Eine merkwürdige Begegnung

Stella

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Eine merkwürdige Begegnung

Wie jeden Donnerstag holte ich meine Tochter von ihrem nachmittäglichen Malunterricht in der „Kindermalschule Janssen" ab. Die Malschule war leider recht verkehrsungünstig situiert; weder per Bus noch Straßenbahn erreichte man sie auch nur annähernd.
So stand ich also draußen an mein Auto gelehnt und wartete. Mit mir warteten noch andere Eltern und auch ein älterer Mann (wohl auf seine Enkelkinder).
Nach etwa zehnminütiger Wartezeit kamen einige Kinder heraus; meine Tochter war immer noch nicht dabei. Der ältere Mann sah sich die Kinder an, schüttelte mit dem Kopf und kam auf mich zu.
"Entschuldigen Sie, können Sie mir vielleicht sagen, wo ich bin? Ich kenne mich hier nicht aus und habe mich verlaufen."
Ich fragte ihn, woher er denn gekommen sei. Er wusste es nicht. Er wusste auch nicht, ob er alleine oder in Gesellschaft hierher gekommen war. Er wusste allerdings, dass er in dieser Stadt wohnte. Aber nicht, WO er wohnte.
Als ich ihn fragte, wie er denn hieße, sagte er:
"Das habe ich vergessen. Ich weiß es nicht. Entschuldigen Sie, aber ich muss mich an diese Situation erst gewöhnen."

***

Entgeistert schaute ich ihn an. Sammelte mich einen Moment und griff behände unter seinen Arm.
»Sie haben doch bestimmt Ihre Brieftasche dabei?«
»Ich weiß es nicht.« Seine rechte Hand tastete in Brusthöhe über seinen Mantel, dann schüttelte er den Kopf.
»Ein Portemonai vielleicht?«
Seine Hand klopfte an seiner Gesäßtasche, dann schüttelte er wieder den Kopf. »Tut mir leid«, fügte er verwirrt hinzu.
»Macht nichts, wir werden Sie schon finden«, sagte ich schmunzelnd und überspielte so meine Unsicherheit. Meine Augen flogen über die Köpfe der herausströmenden Kinder, meine Tochter konnte ich noch immer nicht entdecken. Nervös blickte ich auf meine Armbanduhr. Es wurde höchste Zeit.
»Ich muss nach oben, schauen wo meine Tochter bleibt. Sie hätte schon längst hier sein müssen. Bitte warten Sie solange auf uns.«
»Das werde ich gerne machen«, sagte er und lehnte sich an meinen Wagen, während ich in Richtung Gebäude ging und schnellen Schrittes die vierzehn Treppenstufen hinauflief.

***

Unterwegs dachte ich an meine Schwester Christiane. Sie war Krankenschwester und wusste sicher, was man in einer solchen Situation machen musste. Vielleicht wusste sie auch, was mit dem Mann los war. War es ein vorübergehender Anfall geistiger Verwirrtheit oder chronische Alzheimer? Ich blieb vor der Tür zur Malschule stehen und fummelte mein Handy aus der Manteltasche, drückte die Kurzwahltaste und wartete. Nachdem das Rufzeichen eine Weile alarmiert hatte, meldete sich die Automatenstimme. So ein Mist, immer wenn man dringend jemand braucht, ist er nicht erreichbar. Ich hinterließ eine Nachricht in ihrer Mailbox und überlegte fieberhaft, was zu tun sei. Sollte ich einfach die Polizei alarmieren? Es war schließlich ihre Aufgabe, hilflose Personen einzusammeln und ihren Angehörigen zuzustellen. So hilflos schien mir der Mann aber nicht. Er war nur nicht im Bilde, wer und wo er war. Aber wie war er hierher gekommen? Offensichtlich zu Fuß. Also konnte er auch nicht allzuweit entfernt wohnen. Meine Neugier ließ mich die Idee mit der Polizei erstmal vergessen.
"Mami, schau mal, was ich heute gemalt habe!" Die Stimme meiner Tochter unterbrach meine Gedanken. Sie hielt mir ihren Zeichenblock unter die Nase und ich musste laut losprusten.

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"Liebe kostet nichts und ist doch das Teuerste auf der Welt."

