Die Treppe
Ich war drei Jahre alt und erwachte in meinem Gitterbett. Die Sonne lachte mich an und ich lachte zurück. Auf dem Baum vor dem Fenster sangen die lieben Vögelein ihre Zwitscherlieder. Gern hätte ich mitgesungen, aber die Oma, die Tante und der Onkel sagten immer, daß ich leise sein muß. Ich rüttelte an den Gitterstäben, wie ich es morgens immer tue. Dann kam nämlich jemand, mich zu holen. Diesmal nicht. Ich rüttelte stärker. Wo blieben sie heute nur? Ich stand ungeduldig auf. Die Vögelein waren verstummt. Ich fühlte mich mächtig groß und begann, im Kreis herumzulaufen, die rechte Hand immer auf dem Gitter. Es machte großen Spaß, im Bett zu laufen und seinem Knarren zu lauschen. Aus lauter Lebenslust begann ich zu singen, alle Verbote mißachtend. Plötzlich war das Gitter weg, ich stand in einem normalen Bett. Schnell sprang ich hinaus und lief durch die Zimmer, um die Erwachsenen zu suchen. Da fiel mir ein, daß die Oma kürzlich gestorben war. Ich war nicht traurig darüber, sie war eine garstige Alte gewesen. Endlich traf ich auf zwei mir völlig unbekannte Leute, doch ich wußte: das sind Onkel und Tante. Sie waren ausgehfertig gekleidet. Der Onkel sagte ernst: „Zieh dich rasch an, du wirst heute eingeschult.“ Ich explodierte voller Freude: “Hurra! Hurra! Hurra!“ Die Tante darauf dünnlippig: „Jaja, beeil dich, wir kommen sonst zu spät!“ Ich rannte zu meinem Bett zurück und zog mühsam die löchrige Unterwäsche an, das weiße Kleid mit den lustigen roten Pünktchen und die Schuhe. Als ich sie endlich anhatte, sah ich die Strümpfe liegen. Die Tante hatte inzwischen schon zweimal gerufen: „Beeil dich!“ Sollte ich nun die Schuhe wieder ausziehen? Das würde lange dauern. Die Strümpfe an? Das würde lange dauern. Dann die Schuhe wieder an? D a s w ü r d e l a n g e d a u e r n! Also sprang ich zu dem Ehepaar. Wir verließen die Wohnung. Dabei dachte ich: „Neue Schuhe auf nackten Füßen? Das gibt Blasen! Aber die Einschulung ist ja schnell vorbei, es wird nicht schlimm.“ Die Tante sprach mit gerunzelten Brauen: „Geh mal schon immer auf die Straße, wir müssen noch schnell was erledigen.“ Ich war verdutzt – konnte das nicht erledigt werden, während ich mich anzog? Doch ich wagte keinen Widerspruch. Zögernd ging ich die Treppe hinunter. Die Erwachsenen waren schon sehr weit über mir, als ich mich ängstlich nach ihnen umsah. Die Tante winkte: „Geh nur ruhig weiter, wir kommen gleich.“ So ging ich beklommen weiter die Treppe hinunter, doch befand ich mich plötzlich unter ihr. Es war, als würde mein Kopf sich bemühen, die Treppe hinunterzugehen, aber das wollten, sollten und mußten die Füße tun. Verwirrt rumpelte ich mich vorwärts. Die Treppe wurde immer länger. Was ist hier bloß los? Dachte ich und wußte, ich bin inzwischen schon wieder älter geworden. Da wurde es hell und ich stand normal auf der Treppe. Aufatmend ging ich hoch. Dann erschrak ich – das war die falsche Richtung! Zur Straße mußte ich anderslang! Ich sprang hastig die Treppe hinunter, mehrere Stufen auf einmal nehmend. Wie groß bin ich jetzt wohl? Schoß es mir durch den Sinn und schon befand ich mich wieder in Dunkelheit und Schmutz unter der Treppe. Mühselig versuchte ich, vorwärts zu kommen. Na, zu spät für die Einschulung war es nun ganz sicher. Es ging mir auch gar nicht mehr darum, zur Schule zu kommen, sondern auf die Straße, zu Menschen! Es wurde wieder hell, aber wo war ich jetzt? Ich stand in einem großen Kaufhaus – hoch über allen Leuten, die geschäftig, gemütlich, satt und zufrieden, traurig, gelangweilt und was weiß ich nicht noch alles waren - auf einem weiß gestrichenen Eisenträger, der schnell rostete. Vor Angst zitternd beobachtete ich die Leute und hoffte, daß irgendjemand mich bemerkt. Es mußte mich jemand bemerken, mein Atem rasselte laut durch die Halle. Meine Knie zitterten so stark, ich fürchtete, den Halt zu verlieren und abzustürzen. Mein Halt war