Endstation
Es war Mai, heute hatte er Geburtstag, 86 Jahre war er alt geworden.
Und Paul Höfer war da angekommen, wo er eigentlich nie ankommen wollte:
Im Altersheim. Pflegeheim hieß das jetzt.
Da saß er nun in seinem Sessel und schaute aus dem Fenster. Es regnete leicht, nieselte, die Tropfen rannten an den Fensterscheiben herunter wie Tränen. Er hörte Autos vorbeifahren, atmete den typischen Geruch alter Menschen ein, seinen Geruch. Ein Vogel saß auf dem Sims vor dem Fenster.
Er hatte ihn schon öfter gesehen, eine Krähe, sie schaute ihn an.
Sein Zimmernachbar schlief noch, röchelte ab und zu, schnarchte vor sich hin, er bekam nie Besuch, war so alt wie er, konnte nicht mehr aus dem Bett aufstehen.
Einfach weggegangen war sie, nicht mehr aufgewacht, hatte ihn alleine gelassen. Und da stand er nun in der Küche und versuchte mit seinen zitternden Händen Eier zu braten, stand wacklig auf seinen alten Beinen.
60 Jahre hatten sie zusammen gelebt, lange Zeit. Sie fehlte ihm, ihm fehlte sogar ihre Nörgelei und ihr Sauberkeitswahn. Ihm fehlten die Gespräche mit ihr, auch wenn sie oft nicht sehr tiefgründig gewesen waren, ihm fehlten die Streitereien um nichts. Sie fehlte ihm, er war jetzt allein.
Auf dem Küchentisch stand jetzt nur noch ein Teller, stand nur noch ein Glas.
Vor zwei Wochen hatten sie sie beerdigt, sein Sohn und seine Tochter waren gekommen, hatten alles geregelt.
Heute gegen 15.00 Uhr wollten sie kommen, mit ihm sprechen, wie sein Sohn am Telefon gesagt hatte.
Er saß in seinem Sessel am Fenster, hatte gelesen, sein ganzes Leben hatte er gelesen, dachte er.
Den Garten müsste man mal wieder machen. Früher hatte er um diese Jahreszeit die Oleander längst aus dem Keller geholt. Sie waren jedes Jahr schwerer geworden, schließlich hatte er sie draußen gelassen. Er hatte sie im Winter nicht mehr in den Keller gebracht, sie waren erfroren.
Jetzt war es schon 17.00 Uhr, es klingelte an der Tür.
Er ging langsam zur Tür, öffnete sie, es war sein Sohn, er kam alleine.
Er setzte sich an den Küchentisch.
Sein Sohn setzte sich auf einen Stuhl vor ihn, schien nach den richtigen Worten zu suchen, rutschte unruhig hin und her.
„Erika und ich haben uns in der letzten Woche Pflegeheime angeschaut. Nach längerem Suchen haben wir etwas Gutes gefunden. Ein modernes Haus, Fahrstühle, freundliche Zimmer, sympathisches Personal. Es ist ja auch nur für kurze Zeit. Du würdest dann bei mir zu Hause wohnen.“
Er konnte es nicht glauben, glaubte sich verhört zu haben, er in einem Altersheim!
Er wollte in seinem Haus bleiben, nicht mit anderen zusammen wohnen.
„Ja, nur eine Übergangslösung“, fuhr sein Sohn fort, „nur eine kurze Zeit. Du hast doch gemerkt, dass du hier alleine nicht zurecht kommst. Morgen werde ich dich hinbringen. Du wirst schon sehen, es gefällt dir sicher.“
Georg hatte Schwierigkeiten, seinen Vater anzusehen, immer wieder schaute er an die Wände, als suchte er etwas.
Er sah seinen Sohn hilflos an, konnte es immer noch nicht fassen, konnte sich nicht wehren, fühlte sich in der Falle und konnte nichts tun.
