Die Transistion

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Ati

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Die Transistion
Eine Kurz(e)Geschichte
von Antje Jürgens​

Wann genau ich mir meiner Umgebung bewusst wurde, weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß, dass fast zeitgleich die Panik einsetzte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich dorthin gekommen, wie ich in diese prekäre Lage gelangt war. Es war dunkel. Heiß. Und ich steckte fest. Gnadenlos. Ich konnte weder vor noch zurück. Und auch der Weg zur Seite war mir versperrt, meine Arme waren flach an meine Seiten gepresst. Ich fühlte meine Fäuste, die sich in meine Leisten bohrten, meine Beine spürte ich jedoch nicht. Der Rest von meinem Körper schmerzte unsäglich. Ein stechender, bohrender, reißender, ziehender, zugleich heiß-kalter Schmerz. Am schlimmsten war der Druck auf meinen Kopf. Oder war er in ihm? Ich hatte Angst, dass er platzen könnte.

Wie lange ich in dieser Position verharrte? Ich weiß es nicht. Zu sehr beschäftigte mich die Angst, zu sterben. War ich etwa tauchen gewesen? Irgendwo in meinem Hinterkopf schwirrte dieser Gedanke herum, vermutlich weil gedämpft, wie unter Wasser, Geschrei an mein Ohr klang. Wie beim Tauchen hörte ich zudem dieses gedämpfte Blubbern und Knistern. Dieses latente Rauschen. Obwohl ich mir rein vom Verstand her sagen musste, dass um mich herum gar kein Platz für Wasser war, erinnerte ich mich plötzlich glasklar an meine ersten Tauchversuche in der Schule. Ich hatte mit einem Klassenkameraden gewettet, die ganze Bahn zu schaffen. Fatalerweise bemerkte ich bereits beim dritten oder vierten Zug, dass ich es mit dem zuvor noch hastig eingesaugten Luftvorrat unmöglich bis dahin schafften konnte. Wie damals ging mir gerade eindeutig die Luft aus.

Im nächsten Augenblick hatte ich das Gefühl, dass etwas hinter mir mich nach vorne drückte. Das war zwar im Bezug auf meine missliche Situation durchaus praktisch, verursachte mir aber noch mehr Schmerzen. Meine Schultern fühlten sich an, als ob sie im nächsten Moment ausgerenkt werden könnten. Obwohl man mich davor gewarnt hatte, öffnete ich den Mund, um zu schreien. Allerdings brachte ich keinen Ton heraus, weil mir sofort eine schmierig-schleimige Flüssigkeit in den Mund lief. Ich war vielleicht nicht wirklich unter Wasser, aber im Trockenen war ich ganz und gar nicht. Ich schmeckte Blut. Über alles andere, was meine Geschmacksknospen mir sonst noch meldeten, wollte ich mir keine Gedanken machen. Hätte man über Nacht eine tote Katze dort versteckt, hätte es nur unwesentlich schlechter schmecken können.

Fast so, als ob mein Bewusstsein in mehrere Teile gespalten wäre, versuchte ein Teil von mir unter allen Umständen ruhig zu bleiben. Was zwingend notwendig war, denn ein anderer Teil war angesichts aller Empfindungen, der Schmerzen, der Atemnot, eindeutig in Panik. Und wieder ein anderer versuchte krampfhaft Erinnerungssplitter und Gedanken zu sortieren, von denen mir eine Menge durch den Kopf schossen wie ein wildgewordener Bienenschwarm. Ich war davor gewarnt worden den Mund zu öffnen? Von wem? Warum?

Schlagartig fiel mir die Qualifikation ein. Ich war durch die Qualifikation gegangen. Mit Hunderten von Auserwählten hatte ich es in die Finalklausur geschafft. Wurde dort auf die Transistion vorbereitet. Ein paar Gesichter blitzten in meinem Gedächtnis auf, zu flüchtig um mich an diesen Erinnerungen festzuhalten. Aber ich wusste, dass sie meine Freunde waren. Dass wir viel gelacht und herumgealbert hatten, selbst als es an die ernsthafteren Seminarinhalte ging. Selbst als seitens unserer Tutoren von Unwohlsein und Schmerzen die Rede gewesen war. Sie hatten uns gesagt, dass es nicht einfach werden würde. Dass es für den einen oder anderen sogar unter Umständen gefährlich werden könnte. Lebensgefährlich. Wir hatten darüber gelacht. Es gab nichts, was wir nicht schaffen konnten. Nichts, was unsere Motivation bremsen konnte. Nichts, was uns von unserer neuen Aufgabe abhalten konnte, zu der wir uns durch die Bank freiwillig gemeldet hatten.