die Wand in meinem Rücken. Ich preßte mich bebend an sie. Wo war die Treppe geblieben? Sie hatte mich auf diesen Träger gespuckt und war verschwunden! Gegenüber, weit entfernt von mir, stieß der Träger an eine zierliche Holztreppe, die – kunstvoll geschwungen und verziert, gut gepflegt und dick lackiert – mir viel zu schade erschien, um von mir betreten zu werden. Ich wagte sowieso auch nicht den winzigsten Schritt auf diesem Eisenträger. Ich hatte Atemnot vor Angst. Alleine kam ich nicht weiter, ich mußte die Leute auf mich aufmerksam machen. Ich rief vorsichtig: „Hallo, kann jemand Hilfe holen?“ Alle blieben stehen und blickten sich um, niemand sah hoch. Ich mußte deutlicher werden: „Kann jemand Hilfe holen? Ich bin hier oben.“ Vier oder sechs Menschen liefen sofort los, um Hilfe zu holen, die anderen gingen wieder ihren Beschäftigungen nach. Einige aber starrten mich an. Ich hoffte, daß jemand eine Leiter bringt und unter mich stellt. Aber gibt es zehn Meter hohe Leitern? Die Feuerwehr paßt nicht durch die Kaufhaustür. Sie werden eine Pyramide aus Leitern errichten müssen, um mich und mein weißes Kleid mit roten Pünktchen zu retten. Wird die Pyramide einstürzen, wenn sie meine einhundert Kilo zu spüren bekommt? Einige der Untenstehenden hatten sensationslüsterne Gesichter. Wie ich diese Gaffer verabscheute! Kein Mitgefühl, nur Bosheit! Entsetzt erkannte ich, daß ich eine gereifte Frau bin. Gleich werden die Reporter kommen und mich ausfragen und keiner wird mir die Geschichte mit der Treppe glauben und morgen wird alles in der Zeitung stehen oder sogar im Fernsehen sein und alle werden von meiner Schande wissen und mich auslachen! Oh, dieses niederträchtige Grinsen! Dann schon lieber abstürzen. Augen zu dabei . . .
Bum-bumm, bum-bumm, bum-bumm machte mein herz, daß das bett vibrierte. o gott, was für ein albtraum! Da ich nicht wieder einschlafen konnte, hab ich ihn hier aufgeschrieben, sagt mal was dazu. Lieben gruß
Ich war drei Jahre alt und erwachte in meinem Gitterbett. Die Sonne lachte mich an und ich lachte zurück. Auf dem Baum vor dem Fenster sangen die lieben Vögelein ihre Zwitscherlieder. Gern hätte ich mitgesungen, aber die Oma, die Tante und der Onkel sagten immer, daß ich leise sein muß. Ich rüttelte an den Gitterstäben, wie ich es morgens immer tue. Dann kam nämlich jemand, mich zu holen. Diesmal nicht. Ich rüttelte stärker. Wo blieben sie heute nur? Ich stand ungeduldig auf. Die Vögelein waren verstummt. Ich fühlte mich mächtig groß und begann, im Kreis herumzulaufen, die rechte Hand immer auf dem Gitter. Es machte großen Spaß, im Bett zu laufen und seinem Knarren zu lauschen. Aus lauter Lebenslust begann ich zu singen, alle Verbote mißachtend. Plötzlich war das Gitter weg, ich stand in einem normalen Bett. Schnell sprang ich hinaus und lief durch die Zimmer, um die Erwachsenen zu suchen. Da fiel mir ein, daß die Oma kürzlich gestorben war. Ich war nicht traurig darüber, sie war eine garstige Alte gewesen. Endlich traf ich auf zwei mir völlig unbekannte Leute, doch ich wußte: das sind Onkel und Tante. Sie waren ausgehfertig gekleidet. Der Onkel sagte ernst: „Zieh dich rasch an, du wirst heute eingeschult.“ Ich explodierte voller Freude: “Hurra! Hurra! Hurra!“ Die Tante darauf dünnlippig: „Jaja, beeil dich, wir kommen sonst zu spät!“ Ich rannte zu meinem Bett zurück und zog mühsam die löchrige Unterwäsche an, das weiße Kleid mit den lustigen roten Pünktchen und die Schuhe. Als ich sie endlich anhatte, sah ich die Strümpfe liegen. Die Tante hatte inzwischen schon zweimal gerufen: „Beeil dich!“ Sollte ich nun die Schuhe wieder ausziehen? Das würde lange dauern. Die Strümpfe an? Das würde lange dauern. Dann die Schuhe wieder an? D a s w ü r d e l a n g e d a u e r n! Also sprang ich zu dem Ehepaar. Wir verließen die Wohnung. Dabei dachte ich: „Neue Schuhe auf nackten Füßen? Das gibt Blasen! Aber die Einschulung ist ja schnell vorbei, es wird nicht schlimm.