Die Weltenweberei

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VeraL

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Der edle Ritter Sir Konrad der Allerstärkste war enttäuscht. König Baldur hatte ihn beauftragt, den schwarzen Siegelring in der Schattenwelt zu finden, und er hatte sich darauf gefreut, in eine andere Welt zu reisen. Dieses Abenteuer würde ihm ewigen Ruhm einbringen. Er hatte sich den Übergang als mächtiges Tor oder schimmerndes Portal vorgestellt. Stattdessen zügelte er sein Schlachtross vor einer Fabrikhalle.

Sir Konrad kramte in seiner Satteltasche, zog eine verknitterte Karte heraus und studierte sie ausgiebig. Er sah sich um. Hier hatte Ansgar der Weise ihn hingeschickt. Hatte sich der alte Bibliothekar geirrt? Etwas tüdelig war er schon in der letzten Zeit. Der edle Ritter seufzte und ließ sich von seinem Schlachtross gleiten. Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Er klopfte an die Tür zur Fabrik und wartete. Als niemand öffnete, donnerte er erneut dagegen.
»Ja, ich komme schon. Wir haben übrigens eine Klingel.« Ein winziger Mann zog seine Hose hoch, hakte die Daumen in die Hosenträger und musterte den Ritter von oben bis unten. »Ach, mal wieder einer von Ihrer Sorte. Kommen Sie rein.«
Von Ihrer Sorte? Das war nicht die passende Begrüßung für einen edlen Ritter. Sir Konrad wollte protestieren, aber da war der Winzling schon im Flur verschwunden. Sir Konrad stapfte hinter ihm her. In einem vollgestopften Büro baute er sich vor dem Mann auf. »Ich bin der edle Ritter Sir Konrad der Allerstärkste. Ich bin durch endlose Wüsten geritten, habe die höchsten Gebirge bezwungen und bin über das große Meer gesegelt. Jetzt bin ich hier und ersuche den Knecht, mir den Saum der Welten zu zeigen, damit ich in die Schattenwelt hinabsteigen und König Baldur den schwarzen Siegelring überreichen kann, der dem ganzen Königreich Wohlstand und Macht bringen wird.«
»Jo, ich bin Manfred. Ich mache jetzt Mittag, aber ich sage dem Kollegen Bescheid.«
Manfred verschwand und dann passierte nichts.

Unverschämt, dieser Typ. Was bildete der sich ein? Sir Konrad lief in dem Büro auf und ab und seine Rüstung quietschte. Er würde sich beschweren. Nur wo? Und bei wem? Schließlich ging die Tür auf und ein nur unwesentlich größerer Mann als der erste kam herein.
»Ach, Sie hab ich ja vollkommen vergessen. Nehmen Sie dahinten Platz. Die Werksführung fängt gleich an.«
Und damit verschwand dieser Mann ebenfalls wieder.
Sir Konrads Visier klappte vor Empörung nach unten. Er klapperte den Gang runter in den Wartebereich und traute seinen Augen nicht. Dort saßen drei Ritter in glänzenden Rüstungen, ein Mann, der aussah wie Aragon aus »Herr der Ringe«, Konrads Lieblingsbuch, eine junge Frau, die mit Pfeil und Bogen bewaffnet war, und ein Wesen mit unbeschreiblichem Aussehen, das nur auf intergalaktischer Mission sein konnte. Wollten die alle in die Schattenwelt und den schwarzen Siegelring finden?
Gerade als Konrad sich überlegte, ob er die anderen Ritter vorsorglich zum Duell auffordern sollte, erschien der zweite Mann und leierte einen Text herunter: »Herzlich willkommen in der Weltenweberei. Mein Name ist Wolfgang, ich leite heute die Werksführung. Bitte ziehen Sie das an und folgen mir.« Er reichte Haarnetze und blaue Schuhüberzieher herum. Sir Konrad kippte beim Versuch, seine Rüstungsfüße in die Überzieher zu quetschen, fast um.

Wolfgang führte die Gruppe in eine riesige Halle, in der Webstühle standen. Frauen und Männer jeden Alters saßen davor. Unter lautem Geklapper entstanden wundervolle Stoffe. Einige wirkten wie bunte Teppiche, andere sahen aus wie Glas, ein anderer wie die flüssige Nacht. Sir Konrad streckte die Hand aus, um ein Tuch zu berühren, das wie eingefroren wirkte, aber Wolfgang dröhnte: »Nicht anfassen! Schon die kleinste Berührung, ein Stuabkorn oder ein Haar können schwere Schäden in den Welten auslösen.«
Wolfgang führte sie in die Mitte der Halle und erklärte: »Hier entstehen neue Welten. Wenn ein Mensch sich etwas ausdenkt, ein Buch schreibt, eine Geschichte erzählt oder träumt, schaffen unsere Weber die Welten in Echtzeit.«
Er ging aus der Halle hinaus und die Gruppe folgte ihm in einen Lagerraum. Hier standen Regale, die bis zur Decke reichten. Darin lagen dicht an dicht die aufgerollten Stoffe.
»Unser Lagerraum. Hier finden Sie jede Welt, die Sie sich vorstellen können. Narnia, die Scheibenwelt oder Ihren Albtraum von letzter Woche. Suchen Sie sich etwas aus.«
Sir Konrad blieb kaum Zeit sich umzusehen, denn Wolfgang war schon wieder unterwegs in die nächste Halle.
»Wegen dieses Raumes sind Sie wahrscheinlich alle hier. Unsere Nähstube. Hier schaffen wir Übergänge zwischen den Welten. Unsere Näherinnen verbinden sie und trennen Nähte wieder auf. Am Ende der Welten machen wir akkurate Säume. Alles tipptopp Qualität.«

