Die Ziege des Herrn Seguin

Haselblatt

Mitglied
nach Alphonse Daudet

Herr Seguin war ein einfacher, aber weiser Mann. Er lebte allein und sehr bescheiden auf einem kleinen Bauernhof. Die winzigen Felder, die den Hof umgaben, waren kaum mit Feldfrüchten bestellt, dafür gab es zahllose Gewürzsträucher, die vom Frühsommer an diesen herrlichen Duft verbreiteten, der für den provenzalischen Süden Frankreichs so typisch ist. Hier wuchsen wilder Majoran, Apfelminze, Rosmarin und Thymian, sogar ein Streifen mit lilablauem Lavendel. Und von Mai an blühte der Klee.
Das einzige Lebewesen, das Herrn Seguins Einsamkeit ein wenig zerstreute, war eine kleine Ziege. »Blanchette« rief er sie. Sie war äußerst hübsch anzusehen mit ihrem hell glänzenden, weißen Fell und einem zierlichen Gesicht. Dessen besonderes Merkmal war ein schmaler dunkelgrauer Streifen, der oberhalb der Nase begann, sich zwischen den Augen verbreiterte und knapp hinter der Stirn zwischen zwei kleinen hellgrauen Hörnern langsam verlief.
Herr Seguin achtete sorgsam darauf, dass es seiner Ziege an nichts fehlte. Sie bekam das beste Heu und das reinste Wasser. Sie durfte alle Weiden innerhalb des Zauns abgrasen, und Sonntags, ja, da durfte sie sogar für ein paar Stunden in den Klee! Sie war wohl genährt und sah prächtig aus.
Dennoch beobachtete Herr Seguin, dass seine Ziege öfter und öfter am Zaun ihres Geheges stand und mit sehnsüchtigen Augen ins Leere starrte. Ein Blick, der tiefe Traurigkeit und Unzufriedenheit erahnen ließ. Also setzte sich Herr Seguin eines Nachmittags ins Gras neben seine Ziege und sprach zu ihr:
»Blanchette, was ist mit dir? Ich sehe Schwermut in deinen Augen, und deine Stimme verrät so gar keine Lebensfreude. Behandle ich dich nicht gut genug?«
Die Ziege wandte ihren Kopf zu Herrn Seguin und blickte ihm eine Weile lang tief in die Augen.
»Weißt du«, erwiderte sie, »es hat nichts mit dir zu tun. Du bist gut zu mir und ich weiß deine Obhut und Fürsorge sehr wohl zu schätzen. Es ist nur,« - dabei hob sie ihren Kopf und blickte über den Zaun ins Weite - »es ist nur, dass ich hier bei dir eingesperrt bin und meiner Aufgabe nicht gerecht werden kann.«
»Was ist denn deine Aufgabe?« wollte Herr Seguin wissen, und in seiner Stimme schien ein wenig Erstaunen mit zu schwingen. Die Ziege erwiderte mit leuchtenden Augen:
»Ich muß wissen, wie sich die Freiheit anfühlt. Ich meine die Freiheit da draußen, jenseits des Zauns. Ich muß einfach in Erfahrung bringen, ob ich dieser Freihet gewachsen bin.«
Herr Seguin blickte ernst. »Aber du weißt doch, dass da draußen, jenseits des Zauns der Wolf lebt, der nur darauf lauert, dich zu stellen und zu fressen.«
»Ja, das weiß ich, aber er wird mir nichts tun, der Wolf. Meine Hörner sind zwar klein, aber spitz und hart. Ich werde mich wehren« wandte die Ziege mit großem Selbstbewusstsein ein. Und mit demütiger Unterwürfigkeit bettelte sie: »Bitte, bitte öffne mir den Zaun und lass mich gehen.« - Wohlan, dachte Herr Seguin, und ließ es schweren Herzens geschehen.

Zwei Tage und Nächte waren vergangen, seit Blanchette das sichere Gehege verlassen hatte. Die kleine Ziege hatte ihre neue Freiheit in vollen Zügen genossen und vom Wolf war nicht die geringste Spur zu hören oder sehen gewesen.
Die Gräser und Kräuter schmeckten zwar nicht besser als zu Hause bei Herrn Seguin, und auch die Sonne schien nicht wärmer oder heller. Dennoch fühlte sich die Ziege wie neu geboren und sprang übermütig über die jetzt fast endlosen Weiden.
In dieser mondhellen Nacht aber spürte sie plötzlich, dass sie aus dem Schatten eines Oleanderstrauchs von einem gelb leuchtenden Augenpaar beobachtet wurde. Es gab ihn also doch, den Wolf.
»Ich bin stark und frei,« flüsterte die kleine Ziege zu sich selbst und verharrte in banger Erwartung.
»Du bist sehr mutig, oder sollte ich eher sagen: leichtsinnig?« - Die Stimme des Wolfs klang ruhig und in keiner Weise bedrohlich. Diese Stimme hatte beinahe einen wohlwollenden Unterton, sodass die Ziege Zutrauen fasste.
»Ja,« erwiderte sie, »ich bin mutig und vielleicht auch leichtsinnig. Vor allem aber bin ich neugierig und gespannt auf das, was mir das Leben noch bescheren wird.«
»So so, du bist also neugierig,« knurrte der Wolf. »Was möchtest du denn wissen?«
»Alles. Alles was neu ist und ungesehen, ungehört, ungelebt. Ich will alles über die Freiheit wissen.«
»Freiheit?« Der Wolf lachte und trat jetzt in voller Größe aus dem Gebüsch hervor. Erst jetzt nahm Blanchette seine riesige Gestalt wahr, die bedrohlich im Mondlicht glänzte. Der Wolf betrachtete die Ziege mit glühenden Augen. »Freiheit bedeutet nichts weiter, als dass du nichts zu verlieren hast, außer deinem Leben.«
»Nein, das glaube ich nicht« erwiderte die Ziege. »Freiheit ist ein Gefühl, das nicht an etwas gebunden ist, das man in Händen hält oder verlieren kann.« Sie blickte jetzt dem Wolf trotzig ins Gesicht. Dieser kam einen Schritt näher. »Du hättest besser im Schutz deines Geheges bleiben sollen,« knurrte er und musterte die Ziege von oben bis unten. »Du wirst den Tag, da du die Freiheit gefunden hast, noch bereuen, denn hier draußen bestimme ich die Regeln. Hier gilt meine Freiheit und sie besagt, dass der Stärkere sich nimmt, was der Schwächere nicht verwehren kann.«
Die kleine Ziege bemerkte aus ihren Augenwinkeln, wie der Wolf den Abstand zu Ihrem Hals vermaß und sich zum Sprung bereit machte. Sie dachte kurz an Herrn Seguin, an die Weiden und den Klee. Sie dachte an den Zaun, der all das liebevoll schützend umgeben hatte. Dann senkte sie den Kopf, wandte ihre Hörner in jene Richtung, aus der der Wolf angreifen würde und spürte, wie eine grenzenlose Freiheit sich genau in diesem Augenblick vor ihr auftat.
 



 
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