“ Die Tante sprach mit gerunzelten Brauen: „Geh mal schon immer auf die Straße, wir müssen noch schnell was erledigen.“ Ich war verdutzt – konnte das nicht erledigt werden, während ich mich anzog? Doch ich wagte keinen Widerspruch. Zögernd ging ich die Treppe hinunter. Die Erwachsenen waren schon sehr weit über mir, als ich mich ängstlich nach ihnen umsah. Die Tante winkte: „Geh nur ruhig weiter, wir kommen gleich.“ So ging ich beklommen weiter die Treppe hinunter, doch befand ich mich plötzlich unter ihr. Es war, als würde mein Kopf sich bemühen, die Treppe hinunterzugehen, aber das wollten, sollten und mußten die Füße tun. Verwirrt rumpelte ich mich vorwärts. Die Treppe wurde immer länger. Was ist hier bloß los? Dachte ich und wußte, ich bin inzwischen schon wieder älter geworden. Da wurde es hell und ich stand normal auf der Treppe. Aufatmend ging ich hoch. Dann erschrak ich – das war die falsche Richtung! Zur Straße mußte ich anderslang! Ich sprang hastig die Treppe hinunter, mehrere Stufen auf einmal nehmend. Wie groß bin ich jetzt wohl? Schoß es mir durch den Sinn und schon befand ich mich wieder in Dunkelheit und Schmutz unter der Treppe. Mühselig versuchte ich, vorwärts zu kommen. Na, zu spät für die Einschulung war es nun ganz sicher. Es ging mir auch gar nicht mehr darum, zur Schule zu kommen, sondern auf die Straße, zu Menschen! Es wurde wieder hell, aber wo war ich jetzt? Ich stand in einem großen Kaufhaus – hoch über allen Leuten, die geschäftig, gemütlich, satt und zufrieden, traurig, gelangweilt und was weiß ich nicht noch alles waren - auf einem weiß gestrichenen Eisenträger, der schnell rostete. Vor Angst zitternd beobachtete ich die Leute und hoffte, daß irgendjemand mich bemerkt. Es mußte mich jemand bemerken, mein Atem rasselte laut durch die Halle. Meine Knie zitterten so stark, ich fürchtete, den Halt zu verlieren und abzustürzen. Mein Halt war die Wand in meinem Rücken. Ich preßte mich bebend an sie. Wo war die Treppe geblieben? Sie hatte mich auf diesen Träger gespuckt und war verschwunden! Gegenüber, weit entfernt von mir, stieß der Träger an eine zierliche Holztreppe, die – kunstvoll geschwungen und verziert, gut gepflegt und dick lackiert – mir viel zu schade erschien, um von mir betreten zu werden. Ich wagte sowieso auch nicht den winzigsten Schritt auf diesem Eisenträger. Ich hatte Atemnot vor Angst. Alleine kam ich nicht weiter, ich mußte die Leute auf mich aufmerksam machen. Ich rief vorsichtig: „Hallo, kann jemand Hilfe holen?“ Alle blieben stehen und blickten sich um, niemand sah hoch. Ich mußte deutlicher werden: „Kann jemand Hilfe holen? Ich bin hier oben.“ Vier oder sechs Menschen liefen sofort los, um Hilfe zu holen, die anderen gingen wieder ihren Beschäftigungen nach. Einige aber starrten mich an. Ich hoffte, daß jemand eine Leiter bringt und unter mich stellt. Aber gibt es zehn Meter hohe Leitern? Die Feuerwehr paßt nicht durch die Kaufhaustür. Sie werden eine Pyramide aus Leitern errichten müssen, um mich und mein weißes Kleid mit roten Pünktchen zu retten. Wird die Pyramide einstürzen, wenn sie meine einhundert Kilo zu spüren bekommt? Einige der Untenstehenden hatten sensationslüsterne Gesichter. Wie ich diese Gaffer verabscheute! Kein Mitgefühl, nur Bosheit! Entsetzt erkannte ich, daß ich eine gereifte Frau bin. Gleich werden die Reporter kommen und mich ausfragen und keiner wird mir die Geschichte mit der Treppe glauben und morgen wird alles in der Zeitung stehen oder sogar im Fernsehen sein und alle werden von meiner Schande wissen und mich auslachen! Oh, dieses niederträchtige Grinsen! Dann schon lieber abstürzen. Augen zu dabei . . .
Bum-bumm, bum-bumm, bum-bumm machte mein herz, daß das bett vibrierte. o gott, was für ein albtraum! Da ich nicht wieder einschlafen konnte, hab ich ihn hier aufgeschrieben, sagt mal was dazu. Lieben gruß