War das hier etwa die angekündigte letzte Trainingseinheit vor dem heiß ersehnten Tag X? Wenn ja, dann unterschied sie sich völlig von allen anderen. War etwas schief gelaufen? Das musste es sein. Unsere Tutoren waren immer überaus rücksichtsvoll, ja liebevoll gewesen. Das hier passte ganz und gar nicht zu den übrigen Vorbereitungen. Das hier war nichts, worauf man sich freuen sollte. Das hier war die Hölle. Nichts hatte uns, hatte mich auf diese Angst, diese Schmerzen vorbereitet. Absolut gar nichts!

Mir fiel ein, dass mir der Tag X nie genannt worden war. Und dass ich mich gar nicht an den Beginn der letzten Trainingseinheit erinnern konnte. Meine letzte Erinnerung war eine fröhliche. Ich befand mich im Kreis anderer Auserwählter. Wir feierten ausgelassen. Was genau wollte mir gerade partout nicht einfallen. Aber wir saßen im großen Saal zusammen. Wir tanzten, tranken, lachten. Was war danach passiert?

Der Teil von mir, der rein auf das Empfinden konzentriert war, versuchte verzweifelt, mit der Zunge das schmierige, schleimige Zeug aus meinem Mund zu schieben. Noch während ich damit beschäftigt war, wurde es schlagartig gleißend hell um mich herum. Ich riss meine Augen auf, wobei ich mir zuvor gar nicht bewusst gewesen war, dass sie überhaupt geschlossen waren. Im nächsten Moment blinzelte ich wie ein Weltmeister, weil sie wie Feuer brannten. Alles, was ich sehen konnte, war verschwommen. Aber auch dieser verschwommene Blick schürte meine Panik. Die Farben stimmten nicht. Trotz der Helligkeit fehlten die Farben. Was ich sah, war zwar nicht direkt schwarz-weiß, bunt war es jedoch auch nicht. Es war, als wäre die Welt in einen sepiafarbenen Nebel getaucht. Lediglich ein paar rötlich gefärbte Schatten schwebten bedrohlich vor dem gleißend hellen Hintergrund über und neben mir. Mit dem Licht kam der Lärm. Ohrenbetäubend laut. Schrill. Unerträglich. Nichts davon kam mir bekannt vor.

Hände griffen nach mir. Grobe Hände. Sie zogen und zerrten. War ich gerade eben noch froh gewesen, nicht mehr alleine zu sein, Hilfe zu bekommen, bekam ich es jetzt noch mehr mit der Angst zu tun. Der Lärm tat mir genau wie das Licht körperlich weh. Hinzu kam das Gefühl, auseinandergerissen zu werden. Die Hände lagen zwischenzeitlich wie Schraubstöcke um meinen Kopf und den Hals und zerrten an mir, während der Rest von mir nach wie vor noch irgendwo feststeckte. Meine Nackenwirbel und Schultern knirschten Furcht einflößend. Gleichzeitig spürte ich meinen Herzschlag, der kurz zuvor noch eher einem Stakkato geglichen hatte, langsamer werden, viel langsamer, erschreckend langsam. Irgendwo hatte ich einmal gelesen, dass der Körper in Schocksituationen den Blutkreislauf zentralisiert, um den Sauerstoffverbrauch auf die lebenswichtigen Organe zu konzentrieren. Mein Bauch fühlte sich tatsächlich schwerer an, und obwohl ich nach wie vor irgendwie feststeckte und jemand an mir riss wie ein Verrückter, empfand ich meinen Kopf und meine Arme seltsam schwerelos. Dieses schwerelose Gefühl kam mir vertraut vor. Es ähnelte jenem, das mich unmittelbar bei meiner Ankunft an der Schwelle überfallen hatte. Vielleicht war ich aber auch einfach kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Atmete ich überhaupt? Auserwählt wie ich war, war ich ein fakultativer Anaerobier, konnte zwar über Mund und Nase atmen, musste es aber nicht. Als solcher hatte ich aber nie den Drang verspürt zu atmen, so wie jetzt. Ich brauchte Luft.

Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, spürte ich, wie mein Brustkorb ein weiteres Mal auf grausamste Art zusammengequetscht wurde. So sehr, dass das schleimige Zeug in meinem Mund förmlich aus meinem Mund schoss. Gleichzeitig wurde ich aus meinem engen Gefängnis befreit. Ich riss den Mund auf. Wollte atmen, was mir auch gut gelang. Es hörte sich etwas gurgelnd an, aber es ging. Meine Stimmbänder versagten dagegen auf ganzer Linie. Als ich meinen Schmerz und die Angst herausschreien wollte, kam nur ein erbarmungswürdiges Quietschen heraus, dem zudem niemand Beachtung schenkte.

Jetzt spürte ich zwar, dass in meinen Beinen durchaus noch ein Gefühl war, bewegen konnte ich mich jedoch trotzdem nicht. Ich wurde erbarmungslos festgehalten. Ich begann unkontrolliert zu zittern, was auch daran lag, dass es saukalt war. Ich kam mir vor, als ob ich per Express aus einem Hochofen in einen Eiskeller verfrachtet worden war. Doch der Griff war wirklich beängstigend. Viel beängstigender als alles, was ich zuvor gespürt hatte. Unnachgiebig, hart. Obwohl ich mich zu wehren versuchte, wurden an meinen Gliedmaßen gezerrt, als wäre ich eine Marionette. Ich spürte, wie mir etwas in Mund und Nase geschoben wurde. Die Schmerzen waren genauso grausam wie der nach wie vor herrschende infernalische Lärm oder das grelle Licht. Im nächsten Moment spürte ich, wie etwas über mein Gesicht schrappte. Es fühlte sich an wie Sandpapier, sehr grobes Sandpapier. Doch obwohl das Atmen immer besser funktionierte, produzierten meine Stimmbänder nach wie vor nur dieses erbarmungswürdige Quietschen.

Obwohl ich mich sterbenselend fühlte, wurde mir bewusst, dass ich das hier irgendwie überleben würde. Mein Verstand wurde zunehmend klarer. Erinnerungsfetzen verdichteten sich zu klaren Bildern, während an mir herumgewerkelt wurde. Mir fiel ein, wie Gabriel auf mich zugekommen und mich lächelnd aufgefordert hatte, mitzukommen. Wie Gabriel mich behutsam umarmt hatte. Wie sein Zeigefinger danach auf mein Gesicht zuschwebte. Ich hatte zwar kein Ahnung, wie das im Einzelnen funktionieren sollte, aber ich wusste: Wenn sein Zeigefinger meine Oberlippe mittig berühren würde, würde ich durch die Transistion gehen. Mein furchen- und faltenloses Gesicht würde um eine kleine Furche über der Oberlippe reicher sein. Es war wie ein Siegel. Ein Zeichen, dass ich das Geheimnis der Schöpfung für mich bewahren konnte.

Doch dazu war es gar nicht gekommen. Gabriel war abgelenkt worden. Hatte sich überrascht umgedreht, mich losgelassen. Ich war gefallen und gefallen und hier wieder zu mir gekommen. Keine Ahnung, wo ich genau war, aber ich war ein Auserwähltes. Wenn das hier vorbei wäre, würde ich mich aber so was von beschweren. Ich würde unseren Tutoren den Marsch blasen. Und wer immer Gabriel im entscheidenden Moment auch abgelenkt hatte, würde auch sein Fett abbekommen. Ich würde so einen Wirbel verursachen, dass die Wolken wackelten. Das konnten sie mit mir nicht machen. Ich war ein Auserwähltes in Finalklausur!

