Ein Mädchen ist niemand

Haselblatt

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Hinweis: Für das Verständnis der nachfolgenden Erzählung ist eine in die Tiefe gehende Kenntnis der HBO-Serie „Game of Thrones“ eine unbedingte Voraussetzung!

Sie sitzt auf der Couch, eigentlich halb liegend, eine Dose gesalzener Erdnüsse und ein Glas teuren Rotweins neben sich, und verfolgt gebannt das brutale Splatter-Epos auf dem Bildschirm ihres Fernsehers. Ein Dothraki-Krieger stürmt auf einem dunkelbraunen Kampfross daher, seinen Krummsäbel schwingend, begleitet vom Geschrei und Kampflärm eines blutrünstigen Gemetzels. Ringsum blitzen die Schwerter, der Raum ist geflutet von atonal klirrendem Getöse, wenn Stahl auf Stahl trifft. Der dothrakische Krummsäbel erreicht endlich sein Ziel, den Hals eines Fußsoldaten der feindlichen Kräfte. Der Kopf trennt sich vom restlichen Körper, fliegt in hohem Bogen davon, während ein dicker Strahl dunklen Blutes quasi direkt in die Augen der Zuseherin spritzt.
Sie schließt kurz die Augen. Normalerweise hat sie kein Problem mit Gewaltszenen, jedenfalls nicht, solange das Geschehen nicht real ist und sie nicht persönlich betrifft. Manchmal aber wird es auch ihr zu viel, wenn sie als Zuseherin unmittelbare Augenzeugin einer grausigen Bluttat wird.

Ihre Lieblingsfigur in dieser Serie ist ein Mädchen namens Arya Stark. Sie selbst wäre gern so wie diese Arya: selbstbewusst, kämpferisch, wahrhaftig und mit ehrlichem Charakter, aber auch böse, brutal und skrupellos. Außerdem ist Arya hübsch, wenn auch nicht von der gleißenden Schönheit der Daenerys Targaryen, der mit Zauberkräften begabten Thronerbin und Tochter des wahnsinnigen Königs Aerys II.
Auch die Rolle der Cersei Lannister ist ihr sympatisch. Besonders deshalb, weil Cersei etwas diabolisches verkörpert, eine mächtige, von dunklen Trieben gesteuerte Frau. Und erst ihr Körper! Eine wundervolle Komposition aus feingeformten Gliedmaßen, einem Gesäß mit der Zartheit einer japanischen Marille und wohlgeformten, nicht zu großen Brüsten. Dazu ein Gesicht mit glatten, aber harten Zügen, Mund und Lippen stets zu einem zynischen Lächeln gebogen. All das zusammen würde jedem Mann sofort die Contenance rauben.
Ja, sie wäre gern eine Frau, die den Männern den Kopf verdreht. Das Leben, das echte, das wirkliche Leben, hatte aber anderes mit ihr vor. Sie hat geheiratet, ja, das hat sie. Sie hat ihn gefunden, den einen und einzigen, und damals war er der Mann ihrer Träume. Jetzt aber, während sie sich dem „Lied von Eis und Feuer“ hingibt, sitzt er an der Bar seiner Stammkneipe und besäuft sich ganz sicher wieder mit seinen Kumpanen. Da ist keiner dabei mit den edlen Zügen eines Jon Snow, oder eines Jaime Lannister, zum Glück auch kein sadistischer Psychopat vom Schlag eines Ramsey Bolton. Dennoch - mit keinem von ihres Mannes Saufkumpanen würde sie jemals ins Bett steigen.
Anders als sie, die sie jetzt vor der Glotze liegt, beherrscht Arya Stark ihr Leben. Arya ist eine messerscharfe Beobachterin, sie begreift blitzschnell, sie lernt in kürzester Zeit alles, was zum Überleben in einer finsteren Welt von Intrigen und Krieg notwendig ist. Sie lernt sich zu verstellen, sich zu tarnen, zu kämpfen und zu töten. Arya wurde nichts in die Wiege gelegt als die Abstammung von einem ehrbaren Haus. Sie ist stolz eine Stark zu sein, stolz auf ihre Familie und ihren Vater, dem auf Betreiben von Cersei Lannister der Kopf abgeschlagen wurde. Arya musste zusehen bei der Ermordung ihres Vaters. Bei aller Schönheit, aber das macht sie unsympatisch, Cersei.

Ihr Mann mag die Serie überhaupt nicht, obwohl so manche Szene durchaus männliches Wohlwollen hervor rufen müsste, etwa wenn die militärischen Würdenträger und Kämpfer aus Westeros sich ganz unverblümt mit splitternackten Huren in den Edelbordellen von Kings Landing lustvollen Sexspielen hingeben. Derartige Gang-bang-Sessions erwartet man eher auf Youporn, aber selten im Fernsehen, sehr selten.
Sie hat damit aber kein Problem. Gelegentlich, in den frühen Jahren ihrer Ehe, guckte sie sogar gemeinsam mit ihrem Mann Internet-Pornos. Manches war für beide lehrreich und bereicherte durchaus ihr Sexleben.
Davon abgesehen fällt ihr eine interessante, vielleicht sogar bedenkliche psychologische Reaktion auf: Als Zuseherin genießt sie es innerlich, wenn den dämonischen Bösewichten Gerechtigkeit zu Teil wird. Nein, nicht Gerechtigkeit, sondern Rache. Blutig und grausam:
Am Ende der gerade laufenden Folge wird einer der ganz schlimmen Finger, der abgrundtief böse Ramsey Bolton, von Jon Snow beinahe zu Tode geprügelt. Mit gebrochenen Gliedern und blutüberströmtem Gesicht wird er in ein finsteres Verlies gesperrt und anschließend von seinen eigenen Hunden zerfleischt, vor den Augen von Aryas Schwester, die von Ramsey vergewaltigt worden war. Rache ist süß, obwohl das keinesfalls zeitgemäß ist. Und politisch korrekt schon gar nicht!
Ein Mädchen wundert sich, wie diese Erkenntnis auf sie wirkt. Blut und Feuer - eine schreckhafte Vision, wenn diese Zutaten eine innere Befriedigung auslösen. Ein Mädchen muß noch vieles lernen.

