Ein unidentifiziertes Flugobjekt über dem Dschungel - Teil 2

Haselblatt

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Hinweis: Das ist die Fortsetzung zum Teil 1 des gleichen Titels

Egbert Boranowski, der Juwelenhändler aus Wien, streckte sich müde und erschöpft auf seiner Hängematte aus, die quer über den Vorraum seiner mit Wellblech gedeckten Schlafstelle gespannt war. Die Hütte stand einhundert Meter abseits vom Zentrum des Camps der Minas Corubanas Limitada und war speziellen Gästen des Bergwerksdirektors vorbehalten. Die Mine gehörte Baltimore Mining in Atlanta, wurde aber von einer staatlichen peruanischen Betreibergesellschaft geführt und verwaltet. Diese so genannten Joint Ventures waren damals speziell in Mittel- und Südamerika sehr beliebt und verbreitet, weil diese Art der Ausbeutung von Grund und Bodenschätzen für die Eigentümer das Risiko von Sabotage und terroristischen Übergriffen deutlich verringerte. Die Feinde der Yankees waren allgegenwärtig und wurden von den lokalen Behörden nur sehr unzureichend im Zaum gehalten, deshalb war es für US-Amerikaner und Europäer eher ein Vorteil, sich bedeckt und im Hintergrund zu halten.
Der Direktor, Emilio Carlos Rantin, zählte eigentlich zu Egberts Freunden, obwohl sie natürlich Geschäftspartner auf der jeweils gegenüberliegenden Seite der Theke waren. Aber Egbert kannte Emilio seit mehr als fünfzehn Jahren als vertrauenswürdigen, ehrenwerten Geschäftsmann und beide wussten sehr viel von einander. Egbert hatte bei jedem Besuch in der Mine, die durch die Produktion der weltbesten Smaragde einen hervorragenden Ruf in der Branche hatte, immer einen kleinen Container mit Geschenken für die jeweiligen Partner und leitenden Angestellten der Mine dabei. Die meisten beglückte Egbert mit für sie exklusiven Gütern des gehobenen Bedarfs, für die man auch mitten im peruanischen Dschungel Verwendung hatte. Begehrt waren amerikanische Zigaretten sowie europäische Kosmetika und Parfums, die auch von den leichten Mädchen, die gelegentlich in den Camps gastierten, in Zahlung genommen wurden. Sehr geschätzt war auch Edwins Pflaumen-Brand, ein steirischer Edelschnaps, den Egbert immer in ausreichender Menge für die trockenen Kehlen dabei hatte und mit dessen Hilfe so manche Verhandlung zu einem für alle Seiten befriedigenden Abschluss gebracht wurde. Emilio Carlos Rantin freute sich besonders über original britische Orangenmarmelade und hatte – was für diese Ecke der Welt und speziell in diesem sehr rauen Ambiente wirklich ganz außergewöhnlich war – eine Vorliebe für die Wiener Klassik. Er sammelte insbesondere historische Aufnahmen von Mozart-Klavierkonzerten und hatte alles, was diesbezüglich von Egbert in diversen europäischen Plattenläden aufgetrieben werden konnte, in seiner privaten Diskothek gelagert. So kam es gar nicht selten vor, dass am früheren Abend oder an Sonntagen aus seiner Ecke des Camps - er hatte als Einziger ein gemauertes Haus, dessen Fenster aber meist nur mit einem Moskitonetz verschlossen waren - Mozarts liebliche Klänge, interpretiert von berühmten Orchestern und Solisten, in den Dschungel hinaus ertönten. Daneben liebte er aber auch Latin-Jazz und ganz besonders den brasilianischen Bossa Nova.

An diesem Nachmittag, es war ungefähr drei Stunden vor Sonnenuntergang, war Emilio aber nicht mehr zugegen. Dienstliche Verpflichtungen hatten ihn nach Ciudad de la Plata gerufen, ebenfalls eine Bergwerksstadt, an die dreihundert Kilometer südöstlich vom Camp der Minas Corubanas, direkt am Ufer des Rio Ucayali gelegen. Der Hubschrauber hatte gerade vor einer halben Stunde abgehoben und ihn gemeinsam mit dem Leiter des chemischen Labors und zweier Sprengmeister in die Silberstadt entführt. Die vier Männer wurden erst am Nachmittag des folgenden Tages zurück erwartet.