Georg wollte möglichst schnell wieder weg, das merkte er, weg zu seiner Familie, weg von ihm, weg von allen Schwierigkeiten hier.
„Also gut, dann bis Morgen“, sagte er müde.
Seit zwei Monaten war er nun schon hier. Alles war geregelt, alles festgelegt, die Zeit zum Aufstehen, die Zeit zum Waschen, die Zeit um aufs Klo zu gehen, die Zeit zum Essen und zum Schlafen, wenn man denn schlafen konnte. Ab 21.00 Uhr wurde das Licht ausgemacht. Er war gewohnt gewesen, abends zu lesen, das ging jetzt nicht mehr.
Er saß mit ein paar Leuten am Mittagstisch, unterhalten konnte er sich mit niemanden.
Ihm gegenüber saß Frau Wotleb, sie konnte alleine essen, ihre Gesichtszüge waren verzerrt, sie schrie manchmal. Neben ihm war Frau Stubinski, sie musste meistens gefüttert werden, spuckte ab und zu das Essen wieder aus. Auf der anderen Seite, Herr Gutmann, er murmelte ununterbrochen vor sich hin, man verstand aber kein Wort.
Etwas abseits vom Tisch saß Frau Koch in einem Rollstuhl, sie aß nicht, ließ sich auch nicht füttern, sprach kein Wort, schaute aus dem Fenster und schüttelte öfter den Kopf.
Luxus umgab sie alle, fast wie in einem Hotel, dachte er. Luxus, aber keine persönliche Zuwendung an den Einzelnen, keine Zeit dafür.
Einige Patienten hatte Windeln, sie brauchten nicht mehr zur Toilette gebracht werden, Zeit konnte eingespart werden.
Jemanden wurde ein Zahn vom Pflegepersonal gezogen, der Zahnarzt hatte keine Zeit zu kommen.
Menschen, die kamen und alleine laufen konnten, waren später nicht mehr dazu in der Lage, man hatte sie im Bett gelassen, es war zu wenig Personal da, um sie anzuziehen und mit ihnen herumzugehen; sie wurden künstlich ernährt, weniger Zeitaufwand.
Sie wurden zu Tode gepflegt.
Aggressive Heimbewohner wurden mit Medikamenten „ruhig gestellt“.
Auf den Gängen saßen alte Menschen im Rollstuhl, wurden morgens dahin geschoben, starrten die Wand an. Radio und TV waren zwar da, wurden aber nie eingeschaltet.
Irgendwann hatte er einmal einen Mann gesehen, er saß im Rollstuhl, seine Hose war herunter gelassen, durchnässt, sein Gebiss lag auf der Sessellehne.
Mit dem Lärm hier hatte er nicht gerechnet, hier war es nicht wie in einem Krankenhaus. Hier war es wie im Irrenhaus.
Die Menschen versuchten mit allen Mitteln, auf sich aufmerksam zu machen, ein bisschen Zuwendung zu erhalten, aus ihrer Einsamkeit herauszukommen. Sie jammerten laut, schimpften, schrieen, beschmierten Wände mit ihren Exkrementen, riefen nicht selten: „Schwester, helfen sie mir, ich kann nicht mehr, ich möchte sterben.“
Keine Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen, ihnen das Leben lebenswert zu machen.
Ab und zu kam eine Beschäftigungstherapeutin, da wurden Heimbewohnerinnen zu sinnlosen Arbeiten angehalten, sie nahmen nur teil, um nicht ganz so einsam zu sein.
Die Eskimos setzen ihre Alten aus, die Indianer gehen zum Sterben in die Einsamkeit, hatte er einmal gelesen. Wir sperren alte Menschen ein, geben ihnen Zeit, mit der sie nichts anfangen können und halten sie solange am Leben, wie es nur geht. Sie werden entsorgt, statt versorgt................, dachte er.
