Dilemma

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MarcL

Mitglied
Noch immer wach, längst in der Waagerechten,
zwischen Mitternacht und Wecksignal.
An der Außenkante des Atems
verjährte Bilder, klammern sich fest:
Frauengesicht um die zwanzig mit kusswundem Kinn,
der verfluchte Bandsalat im Kassettendeck,
Haarbrand im Lieblingsrestaurant, dessen
Gestank jetzt ins Federbett zieht.
Beim Einatmen setzt sich Erinnertes aufs Tableau,
sickert rund und kantig durch alle Poren
der schlafbereiten Gesichtshaut,
tritt auf die Bühne.

Toxisch rebellieren Jahre gegen das Vergessen:
Konzertsäle, Dorfläden, Schlägereien, das Eingraben
eines lebendigen Vogels in der Kindergartenzeit,
Eiffelturm im Regen, Zonen unterm Nabel,
wieder ein Vogel, der, im Scheibenwischer verhakt,
auf der Autobahn rote Warnungen an der Windschutzscheibe hinterlässt.
Halt! Halt!
In den Ohren raunen Stimmen,
dass die Gegenwart dran schuld sei.
Eine Bildertraube jagt die nächste, und
der jeweilige Kerngehalt steckt jedes Mal fest
im halbbewussten Abwägungsprozess eines halbmüden Liegenden, der
zwischendurch das Klicken des Flurlichtschalters
als beruhigende Notiz zur Kenntnis nehmen darf.

Noch sind Nacht und Wachen nicht überstanden.
Denn: jedes Ausatmen birgt das Risiko,
vergessen Geglaubtes beim Einatmen
über die Außenkante des Atems zu sich zu ziehen.
Vielleicht lassen sich aber,
in der Sekundenewigkeit zwischen den Zügen,
die Fenster im Stübchen öffnen, damit sich
der Gestank verbrannter Haare und befallener Haut
verflüchtigen kann: zuerst ins Ungefähre, dann
ins Konturlose, um die ersehnte Schwelle zu erreichen.
Herr, bewahre mich vorm Erstickungstod.
 

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Mitglied
Servus, MarcL,

und willkommen in der Lupe! Was für ein starker Einstieg mit diesem herrlichen Text! Da freu ich mich schon auf mehr.
jedes Ausatmen birgt das Risiko,
vergessen Geglaubtes beim Einatmen
über die Außenkante des Atems zu sich zu ziehen.
Dieser spezielle Zustand kurz vor dem Aufwachen, wo unser Denken anscheinend noch rasch ganz viel "hochholt", das in uns arbeitet (ob wir nun wollen oder nicht), ist hier perfekt eingefangen und konserviert. Das finde ich so genial wie spannend zu lesen. Danke!

LG,
fee
 

Tonmaler

Mitglied
Noch sind Nacht und Wachen nicht überstanden.
Denn: jedes Ausatmen birgt das Risiko,
vergessen Geglaubtes beim Einatmen
über die Außenkante des Atems zu sich zu ziehen.
Vielleicht lassen sich aber,
in der Sekundenewigkeit zwischen den Zügen,
die Fenster im Stübchen öffnen, damit sich
der Gestank verbrannter Haare und befallener Haut
verflüchtigen kann: zuerst ins Ungefähre, dann
ins Konturlose, um die ersehnte Schwelle zu erreichen.
Herr, bewahre mich vorm Erstickungstod.
Der gesamte Text ist, bis kurz vor Ende, sehr eindringlich und stark. All das Auftauchen und Absinken.
Nur am Ende, mit den beiden letzten Sätzen -- verlierst du mich als Leser.
Tatsächlich, ich hätte mir gewünscht, da wäre das Ende vorher.



Denn, was folgt? Da sind 'So lala'-Wörter. Ins Ungefähre verflüchtigen kann sich ein Gestank vielleicht noch, obwohl mir auch das zu ungefähr ist, allerdings: Ein Geruch, der sich ins Konturlose verflüchtigt? Welche Kontur hatte der Gestank vorher? Und die 'ersehnte Schwelle' ist gleichfalls ... mir nichts-sagend. Auch die Anrede, oh Herr, die braucht es nicht (inklusive Erstickungstod), das irritiert mich und schreddert den Klang, den ich bis dahin im Ohr hatte.
Ich mache da Schluss, das ist mein Ende:

Vielleicht lassen sich aber,

in der Sekundenewigkeit zwischen den Zügen,
die Fenster im Stübchen öffnen, damit sich
der Gestank verbrannter Haare und befallener Haut

verflüchtigen kann.

Gruß
T.

p.s.: bin natürlich neugierig, was du zu deinem Ende selbst sagst. Vielleicht verstehe ich das auch nicht richtig.
 