Egbert hatte auch diesmal wieder seine Verhandlungen sehr erfolgreich geführt und einen für das Konsortium höchst lukrativen Kaufvertrag abgeschlossen und würde morgen Vormittag das Camp mit reicher Beute in Richtung Caracas verlassen. Die Flugverbindungen nach Europa waren von der venezolanischen Hauptstadt aus wesentlich dichter und günstiger als von Lima, außerdem war Lima gerade damals ein extrem heißes Pflaster und wurde praktisch von allen international reisenden Geschäftsleuten gemieden. Egbert hatte einen kleinen Helikopter gechartert und wollte gegen Abend in Caracas eintreffen, von wo aus ihn spät in der Nacht eine Linienmaschine nach Madrid und von dort weiter nach Wien bringen würde. Er war nun bereits seit fünf Wochen von zu Hause weg und verspürte eine wirklich tiefe Sehnsucht nach Sandras Zärtlichkeit und der gewohnt luxuriösen Umgebung seines Hauses in Wien.

Am sehr frühen Morgen – es war erst halb sechs – wurde Egbert von einem Angestellten der Mine geweckt.
»Senior Boranovski, wir haben soeben ein Telex vom Helikoptercharter in Las Lagunas erhalten. Sie schreiben, dass der für Sie vorgesehene Pilot gestern Abend einen Autounfall hatte und nicht fliegen kann. Sie schicken stattdessen eine andere Maschine, die etwas älter, aber dafür größer ist und von einem Partnerbüro in Chimbote gestellt wird. Der Pilot heißt Douglas Brennigan und wird um eine Stunden später hier sein, das heißt um halb neun Uhr.«
Egbert streckte Arme und Beine durch und gähnte. Halb neun? Auch gut. Seine Container waren gepackt und die zeitliche Reserve für den Flug nach Caracas war immer noch ausreichend.
Der Helikopter landete nicht ganz pünktlich, eine Viertelstunde vor neun. Der Pilot meldete sich sofort bei Egbert.
»Hey, my name is Doug. Are you Mr. Boranovski?« Ein echter Yankee.
»Wie kommt es, dass Sie für Las Lagunas fliegen?«, interessierte sich Egbert. Die beiden sprachen natürlich Englisch.
»Das ist eine lange Geschichte. Ich lebe seit zehn Jahren in Caracas und bin mit einer Venezolanerin verheiratet. Hier ist das Klima wesentlich angenehmer als in Chicago. Ich mag Schnee und Kälte überhaupt nicht, wissen Sie?«
»Oh ja, das kann ich gut verstehen. Ich komme auch aus einem nördlichen Land.«
»Sie sind Kanadier?«
Egbert war immer über die geografischen Tippgewohnheiten der Amis amüsiert.
»Nein, ich bin Europäer.«
»Ach so, Europa. Meine Vorfahren kamen aus Schottland. Kennen Sie dort jemanden?«
Guter Mann, Schottland ist zwar möglicherweise nicht so groß wie Chicago. Aber es gibt dort genug Menschen, um sie nicht alle gleich zu kennen oder mit ihnen verwandt zu sein.
»Nein, ich kenne da niemanden. Wissen Sie, Doug, mein Land liegt von Schottland ungefähr neunhundert Meilen entfernt, Heading 1-4-0.«
»Aha, aber sie kennen sich mit der Pilotensprache aus, nicht wahr?« Douglas lachte. »Das ist gut, ich kann sowieso einen Kopiloten gebrauchen. In diesem Teil von Peru war ich vorher noch nie in der Luft. Aber ich hab zumindest schon mal hergefunden.« Beide lachten.
Ein Bediensteter der Mine kam mit einer Handkarre, verlud Egberts Container und sein persönliches Gepäck und brachte alles zum Helikopter.
»Also dieser Heli ist schon ein etwas älterer Herr«, sagte Egbert zum Piloten, als er die Maschine aus der Nähe betrachtete.