Er fühlte sich alleingelassen, abgeschoben, Besuch kam immer seltener. Er hatte keine Freunde und konnte mit niemanden reden.
Er hatte Zeit, Zeit wofür?
Er fühlte sich bevormundet, hatte versucht mit dem Leiter des Pflegeheims zu sprechen, aber der hatte auch keine Zeit.
Neu beginnen müsste man können, aber das kann man nur an dem Punkt, an dem man gerade jetzt eben ist, dachte er.
Neu zu beginnen, hieß weiter machen für ihn.
Raus wollte er hier, nichts wie raus, raus aus der Bevormundung, raus aus allem. Er war ein Gefesselter, ein Behinderter, war schwach, konnte nur noch sehr langsam gehen, ja, aber geistig klar war er noch.
Einmal hatte eine Pflegerin ihm einen Rollstuhl gebracht, er könne sich dann schneller bewegen, hatte sie gemeint.
Warum schneller, hatte er sie gefragt, er habe doch Zeit.
Sie aber nicht, hatte sie gesagt.
So hatte er sich das früher nicht vorgestellt.
Er hatte gedacht, er müsste vorsorgen, damit er nicht eines Tages im Bett läge, vielleicht im Koma, dass er nicht eine Last für sich und andere wäre.
Jetzt war er hier in einem Zweibettzimmer untergebracht, lebte noch, würde bald nur noch mit Windeln im Bett liegen, künstlich ernährt werden.
Das würde Zeit einsparen.
Kein Mensch kümmerte sich um ihn, auch seine Kinder nicht. Sie kamen selten und wenn sie kamen, gingen sie bald wieder, so schnell sie konnten, verließen den Geruch von Urin und Putzmitteln, der hier herrschte.
Nach mehreren Wochen kam sein Sohn eines Abends alleine, hatte eine Aktentasche in der Hand.
Er war über den Besuch überrascht, hatte Georg längere Zeit nicht gesehen.
„Hallo, Papa, wie geht’s?“, fragte er.
„Ganz gut“, log er.
„Ich konnte nicht früher kommen, musste länger arbeiten. Wie gefällt es dir denn hier, hast du dich langsam eingewöhnt?“
„Ja, ja, das geht schon.“
Er dachte, dass sein Sohn und seine Tochter vor acht Wochen von einer Übergangslösung gesprochen hatten, der Aufenthalt im Altersheim würde nur kurze Zeit dauern, dann würde er bei seinem Sohn wohnen. Immer wieder hatte er seinen Sohn gefragt, wann er denn endlich zu ihm ziehen würde. Ausweichend geantwortet hatte er, ihn vertröstet.
Bei den letzten Besuchen hatte niemand mehr davon gesprochen, und er hatte gedacht, dass es besser sei, nicht weiter zu drängen, hatte geahnt, dass eine ehrliche Antwort, ihn ärmer zurückgelassen würde.
Seine Hände zitterten, er schaute auf den Tisch.
„Ja, wir haben alles noch einmal genau überlegt, hier bist du doch am besten aufgehoben, hast ein schönes Zimmer, ein Doppelzimmer, kannst dich unterhalten, bist nicht alleine und wirst gut betreut. So schön hättest du es bei uns nicht. Ich arbeite den ganzen Tag, komme spät heim, bin auch oft tagelang unterwegs, Geschäftsreisen.
Meine Frau muss sich um die Kinder kümmern, hat dann noch ihren Fitness-Kurs, hat also auch wenig Zeit. Die Wohnung von deiner Tochter Erika ist viel zu klein, sie hat auch gerade Theater mit ihrem Ehemann.“
„Ja, du hast schon recht“, sagte er, dachte aber, dass er nun endgültig abgeschoben wurde. Das hatte er sich einmal anders vorgestellt, ganz anders.
Georg machte seine Aktentasche auf.
