerten durch den Beton hindurch dem Erdmittelpunkt entgegen. Der neue Feldzustand expandierte kugelkonzentrisch um die Versuchsanordnung, und diese Expansion würde erst an den äußeren Grenzen des Sonnensystems halt machen.
In diesem Augenblick erschien Manfred die Tänzerin erneut. Sie trug schwarze glatte Kleidung, die im Schein der Entladungsblitze aufglänzte. Direkt vor ihr stand sie, aufrecht, gestreckt; den Kopf leicht in den Nacken gelegt, und sah ihn an. Ihre Lippen waren breit und rot; die gleiche Farbe hatten ihre Fingernägel und ein Tuch, das in die langen schwarzen Haare eingebunden war. Mit einem Mal wirbelten ihre Gliedmaßen im Raum herum, heftig, geradezu schlagend und so schnell als hätte sie sechs oder acht Arme. Am Ende war alles ein einziger wilder Strudel in Rot und Schwarz. Auf Manfreds Gesicht lagen ein großes Staunen und ein Lächeln für die Sekundenbruchteile, in denen seine Moleküle noch existierten.
Dies war der Tag, an dem die Welt unterging.