»Korrekt«, erwiderte Douglas. »Eigentlich eine ältere Dame, wissen Sie. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Die Charly einszwanzig ist eine gutmütige alte Mühle und diese hier ist wirklich erstklassig gewartet. Mir ist nur beim Hinflug aufgefallen, dass der Squak-Transponder defekt ist. Aber das spielt nicht wirklich eine Rolle, weil wir sowieso nach Sichtflugregeln unterwegs sein werden.«
Da Egbert seit vielen Jahren mit Hubschraubern und sonstigen Flugzeugen vertraut war, wusste er, dass man unter Squak ein elektronisches Identifikationssystem für Luftfahrzeuge versteht, das – und da hatte Douglas durchaus Recht – hauptsächlich auf instrumentengeführten Flugflächen zum Einsatz kommt, damit die zahllosen, im Luftraum verkehrenden Maschinen vom Groundcontroller auf dem Radarschirm eindeutig erkannt und nicht verwechselt werden konnten. Aus diesem Grund maß er dem Defekt dieses Geräts ebenfalls keine allzu große Bedeutung bei. Solang die Sichtverhältnisse gut waren – und in diesem Winkel der Erde herrschten nahezu immer perfekte Sichtflugbedingungen – flogen Helikopter meist ohnehin so tief, dass der Squak außer Funktion blieb.

Die Luft war an diesem Morgen extrem schwül und trotz der frühen Stunde war das Thermometer bereits auf über dreißig Grad geklettert. Im Bauch des Fliegers – er erinnerte Egbert eher an einen Truppentransporter – war die Luft noch stickiger und schwüler als draußen.
»Wenn es Sie nicht stört«, sagte Douglas, »lass ich die linke Luke offen. Wir fliegen ohnehin so tief, dass wir keinen Druckausgleich benötigen. Sie werden sehen, sobald wir oben sind, wird es dann sofort deutlich angenehmer und frischer.«
Egbert war einverstanden. Die stickige Luft setzte ihm sehr zu. Immerhin war er vor knapp drei Monaten neunundfünfzig Jahre alt geworden und sein Kreislauf hatte sich mittlerweile angewöhnt, auf extremes Klima eher unfein zu reagieren.
Langsam setzten sich die Rotorblätter des Ruderpropellers in Bewegung, dann folgten jene des Hauptantriebs. Der Staub auf dem Boden wurde auf zwanzig bis dreißig Meter im Umkreis des Landeplatzes aufgewirbelt, dann hob die Maschine sachte ab und nahm Kurs in Richtung Nord-nordost.
Innerhalb der Maschine war die Sprechverständigung nur über Kopfhörer möglich und naturgemäß ziemlich schlecht, deshalb hatten Egbert und Douglas seit dem Start kaum Worte gewechselt.
»Wann, schätzen Sie, werden wir in Caracas sein?«, fragte Egbert ins Mikrofon.
»Nach meinem Flugplan, und wenn das Wetter hält, um sieben Uhr abends. Bei günstigem Wind unter Umständen auch ein wenig früher. Wir haben knapp neunhundert Meilen vor uns.«
Die Cherokee war tatsächlich ein gutmütiger Vogel. Egbert spürte kaum Vibrationen, was sonst bei leichten Hubschraubern eher der Regelfall ist. Die Maschine ließ sich auch von seitlichen Windböen kaum aus der Ruhe bringen. Die offene Seitenluke hatte sich ebenfalls bestens bewährt, denn auf dem Instrumentenpanel konnte er die Innentemperatur mit dreiundzwanzig Grad ablesen und das war wirklich sehr moderat. Sie waren genau seit einer Stunde in der Luft.
»Ladies and Gentlemen, hier spricht Ihr Captain!«, scherzte Douglas. »Wir befinden uns hier fünfzig Meilen südlich der kolumbianischen Grenze in einer Höhe von viertausend Fuß. Direkt unter uns sehen Sie den Rio Amazonas, das Wetter ist phantastisch, und ich freu mich schon auf die Beckenmassage, die mir meine kleine Puppe heute Abend noch verpassen wird.« Douglas Brennigan lachte vergnügt ins Mikro.