„Hier habe ich einige Papiere dabei, die müsstest du unterschreiben.“
„Um was handelt es sich?“
„Wir haben gedacht, dass du ja nun in diesem Heim bleiben wirst. Das Haus, ja das Haus könnten wir dann verkaufen, das steht nur rum. Es müsste auch renoviert werden. Ich könnte einen guten Preis dafür erzielen, die Gelegenheit ist also günstig. Da sollte man auch nicht zu lange warten, die Preise für Immobilien könnten wieder sinken. Und du brauchst ja jetzt das Haus nicht mehr. Ich habe schon alles geregelt.“
Sein Sohn hatte immer schneller gesprochen und seine Hände geknetet, war aufgestanden und hatte sich wieder hingesetzt. Fast sah es so aus, als wenn er sich selber mit seinen Argumenten überzeugen wollte. Nicht ein einziges Mal schaute er ihn an.
Er holte aus seiner Aktentasche einige Papiere, legte sie vor ihm hin, einen Kugelschreiber daneben.
Das Haus verkaufen, dachte er, das Haus in dem er und seine Frau so viele Jahre gewohnt hatten, das sie beide geplant hatten, eingerichtet hatten, das Haus, in dem seine Kinder aufgewachsen waren, wo sie gespielt hatten.
Er erinnerte sich an Treffen mit Freunden, an endlose Diskussionen, an gutes Essen und guten Wein.
Alles geregelt hatte er schon, hatte sein Sohn gesagt.
Er hatte immer noch ein wenig gehofft, eines Tages wieder zurückkehren zu können, in seinem Haus wollte er seine Lebenszeit beenden, so hatte er sich das vorgestellt.
Auf einmal war er sehr müde, nahm den Kugelschreiber und unterschrieb den Verkauf.
„Ich bin heute ziemlich müde“, sagte er, „werde mich gleich hinlegen.“
Er schaute immer noch auf den Tisch, vermied es, seinen Sohn anzusehen.
„Ja, ich muss auch gleich wieder los, muss noch einmal ins Geschäft.“
Sein Sohn konnte wohl nicht schnell genug wegkommen, dachte er. Er schaute ihm hinterher, als er hinausging. Er drehte sich nicht noch ein Mal um.
Mühsam humpelte er in sein Zimmer, zog sich aus und legte sich ins Bett.
Es war soweit, er würde gehen. Sein Zimmernachbar schlief und schnarchte wie immer, er schlief jetzt fast immer, auch am Tag, belästigte das Personal nicht, die Klingel hatten sie ihm abgebaut.
Der Mond schien ins Zimmer.
Er richtete sich im Bett auf, stützte sich ab und rutschte heraus. Nun stand er neben dem Bett, hielt sich am Nachttisch fest.
Kleine Schritte zum Schrank. Er holte Unterhose, ein Hemd und eine Hose raus. Socken brauchte er nicht, konnte sie sich nicht alleine anziehen.
Er bewegte sich mühsam zum Bett zurück, stützte sich, zog sich an, alles sehr langsam, immer wieder musste er sich ausruhen. Er hatte Zeit.
Die Schuhe standen neben dem Bett, er schlüpfte hinein, sie zuzubinden versuchte er gar nicht.
Es regnete leicht, nieselte, die Tropfen rannen an der Fensterscheibe herunter wie Tränen.
Der Vogel war nicht da, schaute ihn nicht an, niemand schaute ihn an. Er war allein.
Auf den Stuhl musste er jetzt steigen, hielt sich an der Lehne fest.
Es gelang ihm ein Knie auf den Stuhl vor dem Fenster zu bringen. Er musste erst eine Pause machen, brachte dann auch das zweite Knie auf den Stuhl.
Er schwitzte, etwas schwindlig war ihm, noch einmal nahm er alle restlichen Kräfte zusammen, zog sich an der Lehne hoch, dann stand er schwankend auf dem Stuhl und öffnete das Fenster, Regen lief über sein Gesicht.
Alles ging plötzlich so leicht.