Mein Blick schärfte sich plötzlich. Ich bemerkte, dass Gabriel gebeugt über mir stand. Ich sah nur die glatte Stirn und die Augen, weil der Rest des Antlitzes hinter einem geblümten Viereck verborgen war. Aber diese Augen würde ich überall erkennen. Sie lächelten, grenzenlose Wärme und unendliches Wissen lag in ihnen.

Ich wollte gerade mit meiner Beschwerde loslegen, als der Zeigefinger wie aus dem Nichts auf mich zuschwebte. Die Berührung fühlte sich köstlich an, machte süchtig nach mehr. Kaleidoskopartig schossen mir unzählige Bilder in rasender Reihenfolge durch den Kopf. Seltsam losgelöst war mir bewusst, dass diese Bilder trotz ihrer Fülle nur den kleinsten Bruchteil einer Sekunde in Anspruch nahmen. Dass ich das schon mehrmals erlebt hatte. Dass ich uralt war. Ich runzelte dennoch die Stirn, weil ich immer noch wütend war. Bevor ich Gabriel sagen konnte, was ich von alledem hielt, hörte ich Gabriels flüsternde Stimme in meinem Kopf. „Wenn du es vorher gewusst hättest, hättest du dich nicht gemeldet. Genau wie alle anderen. Mach dir keine Gedanken. Es wird alles gut.“

Während die Worte seltsam in meinem Kopf nachhallten, spürte ich, wie sich mein Gesicht zwischen Nase und Mund verformte, wie die kleine Furche entstand. Es fühlte sich seltsam an. Noch absonderlicher fühlte es sich an, als ich förmlich spürte, wie sich gerade wiedergefundene Erinnerungen an meine alten Leben auflösten, mein Wissen um die Wiedergeburt. Sie hatten uns gesagt, dass wir alles vergessen würden, wenn wir durch die Transistion wieder zurückkehren. Dass wir nicht in unser altes Leben zurück könnten. Dass alte Kontakte und Beziehungen verloren wären, höchstens durch Zufall neu entstehen könnten. Wir hatten ihnen nicht geglaubt, weil wir es uns nicht vorstellen konnten. Im Schwellenort waren wir so eng verbunden, dass das einfach undenkbar war. Jeder kannte jeden in- und auswendig. Wie dumm wir doch gewesen waren.

Jetzt fühlte ich, wie alles aus meinem Kopf getilgt, wie alles ausradiert wurde. Dazu gehörte auch das Wissen, warum ich mir das hier nicht zum ersten Mal antat. Es war einfach, weil wir als lebende Wesen die ganze Bandbreite an Sinnesempfindungen erfühlen, Erfahrungen sammeln, unbelastet lernen und vielleicht etwas besser machen konnten. Bedauerlicherweise wurde mir auch bewusst, dass ich ganz, ganz viel neu lernen musste. Und bevor ich mich an die größeren Aufgaben machen konnte, erst einmal stubenrein werden oder sprechen lernen musste. Ich würde erst einmal völlig hilflos sein. Wie hatte ich das nur vergessen können?

Das lächelnde gütige Gesicht über mir erschien mir zunehmend fremder. Ich fing wie am Spieß an zu schreien, weil ich es nicht auch noch vergessen wollte.

Jemand anderes beugte sich plötzlich über mich. Warme Hände griffen behutsam nach mir und betteten mich in eine Armbeuge. Eine tiefe, mir völlig unbekannte aber ganz und gar nicht unsympathische Stimme ertönte leise an meinem Ohr: „Schrei ruhig. So laut du kannst, meine kleine Prinzessin. Zeig der Welt, dass du da bist!“ Die Stimme wurde lauter, während der sich in eine andere Richtung wandte. „Schatz, ich glaube, du hattest von Anfang an recht. Wir können dieses kleine, bildschöne Wunder nicht Selima nennen. Man sieht ihr auf den ersten Blick an, dass sie nicht sanft und ruhig ist. Leonie passt tatsächlich besser. Die brüllt jetzt schon wie ein Löwe und sieht auch so hungrig aus.“ Er wandte sich wieder zu mir. „Und jetzt meine kleine, wunderschöne Prinzessin, möchte ich dir deine Mutter vorstellen.“

Copyright 2012, Antje Jürgens
 



 
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