Er blickte zufällig durch das obere Cockpit-Fenster und sah, wie ein Jet in angemessenem Abstand, knapp siebzig Meter über ihm, einen Looping drehte.
»Schauen Sie«, sagte er zu Egbert ins Mikro. »Wir bekommen Besuch von den Nasenbohrern.«
»Was für Nasenbohrer?«
»Ach, wissen Sie, so nennen wir die Jets von der peruanischen Luftwaffe. Die Peruaner sind allesamt wirkliche Nasenbohrer. Aber hier im Grenzgebiet zu Kolumbien und Brasilien spielen sie sich besonders auf, wegen der Drogenschmuggler und so.«
Egbert hätte den Jet ohne den Hinweis des Piloten wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Tatsächlich sah er ihn jetzt auch. Er flog einige Sekunden lang knapp oberhalb von ihrem Hubschrauber und drehte dann nach links ab.
»Glauben Sie, dass die einen Aufklärer auf uns angesetzt haben?«, wollte Egbert wissen.
»Nein, das ist eine F-16, ein richtiger Jäger. Aber keine Angst. Wir sind Yankees, uns tun die Nasenbohrer nichts. Wahrscheinlich fliegen wir zu hoch. Im Grenzgebiet zu Kolumbien ist die Sichtflughöhe meines Wissens mit dreitausendfünfhundert Fuß begrenzt, darüber müsste man sich bei der peruanischen airtraffic control anmelden. Ich werde uns ein paarhundert Fuß tiefer legen.«
»Wieso, ich dachte, unser Flug ist ganz offiziell angemeldet?«, fragte Egbert besorgt nach.
»Ja sicher, ist er auch. Aber Sichtflieger nehmen die nicht sonderlich ernst. Erst wenn eine Maschine überfällig ist, werden die Flugpläne von denen genauer studiert. Deshalb sag ich ja: alles Nasenbohrer.«
Egbert spürte, wie der Helikopter nach rechts wegkippte und in Sinkflug überging.
»Wenn möglich, sinken Sie nicht zu schnell. Ich bekomme sonst Schmerzen in meinen Ohren.«
»Okay, kein Problem, dann lass ich mir ein wenig Zeit.«
Während Douglas den Helikopter nunmehr in sehr moderatem Sinkflug behielt, kramte er in der unter dem Instrumentenbrett befindlichen Konsole und schlug ein Buch auf.
»Vorsichtshalber werde ich mich beim lokalen Controller melden, man weiß ja nie. Ich muss nur erst nachsehen, auf welcher Frequenz die hier zu erreichen sind.«
Er blätterte einige Male vor und zurück, suchte dann in einer Tabelle und schien das Gesuchte gefunden zu haben.
»Da ist er schon. Iquitos Control, hundertvierunddreißig-acht.«
Der Pilot drehte an den Knöpfen des Funkgeräts, um die Frequenz der gesuchten Bodenstation einzustellen und versuchte den Funkkontakt aufzunehmen:
»Iquitos Control – Cherokee Charly one-two-ou, November five-one-eight-eight Mike.«
Sekunden später meldete sich die peruanische Kontrollstelle:
»Cherokee eight-eight Mike, Iquitos Control, go ahead.«
In diesem Moment hörte Egbert unter sich ein kurzes Zischen und glaubte zu spüren, wie er von einer riesigen unsichtbaren Faust aus dem Sitz gerissen und in den hinteren Teil des Hubschraubers gedrückt wurde. Eine gewaltige Welle von Druck und Hitze packte ihn, er war völlig benommen und fühlte sich schwerelos. Zu seiner Überraschung saß auf einer der Bänke zwischen den Gepäckscontainern ein junger Mann, den er während des gesamten Fluges nicht bemerkt hatte. Der Mann hatte ein sehr schönes aber ausdrucksloses Gesicht und nickte ihm zu.
»Wie kommst du hierher und wer bist du?«, fragte Egbert.