Es war Mai, heute hatte er Geburtstag, 86 Jahre war er alt geworden.
Und Paul Höfer war da angekommen, wo er eigentlich nie ankommen wollte:
Im Altersheim. Pflegeheim hieß das jetzt.
Da saß er nun in seinem Sessel und schaute aus dem Fenster. Es regnete leicht, nieselte, die Tropfen rannten an den Fensterscheiben herunter wie Tränen. Er hörte Autos vorbeifahren, atmete den typischen Geruch alter Menschen ein, seinen Geruch. Ein Vogel saß auf dem Sims vor dem Fenster.
Er hatte ihn schon öfter gesehen, eine Krähe, sie schaute ihn an.
Sein Zimmernachbar schlief noch, röchelte ab und zu, schnarchte vor sich hin, er bekam nie Besuch, war so alt wie er, konnte nicht mehr aus dem Bett aufstehen.
Einfach weggegangen war sie, nicht mehr aufgewacht, hatte ihn alleine gelassen. Und da stand er nun in der Küche und versuchte mit seinen zitternden Händen Eier zu braten, stand wacklig auf seinen alten Beinen.
60 Jahre hatten sie zusammen gelebt, lange Zeit. Sie fehlte ihm, ihm fehlte sogar ihre Nörgelei und ihr Sauberkeitswahn. Ihm fehlten die Gespräche mit ihr, auch wenn sie oft nicht sehr tiefgründig gewesen waren, ihm fehlten die Streitereien um nichts. Sie fehlte ihm, er war jetzt allein.
Auf dem Küchentisch stand jetzt nur noch ein Teller, stand nur noch ein Glas.
Vor zwei Wochen hatten sie sie beerdigt, sein Sohn und seine Tochter waren gekommen, hatten alles geregelt.
Heute gegen 15.00 Uhr wollten sie kommen, mit ihm sprechen, wie sein Sohn am Telefon gesagt hatte.
Er saß in seinem Sessel am Fenster, hatte gelesen, sein ganzes Leben hatte er gelesen, dachte er.
Den Garten müsste man mal wieder machen. Früher hatte er um diese Jahreszeit die Oleander längst aus dem Keller geholt. Sie waren jedes Jahr schwerer geworden, schließlich hatte er sie draußen gelassen. Er hatte sie im Winter nicht mehr in den Keller gebracht, sie waren erfroren.
Jetzt war es schon 17.00 Uhr, es klingelte an der Tür.
Er ging langsam zur Tür, öffnete sie, es war sein Sohn, er kam alleine.
Er setzte sich an den Küchentisch.
Sein Sohn setzte sich auf einen Stuhl vor ihn, schien nach den richtigen Worten zu suchen, rutschte unruhig hin und her.
„Erika und ich haben uns in der letzten Woche Pflegeheime angeschaut. Nach längerem Suchen haben wir etwas Gutes gefunden. Ein modernes Haus, Fahrstühle, freundliche Zimmer, sympathisches Personal. Es ist ja auch nur für kurze Zeit. Du würdest dann bei mir zu Hause wohnen.“
Er konnte es nicht glauben, glaubte sich verhört zu haben, er in einem Altersheim!
Er wollte in seinem Haus bleiben, nicht mit anderen zusammen wohnen.
„Ja, nur eine Übergangslösung“, fuhr sein Sohn fort, „nur eine kurze Zeit. Du hast doch gemerkt, dass du hier alleine nicht zurecht kommst. Morgen werde ich dich hinbringen. Du wirst schon sehen, es gefällt dir sicher.“
Georg hatte Schwierigkeiten, seinen Vater anzusehen, immer wieder schaute er an die Wände, als suchte er etwas.
Er sah seinen Sohn hilflos an, konnte es immer noch nicht fassen, konnte sich nicht wehren, fühlte sich in der Falle und konnte nichts tun.
