Mistralgitter
Mitglied
Den Marktladen gibt es schon lange nicht mehr in diesem Viertel. Zuvor hatte die Bäckerei mit dem kleinen Stehcafé geschlossen. Sichtschutzwände sind aufgestellt, sie verbergen die Leere. Alles sieht so trostlos aus. Nur ein Metzger, eine Apotheke, eine kleine Poststelle und mein Akustiker sind übrig geblieben. Immerhin der ist noch da. Nur wenige Kunden halten sich im Gebäude auf. Draußen parken einige Autos. Früher konnte man nur schwer einen Parkplatz finden. Ein einsamer Fahrer eines Unternehmens, das für die Post fährt, lädt gerade Pakete in seinen Transporter. Sonst bewegt sich nichts.
Meine Tochter hat mich hierher gebracht. Meine Hörgeräte müssen gereinigt werden. Man reicht mir ein Tablett, darauf lege ich meine Geräte ab. Der Mitarbeiter verschwindet in einen der Räume. Er ist der einzige Mensch in diesem Filial-Geschäft, der hier noch arbeitet. Vor ein paar Monaten waren es mindestens 5 Angestellte. Man konnte sich nicht nur Hörgeräte, sondern auch Brillenmodelle aussuchen, dazu passende Brillengläser bestellen. An den Wänden waren viele Alternativen ausgestellt, aus Holz oder Horn oder randlos, oft exklusives Design, nicht nur aus Plastik oder Metall. Und jetzt? Die Wände sind kahl und leer. „Sehtest – Akustik - Labor“ steht noch, völlig überflüssigerweise, in großen Lettern über den verschiedenen Glas-Türen, dahinter unaufgeräumtes Durcheinander.
Eine weitere Tür öffnet sich. Es ist die Toilette. Ein Papierschild an der Tür warnt „DEFEKT“ – und dennoch: Ein großer, hagerer, ungepflegt aussehender, älterer Mann bleibt eine Weile unschlüssig im Türrahmen stehen. Seine Kappe hat er tief ins Gesicht gezogen. Er stützt sich auf einen Stock, geht damit mühsam zu einem nahe stehenden Stuhl, setzt sich wortlos und wartet. Was macht er hier? Kann er nicht lesen? Hat er trotz des Defekts die Toilette benutzt? Oder sucht er Unterschlupf? Will er einfach nur unter Leuten sein? Er sieht aus, als sei er ein Wohnungsloser. Mich stößt das alles hier ab. Eigentlich will ich nicht hier sein.
Der Hörgeräte - Mitarbeiter kommt kurz darauf mit einem Tablett aus dem „Labor“ heraus. Darauf liegen aber nicht meine Hörgeräte, sondern die des „Wohnungslosen“. Erstaunt stelle ich fest, der hat anscheinend auf seine Hörgeräte gewartet. Erschrocken ertappe ich mich dabei, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass auch „so jemand“ mit Hörgeräten versorgt werden muss. Was bilde ich mir da ein? Lebe ich mittlerweile schon so abgeschottet in meiner eigenen „heilen Welt“?
Inzwischen hatte meine Tochter einen kleinen Aufsteller entdeckt und wortlos darauf hingedeutet. „Ab Februar 2024 wird unsere Filiale durch die Firma XYZ übernommen“, lese ich. Ich erinnere mich an den Namen dieser Firma. Sie ist auf Hörgeräte spezialisiert, also daher erklärt sich das eingeschränkte Angebot in dieser Filiale. Ich bin enttäuscht, wollte ich doch, seitdem ich Hörgeräte tragen muss, ausgerechnet dieser Firma aus dem Wege gehen. Ihr aggressives Werbeverhalten hat mich schon immer gestört. Und jetzt? – bin ich unvermutet und ohne mein Zutun, ohne meine Zustimmung Kunde von XYZ geworden! Wie ich das hasse!