»Ich bin immer in deiner Nähe. Ich habe keinen wirklichen Namen, aber wenn es dir lieber ist, mich mit Namen anzusprechen, dann nenn mich Saphiro.«
»Was heißt das, du bist immer in meiner Nähe? Ich hab dich noch niemals zuvor gesehen. Sollten wir uns kennen?«
»Natürlich kennen wir uns. Dass du mich noch nie gesehen hast, liegt an der Unvollkommenheit deiner Sinne. Aber du hast mich ganz sicher schon das eine oder andere Mal wahrgenommen.«
»Bist du da so sicher? Ich wusste nichts von dir, auch ist mir dein Name völlig fremd. Saphiro – nie gehört.«
»Ich weiß, aber das ändert nichts an dem, was ich dir soeben sagte. Ich begleite dich seit deinem ersten Schrei, als du aus dem Bauch deiner Mutter geschlüpft bist. Ich legte meine Hand auf deine Stirn, um sie zu kühlen, wenn du hohes Fieber hattest. Ich saß neben dir auf dem Ast der Buche, auf die du als Junge so oft hinaufgeklettert bist. Ich war bei all deinen Geschäftsreisen stets zugegen und verdeckte denen, die bösen Willens waren, den Blick auf dich. Und immer dann, wenn du einsam warst und es dir ob deines Alleinseins schlecht ging, hast du mit mir gesprochen und mir dein Herz ausgeschüttet. Ich gab dir stets eine Antwort, und nicht nur die, die du hören wolltest. Weißt du noch?«
»Ja, ich weiß. Warum tust du das alles? Bist du mein Freund? Oder bist du mir verpflichtet?«
»Nein, ich bin niemandes Freund, auch nicht irgendjemandes Feind. Ich kenne auch kein Gefühl, weder Liebe noch Hass, keine Angst und auch keine Freude. Ich bin dir nicht verpflichtet, sondern ich bin ein Teil von dir und wir sind uns gegenseitig anvertraut.«
»Das musst du mir näher erklären. Wie konntest du mir anvertraut sein, wo ich von deiner Gegenwart überhaupt nichts wusste?«
»Gegenseitiges Anvertrautsein ist keine Instanz des Wissens, sondern des Spürens. Außerdem: jetzt weißt du davon, das sollte genügen.«
»Wenn mir trotzdem ein Wunsch auf dem Herzen liegt, darf ich dich um etwas bitten?«
»Das darfst du schon, aber ich habe weder das Recht, noch die Macht, dir eine Bitte oder einen Wunsch zu erfüllen. Ich bin nicht die gute Fee aus einem Kindermärchen. Ich bin auch nicht der Abgesandte einer höheren oder dämonischen Macht. Was ich dir an Hilfe und Schutz geben kann, steckt in beiden von uns. Es kommt nicht von außen.«
»Aber du musst doch einen Auftrag haben, der dich zu unserem gegenseitigen Anvertrautsein legitimiert!«
»Muss ich das? Warum? Du bist noch zu sehr deinem gewohnten Denkschema verhaftet, wonach jede Wirkung auf einer Ursache beruht. Das trifft im Bereich der Materie sicherlich zu, aber du und ich, wir sind keine Materie, sondern eine einzige Seele, wir sind vom selben universellen Geist. Für mich gibt es keine Ursache, die zu einer Wirkung führt, deshalb benötige ich auch keinen Auftrag zu handeln.«
»Aber wer steht dann hinter dir? Du sagtest eben, du seist nicht von einer höheren Macht gesandt. Wer ist es dann? Gibt es denn überhaupt eine höhere Macht? Gibt es eine Art von kosmischer Energie, zu der so viele beten, die sie ehren oder fürchten und die sie Gott nennen?«
»Deine Fragestellung überrascht mich, was willst du jetzt von mir hören? Ich kann dir darauf keine eindeutige Antwort geben. Es liegt ausschließlich in deinem freiwilligen Ermessen, eine solche Macht anzuerkennen oder nicht. Und selbst wenn sie existierte: dieser Macht wäre es völlig gleichgültig, ob du sie verehrst oder verachtest, ob du sie anbetest oder verfluchst, weil du würdest sie ohnehin niemals begreifen können. Und wisse: nicht Gott hat dich erschaffen, sondern umgekehrt du bist es, der Gott erschuf und zwar in jenem Augenblick, wo du begonnen hast, an ihn zu glauben.«