***

"Wenn das ich sein soll, kriegst du ´ne Woche Hausarrest."
Als der Alte zur Seite wankte und weggehen wollte, schreckte ich auf. "Warten sie."
Annabell stahl sich klammheimlich einen Schritt zurück, als ich von ihr abschaute.
Der Alte blieb stehen, wollte sich umdrehen und schaute sich dann verwirrt um. "Ja, bitte?"
"Sie sagten, sie müssten sich erst an die Situation gewöhnen? An was denn für eine?"
"Kindchen, kennen wir uns?"
Annabelle huschte in die Mahlschule zurück, ehe ich den Mund aufbekam, als hoffe sie, dass ich mich verschwunden wäre, wenn sie wieder rauskommt. Wie immer.
Er fragte: "Wissen sie, wann hier der nächste Bus hält?"
"Ja, aber das würde ihnen nichts bringen. Sie wissen ohnehin nicht, wo sie hinwollen, oder?"
"Ich will in die Zederstraße."
"Wohnen sie da?"
"Weiß ich nicht", meinte er.
Ich stöhnte. Stöhnte noch zehn Minuten später, als Annabelle kicherte und an der Seite einer Freundin wieder aus der Malschule sprang, in der Hoffnung, einem gkücklichen, elternlosen Nachmittag in die Arme zu laufen.
"Wissen sie was?", fragte ich und winkte Annballe zu, mit einem breiten, freudigen Grinsen auf den Wangen, als würde ich sie zum ersten mal empfangen.
"Haben sie was gesagt?", fragte er und kratzte sich mit einem vollgerotzten Taschentuch den Dreck aus dem Ohr. Dann schnäuzte er sich und tupfte sich die Augen trocken, als wären Tränen darin. Eine gelbliche Schlange schaukelte an seinen Wimpern. Der Alte hob die Hand, als wolle er sich den Speichel von seiner glänzenden Unterlippe reiben, stockte und runzelte die Stir. Als er die Hand unsicher fallen ließ, kicherte er. Sein Arm baumelte wie ein vergessenes, totes Glied neben seiner Hüfte.
Annabelle sprang auf mich zu. Ein freudiges Grinsen hüpfte auf ihre sommersprossigen Wangen, als sie mit ihrer Freundin quatschte und lachte, bis sie mich erkannte. Dann sackten ihre Wangen herunter und ihr Oberkörper klappte soweit nach vorne, dass ihre Kinnlade beinahe über den Asphalt schleifte.
"Wissen sie was?", fragte ich den Alten. "Sie steigen jetzt in meinen Wagen, ja?"
"Ja."
"Dann gehen wir zum Doktor, ja? Ich kenne da jemanden, der ihnen helfen wird."
Seine Augen wichen zur Seite, als sein Hirn meine Frage verarbeitete. Ich konnte die Räder seines morschen Denkapparates fast knirschen hören. Nach langem Zögern entschied er sich zu nicken und gleichzeitig mit den Achseln zu zucken. Er lächelte.
"Schön", meinte er. Annabelle blieb abrupt vor mir stehen. Ihre blauen, finsteren Augen hoben sich und sichteten ihre Mutter, die sie aus ihrem Spieltaumel riss und in die Hölle spießerischer Langeweile zurückstieß; ab nach Hause zu ihren Eltern.
"Na, Schatz, da bist du ja. Wieso bist du denn gegangen?"
"Ach ... hab was vergessen."
"Hat's dir gefallen?"
Sie nickte, blieb aber so stocksteif stehen, als wäre sie eingefroren.
Als ich mich nach dem Alten umdrehte und zu meinem Wagen gehen wollte, grinste er, machte kehrt und fing ein Mädchen auf, dass "Opa-Opa" trällernd in seine Arme hüpfte. Er sabberte ihr einen Schmatz auf die Stirn, warf sie in seinen Wagen und brauste davon.
"Was ist denn, Mama?", fragte Annabelle, die mich grimmig anlächelte und hinter sich zeigte. "Wenn du deinen Wagen suchst, der steht da drüben".



***



Auf dem Heimweg ging mir diese eigenartige Begegnung nicht aus dem Sinn. "Dieser alte Mann.... hast du ihn schon einmal gesehen?" fragte ich Annabelle als wir nach Hause fuhren.
"Welcher alte Mann?"
"Der Mann der vorhin bei mir stand, als du das erste Mal aus der Kinderschule kamst."
"Das war nur der Opa von Christine."
"Ach, das Mädchen das vor 4 Wochen erst hier in die Stadt gezogen ist. Ist er vielleicht ein wenig....merkwürdig?"
"Nö, hast du Bombons?"
Aha, dachte ich mir während ich Annabelle ein Bombon aus meiner Handtasche hervorkrustelte. Vielleicht hatte er die Orientierung verloren weil er neu in der Stadt ist. Möglich wäre es, wenn man an sein hohes Alter denkt.
Ein Onkel von mir kam mir in den Sinn, der im Alter auch hin und wieder an solchen kurzzeitigen Gedächtnis- und Orientierungsverlusten litt. Aber mein Onkel wußte über seine "Schwäche" Bescheid und wäre in seinem damaligen Zustand niemals auf die Idee gekommen mit einem Auto zu fahren. Nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn er während der Fahrt einen solchen Gedächtnisschwund bekommen würde. Vor lauter Angst wurde es mir ganz bang.

Was mir am meisten Sorge bereitete war, dass er seine kleine Enkelin bei sich im Auto hatte.
Zum Glück hatte sich Annabelle den Nachnamen von Christine gemerkt. Als wir zu Hause ankamen suchte ich sogleich im Telefonbuch nach der Rufnummer und rief bei Christines Eltern an.
"Arnegger" meldete sich eine leise Stimme am Telefon.
"Guten Tag, ich bin Frau Hansen, die Mutter von Annabelle. Ihre Tochter Christine geht zusammen mit meiner kleinen Tochter in die Malschule für Kinder" meldete ich mich ein wenig unsicher am Telefon".
"Was ist mit Christine, wissen sie wo sie ist?"
Mir blieb das Herz fast stehen. Die Stimme klang so unendlich verzweifelt und in Sorge, dass es mir durch Mark und Bein fuhr.
 



 
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