Ich warte also weiter auf meine Hörgeräte. Stattdessen wird der ungepflegte Mann vor mir bedient. Sei’s drum. Er steht mit dem Rücken zu mir an der Bedientheke. Ich sagte ja schon, er geht am Stock. Jetzt sehe ich aber, dass sein linker Arm völlig kraftlos herunterhängt. Zum Bezahlen muss er seine Brille aufsetzen. Ich schaue weg, will nicht wissen oder sehen, wie unbeholfen oder mühsam ihm das Aufsetzen der Brille und das Bezahlen gelingen wird mit einem lahmem Arm und dem Stock. (Ich ahne es – weil es mir ja ähnlich geht wie ihm.)
Unterdessen schaue ich mir den Bildband an, der schon die ganze Zeit unbeachtet vor mir auf dem Tisch im Wartebereich liegt. Und bin wieder überrascht: Es handelt sich um Texte und Bilder eines Künstlers aus unserem Wohnort! In Großformat, auf glänzendem Papier gedruckt. Meine Tochter und ich kennen ihn seit fast 18 Jahren! Er ist ein armer Schlucker, wohnt in einem völlig heruntergekommenen Haus, die Fensterrahmen verrottet, sein Haus umstellt mit verwitterten Baumstümpfen und Holzresten, in die Jahre gekommene, zerfranste Körbe ergänzen die ganz marode Stellage. Eine fremde Katze versteckt sich immer mal wieder in all dem Gerümpel. Ich komme oft an seinem Haus vorbei. Es sieht ungepflegt und verlottert aus. Und jetzt dieser prächtig ausgestattete Bildband? Wie passt das zusammen mit seinem sonst verwahrlost erscheinenden Lebensstil? Wer hat ihn finanziert? Oft lässt der Künstler (er ist Maler, Bildhauer, Schauspieler) sich vom Straßenrand aus von gutwilligen Fahrern mitnehmen. Er hat selber kein Auto, nur ein klappriges Fahrrad. Manchmal bewegt er sich weithin sichtbar, merkwürdig tänzelnd in den Getreidefeldern oder er macht dort irgendwelche Körperübungen. Das wirkt auf mich irgendwie befremdlich, folglich gehe ich ihm aus dem Weg. Ich lese den Text in diesem Bildband und erfahre durch den darin abgedruckten Lebenslauf, was ich bisher nicht wusste: dass sich unsere Lebensstationen mehrmals unbemerkt gekreuzt haben müssen. Schon seltsam.
Meine Tochter und ich sind wieder zuhause. Das Telefon klingelt. U. ruft an, erzählt ausführlichst von ihren so furchtbar schlimmen Krankheiten. Ich kenne U. schon lange, wundere mich aber immer wieder aufs Neue, wie sie nur so leben kann - von einer Notaufnahmesituation zur nächsten, ein Krankenhausaufenthalt nach dem anderen (wie kann man nur so krank sein?), von einem Zerwürfnis mit ihrer Tochter und dem Schwiegersohn zum nächsten. Oder sind es immer wieder dieselben Erlebnisse, die sie mir wiederholt erzählt, als ob sie sich gerade in den letzten Tagen ereignet haben? Ich weiß es einfach nicht.
Während ich noch mit ihr rede, klingelt es plötzlich an der Haustür. Eigentlich erwarte ich keinen Besuch. Über die Haussprechanlage meldet sich E., eine ältere Dame aus der Gemeinde. Ich breche das Telefongespräch mit U. Hals über Kopf ab und bitte E. herein. Sie hat mir eine Banane und eine Apfelsine mitgebracht. „Oder willst du lieber einen Apfel statt der Banane?“ Ich nehme die Banane. So lieb. Sie erkundigt sich, wie es mir geht nach der OP. Es geht mir gut, kann ich sagen. Bis jetzt. Ihr gehe es nicht so gut, sagt sie. „Das Alter macht sich immer mehr bemerkbar.“ Sie tut mir Leid. Dennoch kann sie sich selbst versorgen, einkaufen und zu Fuß zu mir laufen. Der Weg hierher dauert bei ihrem Tempo etwa 20 Minuten. Sie bricht nach kurzer Zeit wieder auf. Langsam und vorsichtig nimmt sie die Treppenstufen, eine Stufe nach der anderen, öffnet mühsam die Haustür. Ich habe Angst um sie, dass sie stolpern und fallen könnte. Aber alles geht gut.