Georg wollte möglichst schnell wieder weg, das merkte er, weg zu seiner Familie, weg von ihm, weg von allen Schwierigkeiten hier.
„Also gut, dann bis Morgen“, sagte er müde.
Seit zwei Monaten war er nun schon hier. Alles war geregelt, alles festgelegt, die Zeit zum Aufstehen, die Zeit zum Waschen, die Zeit um aufs Klo zu gehen, die Zeit zum Essen und zum Schlafen, wenn man denn schlafen konnte. Ab 21.00 Uhr wurde das Licht ausgemacht. Er war gewohnt gewesen, abends zu lesen, das ging jetzt nicht mehr.
Er saß mit ein paar Leuten am Mittagstisch, unterhalten konnte er sich mit niemanden.
Ihm gegenüber saß Frau Wotleb, sie konnte alleine essen, ihre Gesichtszüge waren verzerrt, sie schrie manchmal. Neben ihm war Frau Stubinski, sie musste meistens gefüttert werden, spuckte ab und zu das Essen wieder aus. Auf der anderen Seite, Herr Gutmann, er murmelte ununterbrochen vor sich hin, man verstand aber kein Wort.
Etwas abseits vom Tisch saß Frau Koch in einem Rollstuhl, sie aß nicht, ließ sich auch nicht füttern, sprach kein Wort, schaute aus dem Fenster und schüttelte öfter den Kopf.
Luxus umgab sie alle, fast wie in einem Hotel, dachte er. Luxus, aber keine persönliche Zuwendung an den Einzelnen, keine Zeit dafür.
Einige Patienten hatte Windeln, sie brauchten nicht mehr zur Toilette gebracht werden, Zeit konnte eingespart werden.
Jemanden wurde ein Zahn vom Pflegepersonal gezogen, der Zahnarzt hatte keine Zeit zu kommen.
Menschen, die kamen und alleine laufen konnten, waren später nicht mehr dazu in der Lage, man hatte sie im Bett gelassen, es war zu wenig Personal da, um sie anzuziehen und mit ihnen herumzugehen; sie wurden künstlich ernährt, weniger Zeitaufwand.
Sie wurden zu Tode gepflegt.
Aggressive Heimbewohner wurden mit Medikamenten „ruhig gestellt“.
Auf den Gängen saßen alte Menschen im Rollstuhl, wurden morgens dahin geschoben, starrten die Wand an. Radio und TV waren zwar da, wurden aber nie eingeschaltet.
Irgendwann hatte er einmal einen Mann gesehen, er saß im Rollstuhl, seine Hose war herunter gelassen, durchnässt, sein Gebiss lag auf der Sessellehne.
Mit dem Lärm hier hatte er nicht gerechnet, hier war es nicht wie in einem Krankenhaus. Hier war es wie im Irrenhaus.
Die Menschen versuchten mit allen Mitteln, auf sich aufmerksam zu machen, ein bisschen Zuwendung zu erhalten, aus ihrer Einsamkeit herauszukommen. Sie jammerten laut, schimpften, schrieen, beschmierten Wände mit ihren Exkrementen, riefen nicht selten: „Schwester, helfen sie mir, ich kann nicht mehr, ich möchte sterben.“
Keine Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen, ihnen das Leben lebenswert zu machen.
Ab und zu kam eine Beschäftigungstherapeutin, da wurden Heimbewohnerinnen zu sinnlosen Arbeiten angehalten, sie nahmen nur teil, um nicht ganz so einsam zu sein.
Die Eskimos setzen ihre Alten aus, die Indianer gehen zum Sterben in die Einsamkeit, hatte er einmal gelesen. Wir sperren alte Menschen ein, geben ihnen Zeit, mit der sie nichts anfangen können und halten sie solange am Leben, wie es nur geht. Sie werden entsorgt, statt versorgt................, dachte er.