»Aber du weißt doch, dass ich gar nicht an Gott glaube!«
»Oh ja, das weiß ich. Warum fragst du dann?«
»Falls es ihn doch gibt, dann sollte ich mich vielleicht jetzt mit ihm beschäftigen.«
»So kenne ich dich gar nicht, du enttäuschst mich mit deinem Opportunismus. Außerdem: Findest du nicht, dass es jetzt vielleicht schon ein wenig zu spät ist, deine Fahne in den spirituellen Wind zu hängen?«
Egbert fühlte sich beschämt und schwieg. Der junge Mann fuhr fort:
»Glaub mir: deine Furcht ist unbegründet. Denn all jene, die dich ständig vor Gott auf die Knie zwingen wollten, taten dies allein in der Absicht, dich zu beherrschen. Sie schieben Gott als Herrscher der Welten vor, um ihre eigenen Herrschaftsgelüste zu verdecken. Sie tun das, um dir davor Angst zu machen, die Regeln zu brechen, mit denen sie die Machtlosen und Unwissenden seit hunderten von Generationen vergewaltigt haben. Sie reden von Gottes unendlicher Güte und Gerechtigkeit und empfinden dabei nicht die geringste Scham über ihre grenzenlose Unmäßigkeit, wenn sie von den Menschen Demut und Würde einfordern, während diese den Staub von ihren Füßen lecken, namens und auftrags der höheren Ehre des angeblich Allmächtigen. Im Gegenzug versprechen sie dir eine unbestimmte Seligkeit als Lohn und bedrohen dich zugleich mit ewiger Finsternis, wenn du es wagen solltest, ihrem Machtanspruch nicht zu genügen. Dabei steht ihnen über beides, Seligkeit wie Finsternis, nicht die mindeste Verfügungsgewalt zu. Denn eines kann ich dir versichern: es gibt weder die ewige Seligkeit noch die ewige Verdammnis. Es gibt nur ein ewiges Voranschreiten des Geistes, unseres Geistes, an dem wir selbst teilhaftig sind und der niemandes alleiniges Eigentum ist!
Während wir in diesem Sinn vorwärts gehen, müssen wir unentwegt Entscheidungen treffen. Die Entscheidung für Liebe oder Hass. Die Entscheidung für miteinander oder gegeneinander. Die Entscheidung für Aufbau oder Zerstörung. Die Entscheidung für ein Leben im Licht oder in der Dunkelheit. Ganz gleich aber, wie wir uns entscheiden: es würde rein gar nichts an unserer Entwicklung ändern. Denn der Weg, der sich nach jeder Entscheidung vor uns auftut, ist niemals richtig oder falsch, aber jedesmal unterschiedlich lang.«
Egbert spürte, dass Druck und Hitze gewichen waren. Der Raum, der beide umgab, war in ein angenehmes, hellgelbes Licht getaucht und es herrschte völlige Stille.
»Eines möchte ich dennoch von dir wissen: Wie kommt es, dass ich dich gerade jetzt, in diesem Augenblick, erkennen kann, wo du doch sagtest, meine Sinne seien zu unvollkommen um dich wahrzunehmen?«
Der junge Mann erhob sich, reichte Egbert die Hände mit einer versöhnlichen Geste und sprach:
»Sei ganz unbesorgt, mein Bruder. Du und ich, wir stehen vor dem Ausgangspunkt einer neuen Spur ins Leben. Gehen wir, es ist jetzt die Zeit gekommen, unsere Zerrissenheit zu vergessen!«
 
Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Das Ende, wo es um Sein und Nichtsein, um Gott und Glaube geht, unterschreibe ich. Ich will weitere Geschichten von Dir lesen.
Et contra Nubes
 

Haselblatt

Mitglied
nochmals herzliches Dankeschön, Et contra nubes., ich freue mich über deine Zustimmung und werde mir Mühe geben, dich bei künftigen Themen nicht zu enttäuschen.
Eine Frage noch: was bedeutet Et contra nubes genau? Ich war in Latein immer sehr schwach...
 



 
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