Ich rufe wieder U. an und lasse mir ihre Leiden erzählen, höre geduldig zu. Was sollte ich denn auch sonst tun? Im Moment habe ich viel Zeit.
Meine Tochter hat mich hierher gebracht. Meine Hörgeräte müssen gereinigt werden. Man reicht mir ein Tablett, darauf lege ich meine Geräte ab. Der Mitarbeiter verschwindet in einen der Räume. Er ist der einzige Mensch in diesem Filial-Geschäft, der hier noch arbeitet. Vor ein paar Monaten waren es mindestens 5 Angestellte. Man konnte sich nicht nur Hörgeräte, sondern auch Brillenmodelle aussuchen, dazu passende Brillengläser bestellen. An den Wänden waren viele Alternativen ausgestellt, aus Holz oder Horn oder randlos, oft exklusives Design, nicht nur aus Plastik oder Metall. Und jetzt? Die Wände sind kahl und leer. „Sehtest – Akustik - Labor“ steht noch, völlig überflüssigerweise, in großen Lettern über den verschiedenen Glas-Türen, dahinter unaufgeräumtes Durcheinander.
Eine weitere Tür öffnet sich. Es ist die Toilette. Ein Papierschild an der Tür warnt „DEFEKT“ – und dennoch: Ein großer, hagerer, ungepflegt aussehender, älterer Mann bleibt eine Weile unschlüssig im Türrahmen stehen. Seine Kappe hat er tief ins Gesicht gezogen. Er stützt sich auf einen Stock, geht damit mühsam zu einem nahe stehenden Stuhl, setzt sich wortlos und wartet. Was macht er hier? Kann er nicht lesen? Hat er trotz des Defekts die Toilette benutzt? Oder sucht er Unterschlupf? Will er einfach nur unter Leuten sein? Er sieht aus, als sei er ein Wohnungsloser. Mich stößt das alles hier ab. Eigentlich will ich nicht hier sein.
Der Hörgeräte - Mitarbeiter kommt kurz darauf mit einem Tablett aus dem „Labor“ heraus. Darauf liegen aber nicht meine Hörgeräte, sondern die des „Wohnungslosen“. Erstaunt stelle ich fest, der hat anscheinend auf seine Hörgeräte gewartet. Erschrocken ertappe ich mich dabei, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass auch „so jemand“ mit Hörgeräten versorgt werden muss. Was bilde ich mir da ein? Lebe ich mittlerweile schon so abgeschottet in meiner eigenen „heilen Welt“?
Inzwischen hatte meine Tochter einen kleinen Aufsteller entdeckt und wortlos darauf hingedeutet. „Ab Februar 2024 wird unsere Filiale durch die Firma XYZ übernommen“, lese ich. Ich erinnere mich an den Namen dieser Firma. Sie ist auf Hörgeräte spezialisiert, also daher erklärt sich das eingeschränkte Angebot in dieser Filiale. Ich bin enttäuscht, wollte ich doch, seitdem ich Hörgeräte tragen muss, ausgerechnet dieser Firma aus dem Wege gehen. Ihr aggressives Werbeverhalten hat mich schon immer gestört. Und jetzt? – bin ich unvermutet und ohne mein Zutun, ohne meine Zustimmung Kunde von XYZ geworden! Wie ich das hasse!
Ich warte also weiter auf meine Hörgeräte. Stattdessen wird der ungepflegte Mann vor mir bedient. Sei’s drum. Er steht mit dem Rücken zu mir an der Bedientheke. Ich sagte ja schon, er geht am Stock. Jetzt sehe ich aber, dass sein linker Arm völlig kraftlos herunterhängt. Zum Bezahlen muss er seine Brille aufsetzen. Ich schaue weg, will nicht wissen oder sehen, wie unbeholfen oder mühsam ihm das Aufsetzen der Brille und das Bezahlen gelingen wird mit einem lahmem Arm und dem Stock. (Ich ahne es – weil es mir ja ähnlich geht wie ihm.)