Er fühlte sich alleingelassen, abgeschoben, Besuch kam immer seltener. Er hatte keine Freunde und konnte mit niemanden reden.
Er hatte Zeit, Zeit wofür?
Er fühlte sich bevormundet, hatte versucht mit dem Leiter des Pflegeheims zu sprechen, aber der hatte auch keine Zeit.
Neu beginnen müsste man können, aber das kann man nur an dem Punkt, an dem man gerade jetzt eben ist, dachte er.
Neu zu beginnen, hieß weiter machen für ihn.
Raus wollte er hier, nichts wie raus, raus aus der Bevormundung, raus aus allem. Er war ein Gefesselter, ein Behinderter, war schwach, konnte nur noch sehr langsam gehen, ja, aber geistig klar war er noch.
Einmal hatte eine Pflegerin ihm einen Rollstuhl gebracht, er könne sich dann schneller bewegen, hatte sie gemeint.
Warum schneller, hatte er sie gefragt, er habe doch Zeit.
Sie aber nicht, hatte sie gesagt.
So hatte er sich das früher nicht vorgestellt.
Er hatte gedacht, er müsste vorsorgen, damit er nicht eines Tages im Bett läge, vielleicht im Koma, dass er nicht eine Last für sich und andere wäre.
Jetzt war er hier in einem Zweibettzimmer untergebracht, lebte noch, würde bald nur noch mit Windeln im Bett liegen, künstlich ernährt werden.
Das würde Zeit einsparen.
Kein Mensch kümmerte sich um ihn, auch seine Kinder nicht. Sie kamen selten und wenn sie kamen, gingen sie bald wieder, so schnell sie konnten, verließen den Geruch von Urin und Putzmitteln, der hier herrschte.
Nach mehreren Wochen kam sein Sohn eines Abends alleine, hatte eine Aktentasche in der Hand.
Er war über den Besuch überrascht, hatte Georg längere Zeit nicht gesehen.
„Hallo, Papa, wie geht’s?“, fragte er.
„Ganz gut“, log er.
„Ich konnte nicht früher kommen, musste länger arbeiten. Wie gefällt es dir denn hier, hast du dich langsam eingewöhnt?“
„Ja, ja, das geht schon.“
Er dachte, dass sein Sohn und seine Tochter vor acht Wochen von einer Übergangslösung gesprochen hatten, der Aufenthalt im Altersheim würde nur kurze Zeit dauern, dann würde er bei seinem Sohn wohnen. Immer wieder hatte er seinen Sohn gefragt, wann er denn endlich zu ihm ziehen würde. Ausweichend geantwortet hatte er, ihn vertröstet.
Bei den letzten Besuchen hatte niemand mehr davon gesprochen, und er hatte gedacht, dass es besser sei, nicht weiter zu drängen, hatte geahnt, dass eine ehrliche Antwort, ihn ärmer zurückgelassen würde.
Seine Hände zitterten, er schaute auf den Tisch.
„Ja, wir haben alles noch einmal genau überlegt, hier bist du doch am besten aufgehoben, hast ein schönes Zimmer, ein Doppelzimmer, kannst dich unterhalten, bist nicht alleine und wirst gut betreut. So schön hättest du es bei uns nicht. Ich arbeite den ganzen Tag, komme spät heim, bin auch oft tagelang unterwegs, Geschäftsreisen.
Meine Frau muss sich um die Kinder kümmern, hat dann noch ihren Fitness-Kurs, hat also auch wenig Zeit. Die Wohnung von deiner Tochter Erika ist viel zu klein, sie hat auch gerade Theater mit ihrem Ehemann.“
„Ja, du hast schon recht“, sagte er, dachte aber, dass er nun endgültig abgeschoben wurde. Das hatte er sich einmal anders vorgestellt, ganz anders.
Georg machte seine Aktentasche auf.
