Diogenes von Sinope

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Herr H.

Mitglied
Sie nannten ihn den Schandfleck von Athen,
die ehrenwerten Bürger der Gemeinde,
und mieden es, sich auch nur umzudrehn
nach diesem dreisten Störenfried und Feinde
von Norm und Sitte, Ordnung und Moral.
Der Wirrkopf war ein einziger Skandal!

Er hatte keine Wohnung, kein Zuhaus
und schlief des Nachts in einem großen Fasse.
Schon dadurch sorgte er tagein, tagaus
für Unverständnis bei der breiten Masse.
Auch hatte er geflickte Lumpen an
und wusch sich kaum. Nur peinlich, dieser Mann!

Er aß Oliven, Feigen, wildes Kraut
und trank dazu das Wasser aus dem Bache.
Das Fasten war ihm ganz und gar vertraut
und die Ernährung reine Nebensache.
Und irgendwann warf er dann sein Besteck,
den Becher und die Schale auch noch weg.

Verrückt schien auch: Ihm fehlte der Respekt
vor großen Leuten, selbst vor Majestäten.
So, wie er war, so schmutzig und verdreckt,
trieb er mit ihnen Spott, ganz ungebeten,
und das recht bissig. Eben aus dem Grund
hieß er in manchen Kreisen „kynos“ (Hund).

Auch dies kam noch hinzu, dass der Clochard
vor nichts und niemand wirklich sich genierte,
ja, wenn's ihm ein Bedürfnis war, sogar
in aller Öffentlichkeit masturbierte,
so dass, wer wollte, es gleich mitbekam.
Wo blieben denn da Anstand, Zucht und Scham?

Im Winter wälzte er sich nackt im Schnee,
im Sommer in dem glühend heißen Sande.
Nun, wer sich so verhielt, der schien per se
ein Narr zu sein, zum Äußersten imstande.
Und schließlich fragte sich das Publikum:
Wieso läuft der noch immer frei herum?

Doch wer so fragte, hatte nichts kapiert
und sich vom Anschein irritieren lassen.
Der Mann im Fass war keineswegs verwirrt.
Er war nur nicht bereit, sich anzupassen
und lebte gegen den modernen Trend.
Dies aber tat er äußerst konsequent.

Er wollte frei von allen Zwängen sein
und nicht ein Sklave täglicher Begierden.
In Gut und Geld sah er von vornherein
nichts weiter als bedrückend schwere Bürden.
Drum härtete er, je nach Jahreszeit,
den Leib und übte Selbstgenügsamkeit.

Er war kein Spinner und Chaot, der Mann,
kein Sittenstrolch, schon gar kein durchgedrehter.
Er war vielmehr, wenn man so sagen kann,
ein Philosoph und Überzeugungstäter,
ein Wegbereiter und ein Pionier,
ein Streiter gegen blinden Wahn und Gier.

Nur: Wer verstand ihn wirklich auf der Welt?
Vielleicht der legendäre Alexander.
Die beiden standen - so wird es erzählt -
mal eines schönen Tages voreinander.
Und gleich sah es der junge König ein:
Der Abstand konnte gar nicht größer sein.

Er wollte gern dem Streuner eine Gnad'
und Gunst erweisen, um ihn froh zu sehen,
worauf der Philosoph ihn höflich bat,
er möge einfach aus der Sonne gehen.
Und da empfand der Herrscher plötzlich Neid
auf die Person im schlichten Bettlerkleid.

Denn er begriff: Die Macht, die er besaß,
- genug, um sich vor aller Welt zu spreizen -
sein Reichtum, Prunk und Glanz im Übermaß,
das alles konnte diesen Mann nicht reizen.
Der lechzte nicht nach Gold und Beutezug.
Er hatte nämlich an sich selbst genug.

Sein Leitstern war die Anspruchslosigkeit
als steter Lebensinhalt und Vermächtnis.
So blieb er wachen Geistern jener Zeit
und seiner Nachwelt plastisch im Gedächtnis.
Und auch noch uns erinnert er daran,
dass, wer nichts hat, auch nichts verlieren kann.
 

JoteS

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo,

schade, dass hier noch keiner kommentiert hat. Ein wirklich schön entwickelter und handwerklich guter Text. Ich muss leider gestehen, dass ich diesen Text als sehr gute Fingerübung und nicht mehr ansehen muss, denn mir fehlt es so gänzlich an unerwarteten, originellen Perspektiven.

Der Erkenntnisgewinn ist leider rein handwerklicher Natur. Mir fehlt hier das Salz in der Suppe.

Und nein: Das ist kein Verriss - mehr gutes Handwerk täte hier Not, also danke dafür.

Gruß

Jürgen
 

Herr H.

Mitglied
Hallo Jürgen,

danke für deinen Kommi. Mag sein, dass die Verse nichts Verblüffendes, genuin Originelles enthalten. Aber die Gestalt von Diogenes war und ist absolut originell und ihr wollte ich mit dieser Moritat meine Reverenz erweisen.

LG von
Herrn H.
 
Hallo HerrH,

Diogenes, den du hier so anschaulich bedichtet hast, war schon eine faszinierende Gestalt.

Die alten Griechen hatten schon
für ihn in Fasses Schatten Hohn.
Ihm war das Glück der Satten Schein,
er wollte gern im Schatten sein
und hasste all die laute Schicht,
ihm reichte das geschaute Licht.

LG LL Friedhelm
 
G

Gelöschtes Mitglied 4259

Gast
Lieber Herr H.,

der Text ist okay, hat mir jedenfalls sehr gut gefallen. Was Herr JoteS hier ausdrücken will, ist mir schleierhaft; ich verstehe seinen Kommentar nicht. Fehlende Perspektiven - spricht er von eigenen Werken?

P.
 

JoteS

Foren-Redakteur
Teammitglied
Penelopeia,

ach weisst Du, die meisten meiner Texte werden niemals verlegt. Der vorliegende könnte sofort verlegt werden, würde man ihn aber daraufhin verlegen, es würde ihn vermutlich niemand vermissen.
Ich sehe hier einfach seelenlose Perfektion. Perfektion kann man niemandem vorwerfen aber ich denke nicht, dass der Vorwurf der seelenlosigkeit hier völlig unangemessen ist.

Gruß

J.

P.S.: In der Nachschau sind auch die meisten meiner Texte ziemlich seelenlos, ohne jedoch die hier anzutreffende Perfektion zu erreichen. Wenn Du mir also aus meiner Kritik einen Vorwurf machst, so tust Du das durchaus zu Recht. ;)
Vergiss jetzt aber nicht, das hier aufscheinende Potential mit in Betracht zu ziehen. Der Autor des oben stehenden Gedichts kann viel mehr als er uns hier zeigt und nur darauf wollte ich eigentlich hinweisen.
 



 
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