Unterdessen schaue ich mir den Bildband an, der schon die ganze Zeit unbeachtet vor mir auf dem Tisch im Wartebereich liegt. Und bin wieder überrascht: Es handelt sich um Texte und Bilder eines Künstlers aus unserem Wohnort! In Großformat, auf glänzendem Papier gedruckt. Meine Tochter und ich kennen ihn seit fast 18 Jahren! Er ist ein armer Schlucker, wohnt in einem völlig heruntergekommenen Haus, die Fensterrahmen verrottet, sein Haus umstellt mit verwitterten Baumstümpfen und Holzresten, in die Jahre gekommene, zerfranste Körbe ergänzen die ganz marode Stellage. Eine fremde Katze versteckt sich immer mal wieder in all dem Gerümpel. Ich komme oft an seinem Haus vorbei. Es sieht ungepflegt und verlottert aus. Und jetzt dieser prächtig ausgestattete Bildband? Wie passt das zusammen mit seinem sonst verwahrlost erscheinenden Lebensstil? Wer hat ihn finanziert? Oft lässt der Künstler (er ist Maler, Bildhauer, Schauspieler) sich vom Straßenrand aus von gutwilligen Fahrern mitnehmen. Er hat selber kein Auto, nur ein klappriges Fahrrad. Manchmal bewegt er sich weithin sichtbar, merkwürdig tänzelnd in den Getreidefeldern oder er macht dort irgendwelche Körperübungen. Das wirkt auf mich irgendwie befremdlich, folglich gehe ich ihm aus dem Weg. Ich lese den Text in diesem Bildband und erfahre durch den darin abgedruckten Lebenslauf, was ich bisher nicht wusste: dass sich unsere Lebensstationen mehrmals unbemerkt gekreuzt haben müssen. Schon seltsam.
Meine Tochter und ich sind wieder zuhause. Das Telefon klingelt. U. ruft an, erzählt ausführlichst von ihren so furchtbar schlimmen Krankheiten. Ich kenne U. schon lange, wundere mich aber immer wieder aufs Neue, wie sie nur so leben kann - von einer Notaufnahmesituation zur nächsten, ein Krankenhausaufenthalt nach dem anderen (wie kann man nur so krank sein?), von einem Zerwürfnis mit ihrer Tochter und dem Schwiegersohn zum nächsten. Oder sind es immer wieder dieselben Erlebnisse, die sie mir wiederholt erzählt, als ob sie sich gerade in den letzten Tagen ereignet haben? Ich weiß es einfach nicht.
Während ich noch mit ihr rede, klingelt es plötzlich an der Haustür. Eigentlich erwarte ich keinen Besuch. Über die Haussprechanlage meldet sich E., eine ältere Dame aus der Gemeinde. Ich breche das Telefongespräch mit U. Hals über Kopf ab und bitte E. herein. Sie hat mir eine Banane und eine Apfelsine mitgebracht. „Oder willst du lieber einen Apfel statt der Banane?“ Ich nehme die Banane. So lieb. Sie erkundigt sich, wie es mir geht nach der OP. Es geht mir gut, kann ich sagen. Bis jetzt. Ihr gehe es nicht so gut, sagt sie. „Das Alter macht sich immer mehr bemerkbar.“ Sie tut mir Leid. Dennoch kann sie sich selbst versorgen, einkaufen und zu Fuß zu mir laufen. Der Weg hierher dauert bei ihrem Tempo etwa 20 Minuten. Sie bricht nach kurzer Zeit wieder auf. Langsam und vorsichtig nimmt sie die Treppenstufen, eine Stufe nach der anderen, öffnet mühsam die Haustür. Ich habe Angst um sie, dass sie stolpern und fallen könnte. Aber alles geht gut.
Ich rufe wieder U. an und lasse mir ihre Leiden erzählen, höre geduldig zu. Was sollte ich denn auch sonst tun? Im Moment habe ich viel Zeit.