„Hier habe ich einige Papiere dabei, die müsstest du unterschreiben.“
„Um was handelt es sich?“
„Wir haben gedacht, dass du ja nun in diesem Heim bleiben wirst. Das Haus, ja das Haus könnten wir dann verkaufen, das steht nur rum. Es müsste auch renoviert werden. Ich könnte einen guten Preis dafür erzielen, die Gelegenheit ist also günstig. Da sollte man auch nicht zu lange warten, die Preise für Immobilien könnten wieder sinken. Und du brauchst ja jetzt das Haus nicht mehr. Ich habe schon alles geregelt.“
Sein Sohn hatte immer schneller gesprochen und seine Hände geknetet, war aufgestanden und hatte sich wieder hingesetzt. Fast sah es so aus, als wenn er sich selber mit seinen Argumenten überzeugen wollte. Nicht ein einziges Mal schaute er ihn an.
Er holte aus seiner Aktentasche einige Papiere, legte sie vor ihm hin, einen Kugelschreiber daneben.
Das Haus verkaufen, dachte er, das Haus in dem er und seine Frau so viele Jahre gewohnt hatten, das sie beide geplant hatten, eingerichtet hatten, das Haus, in dem seine Kinder aufgewachsen waren, wo sie gespielt hatten.
Er erinnerte sich an Treffen mit Freunden, an endlose Diskussionen, an gutes Essen und guten Wein.
Alles geregelt hatte er schon, hatte sein Sohn gesagt.
Er hatte immer noch ein wenig gehofft, eines Tages wieder zurückkehren zu können, in seinem Haus wollte er seine Lebenszeit beenden, so hatte er sich das vorgestellt.
Auf einmal war er sehr müde, nahm den Kugelschreiber und unterschrieb den Verkauf.
„Ich bin heute ziemlich müde“, sagte er, „werde mich gleich hinlegen.“
Er schaute immer noch auf den Tisch, vermied es, seinen Sohn anzusehen.
„Ja, ich muss auch gleich wieder los, muss noch einmal ins Geschäft.“
Sein Sohn konnte wohl nicht schnell genug wegkommen, dachte er. Er schaute ihm hinterher, als er hinausging. Er drehte sich nicht noch ein Mal um.
Mühsam humpelte er in sein Zimmer, zog sich aus und legte sich ins Bett.
Es war soweit, er würde gehen. Sein Zimmernachbar schlief und schnarchte wie immer, er schlief jetzt fast immer, auch am Tag, belästigte das Personal nicht, die Klingel hatten sie ihm abgebaut.
Der Mond schien ins Zimmer.
Er richtete sich im Bett auf, stützte sich ab und rutschte heraus. Nun stand er neben dem Bett, hielt sich am Nachttisch fest.
Kleine Schritte zum Schrank. Er holte Unterhose, ein Hemd und eine Hose raus. Socken brauchte er nicht, konnte sie sich nicht alleine anziehen.
Er bewegte sich mühsam zum Bett zurück, stützte sich, zog sich an, alles sehr langsam, immer wieder musste er sich ausruhen. Er hatte Zeit.
Die Schuhe standen neben dem Bett, er schlüpfte hinein, sie zuzubinden versuchte er gar nicht.
Es regnete leicht, nieselte, die Tropfen rannen an der Fensterscheibe herunter wie Tränen.
Der Vogel war nicht da, schaute ihn nicht an, niemand schaute ihn an. Er war allein.
Auf den Stuhl musste er jetzt steigen, hielt sich an der Lehne fest.
Es gelang ihm ein Knie auf den Stuhl vor dem Fenster zu bringen. Er musste erst eine Pause machen, brachte dann auch das zweite Knie auf den Stuhl.
Er schwitzte, etwas schwindlig war ihm, noch einmal nahm er alle restlichen Kräfte zusammen, zog sich an der Lehne hoch, dann stand er schwankend auf dem Stuhl und öffnete das Fenster, Regen lief über sein Gesicht.
Alles ging plötzlich so leicht.