MarcL

Mitglied
Ohne Frage ein interessantes Gedicht…vor allem der lebendig begrabene Vogel in der Kita
Danke für deine Rückmeldung. Der begrabene Vogel in der Kindergartenzeit: das war eine seltsame Situation. Es handelte sich um einen verletzten Vogel, den ich (leider- im Nachhinein) lebendig im Sandkasten begrub. Schon grausam, wenn ich jetzt darüber nachdenke.
 
Zuletzt bearbeitet:

MarcL

Mitglied
Servus, MarcL,

und willkommen in der Lupe! Was für ein starker Einstieg mit diesem herrlichen Text! Da freu ich mich schon auf mehr.

Dieser spezielle Zustand kurz vor dem Aufwachen, wo unser Denken anscheinend noch rasch ganz viel "hochholt", das in uns arbeitet (ob wir nun wollen oder nicht), ist hier perfekt eingefangen und konserviert. Das finde ich so genial wie spannend zu lesen. Danke!

LG,
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Vielen Dank für die nette Begrüßung. Es freut mich, dass dir das Gedicht gefällt. LG, M.
 

MarcL

Mitglied
Der gesamte Text ist, bis kurz vor Ende, sehr eindringlich und stark. All das Auftauchen und Absinken.
Nur am Ende, mit den beiden letzten Sätzen -- verlierst du mich als Leser.
Tatsächlich, ich hätte mir gewünscht, da wäre das Ende vorher.



Denn, was folgt? Da sind 'So lala'-Wörter. Ins Ungefähre verflüchtigen kann sich ein Gestank vielleicht noch, obwohl mir auch das zu ungefähr ist, allerdings: Ein Geruch, der sich ins Konturlose verflüchtigt? Welche Kontur hatte der Gestank vorher? Und die 'ersehnte Schwelle' ist gleichfalls ... mir nichts-sagend. Auch die Anrede, oh Herr, die braucht es nicht (inklusive Erstickungstod), das irritiert mich und schreddert den Klang, den ich bis dahin im Ohr hatte.
Ich mache da Schluss, das ist mein Ende:

Vielleicht lassen sich aber,

in der Sekundenewigkeit zwischen den Zügen,
die Fenster im Stübchen öffnen, damit sich
der Gestank verbrannter Haare und befallener Haut

verflüchtigen kann.

Gruß
T.

p.s.: bin natürlich neugierig, was du zu deinem Ende selbst sagst. Vielleicht verstehe ich das auch nicht richtig.
Hallo! Danke für deine Gedanken/Ausführungen zum Gedicht. Du liegst, was das Ende angeht, richtig: es ist eine Schwachstelle. Das wurde mir beim nochmaligen Lesen bewusst. Gruß zurück, M.
 

Tula

Mitglied
Hallo Marc
Willkommen!
Ich stimme zu, ein sehr guter Text. Bei weiteren würde ich aber darauf achten, längere Passagen oder gar Verschachtelungen so weit wie möglich zu vermeiden bzw. zu reduzieren. Zum Beispiel bei
Eine Bildertraube jagt die nächste, und
.... zur Kenntnis nehmen darf.
LG Tula
 

MarcL

Mitglied
Hallo Marc
Willkommen!
Ich stimme zu, ein sehr guter Text. Bei weiteren würde ich aber darauf achten, längere Passagen oder gar Verschachtelungen so weit wie möglich zu vermeiden bzw. zu reduzieren. Zum Beispiel bei


LG Tula
Hallo Tula,
danke fürs Lesen und den Tipp.

LG, M.
 

revilo

Mitglied
selten so ein starkes debüt gelesen.......du schreibst sicherlich nicht erst seit gestern.....hie und da hat es einige längen, was den ausgezeichneten gesamteindruck allerdings nicht schmälert.........poesie mitten aus dem leben gegriffen............respekt..........lg Oliver


die stelle mit dem vogel ist super.......das hat mich animiert, ein ähnliches erlebnis in einem gedicht zu verarbeiten....es geht um einen schmetterling, der plattgetreten wurde............
 

MarcL

Mitglied
selten so ein starkes debüt gelesen.......du schreibst sicherlich nicht erst seit gestern.....hie und da hat es einige längen, was den ausgezeichneten gesamteindruck allerdings nicht schmälert.........poesie mitten aus dem leben gegriffen............respekt..........lg Oliver


die stelle mit dem vogel ist super.......das hat mich animiert, ein ähnliches erlebnis in einem gedicht zu verarbeiten....es geht um einen schmetterling, der plattgetreten wurde............
Hallo Oliver, danke deinen Kommentar. Bin schon gespannt auf das Gedicht mit dem Schmetterling. LG Marc
 



 
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