Schließlich läuft der Abspann der vorletzten Folge der fünften Staffel. Acht sind es insgesamt, sie hat daher noch ausreichend Pulver für ihre Unterhaltung. Im Hintergrund vernimmt sie das Geräusch der sich öffnenden und danach krachend zufallenden Wohnungstür. Dann ein schlurfendes Gestolper durch die Diele, begleitet von einem rauhstimmigen „Hallo“. Er ist wieder zu Hause.
„Ich hau mich gleich aufs Ohr“ - mehr nicht als Begrüßung.
Zumindest wird er nicht gewalttätig, wenn er betrunken ist. Noch niemals in den zurück liegende Ehejahren hat er die Hand gegen seine Frau erhoben. Obwohl das eigentlich selbstverständlich sein sollte, muß sie ihm das hoch anrechnen. Er ist zwar nicht wie der edle Jon Snow, auch nicht von der intellektuellen Brillianz eines Tyrion Lannister, aber jedenfalls kein gewissenloses Arschloch wie Ramsey Bolton oder Euron Greyjoy, der brutale und herzlose Pirat. Er stolpert die Stiege hoch ins Obergeschoß und lässt sich ins Bett fallen.
Sie trinkt den letzten noch verbliebenen Schluck ihres Weins und geht dann auch nach oben. Hoffentlich übergibt er sich nicht wieder neben dem Bett. Der Teppich kam erst Ende der Woche aus der Reinigung.

Da liegt er nun, der Mann, dem sie vor neun Jahren das Ja-Wort gegeben hatte, mit dem Versprechen, einig und für einander da zu sein, in guten, wie in schlechten Tagen. Die schlechten Tage überwiegen seit längerem schon. Eigentlich ist es schade. Ein Mann, verkommen zu einem nach Alkoholdunst und Schweiß stinkenden Fleischklumpen. Halb bekleidet, mit dem Bauch nach unten und das Gesicht in das Kopfkissen gedrückt, grunzend, schnarchend.
Wäre sie jetzt Arya Stark, denkt sie, dann würde sie in die Küche gehen und das Messer mit der langen Klinge holen. Sie würde einen Augenblick lang zögern, bevor sie seinen Haarschopf packen, den Kopf nach oben reißen und mit einem schnellen Schnitt seine Kehle durchtrennen würde. Sie stellt sich vor, wie danach das Blut in einer Fontäne wie aus einem Springbrunnen um sich spritzt, die Bettlaken, die Wand und den Teppich auf dem Fußboden besudelnd.

Wer bin ich? fragt sie sich. - Ich bin nicht Arya Stark. Ich bin - ein Mädchen?
Ein Mädchen ist einsam.
Ein Mädchen ist traurig.
Ein Mädchen ist noch nicht bereit.
Ein Mädchen ist niemand.
 
Zuletzt bearbeitet:

Blue Sky

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Ein Mann liegt im Bett.
Ein Mann ist besoffen.
Ein Mann ist noch viel weniger.

Valar Morghulis !

Wäre sie doch nur Arya sie hätte ihm schon beim ersten Abdriften in die Kneipe in den Arsch getreten.
Wenn sie ihn überhaupt geheiratet hätte.

Sei gegrüßt von mir!
BS
 

Haselblatt

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Valar Doehaeris,

am Anfang ist alles Wonne & Sonnenschein, aber so mancher verändert sich zu seinem Nachteil.
Ein Mann weiß was zu tun ist, denn jeder verdient eine zweite Chance...
 

Blue Sky

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Jon Schnee glaubte nur, wusste aber gar nichts.
Ein Mädchen verzeiht.
Ein Mann bittet darum.
Ein Mann ändert sich?
Weiß er es ...
 

Outymier

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naja, dem George R. R. seine Dany ihre Zauberkräfte: die Geburt der Drachen ist beschrieben in den Büchern als magischer Moment, das Zusammentreffen des Blutzaubers der Maegie, dem Tod des Menschen, den sie am meisten liebte und umgebracht hat, das zur Zeit eines blutenden Sternes. Auch ist sie hier nicht feuerresistent wie in der Serie, sondern geht als das Feuer schon fast erloschen ist hinein und alle ihre Haare sind verbrannt. Die Magie, die jetzt in ihr Leben eintritt, beschreibt wunderschön der letzte Satz des Kapitels: "Die Drachen sind wieder in der Welt". Im Haus der Unsterblichen ist es deswegen auch Drogon, der dem Spuk der Hexenmeister ein Ende setzt, ohne seine Hilfe wär sie da nicht mehr herausgekommen.
 



 
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