Alle Augen der Gruppe waren jetzt auf Wolfgang gerichtet, der die Spannung sichtlich genoss. Die junge Frau mit dem Köcher war die Erste, die fragte: »Spuck es aus. Wie kommen wir in eine andere Welt?«
Wolfgang nickte: »Zunächst müssen unsere Näherinnen die Ausgangswelt und die Zielwelt miteinander vernähen. Dann sticken wir Sie auf. Je nach gewünschter Detailtreue dauert das drei bis vier Werktage. Die Preisliste habe ich hier.« Er reichte einen Stapel Kopien herum.
Sir Konrad blickte auf die verwirrende Tabelle. Preise hingen von verwendeten Stoffen und Fadenstärke ab.
Wolfgang sah ihn an. »Wir bieten natürlich eine individuelle Beratung an und erstellen Ihnen gerne ein maßgeschneidertes Angebot. Bei abgeschlossener Buchung verrechnen wir den Preis für das Erstgespräch.«

Sir Konrad schwirrte der Kopf. Es würde ihn nicht wundern, wenn Wolfgang ihnen gleich einen Stapel Heizdecken verkaufen würde. Andererseits wollte der König unbedingt diesen Siegelring und Sir Konrad wollte den Ruhm. Musste ja niemand erfahren, dass er dazu auf ein Tuch aufgestickt wurde. Zähneknirschend trug er sich für das Beratungsgespräch ein.

Zwei Stunden später saß er wieder in dem unordentlichen Büro. »Ich möchte in die Schattenwelt. So schnell wie möglich.«
Wolfgang nickte eifrig. »In Ordnung, express. Schattenwelt hätten wir da. Ausgesprochen feines Tuch. Lässt sich nur mit Spezialnadeln bearbeiten. Die besten Ergebnisse erzielt man selbstverständlich, wenn per Hand genährt wird. Und Ihre fantastische Rüstung. Die bekommen wir nur mit dem feinsten Garn hin. Wo genau in der Schattenwelt möchten Sie hin?«
Nachdem Sir Konrad alle Einzelheiten aufgezählt hatte, schrieb Wolfgang eine endlose Zahlenreihe auf ein Pergament. Die Summe unten ließ Sir Konrad schwindeln. Dafür würde er seine Burg verpfänden müssen.
»Unterschreiben Sie am besten direkt. Die anderen aus Ihrer Gruppe haben ebenfalls sehr aufwendige Wünsche. Wenn sie vor Ihnen dran sind, verzögert sich die Bearbeitung um einige Tage. Und bald kommen die Feiertage, da kann ich nichts versprechen.«
Das leuchtete Sir Konrad ein. Und Qualität hatte eben ihren Preis. Mit einem Quietschen seiner Rüstung unterschrieb er.

Nachdem er drei Tage in dem Hotel verbracht hatte, das der Fabrik angeschlossen war und drittklassiges Frühstück bot, war es endlich so weit. Die Näherinnen hatten das Schattenwelttuch an seine Welt angefügt und er stand der Kunststickerin gegenüber. Sie stach mit der Nadel in den schwarz-glänzenden Stoff und das Gefühl war äußerst unangenehm. Sir Konrad fühlte, wie er sich aufribbelte. Zunächst an den Füßen und Händen dann überall. Er wurde in das Tuch hineingezogen, die Stiche waren so eng, dass es ihm die Luft abschnürte. Nur zu einem Gedanken war er fähig: Niemand hatte ihm gesagt, wie er wieder zurückkommen sollte. Davon stand nichts in seinem Vertrag. Er geriet in Panik, doch dann sah er ihn: den schwarzen Siegelring. Er lag genau neben ihm, unter ihm, vor ihm. Hier in der Schattenwelt der verwebten Geschichten. Er wollte den Ring greifen, aber er konnte seine gestickte Hand nicht bewegen.

Sir Konrad hatte das Gefühl für Raum und Zeit verloren. Etwas kitzelte ihn. Ein Mädchen fuhr mit der Hand über die Abbildung in ihrem Buch. »Wow. Und der ist doch sooo berühmt geworden.«
 



 
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