Marcus Richter
Mitglied
Ernte 21
Irgendwie und vor allem irgendwann, das muss man der Sache definitiv voraus schicken, wenn man sich auf den ganzen Irrsinn einlassen will; also irgendwie hatte Reemtsma aufgehört zu rauchen.
Das fiel ihm beim Frühstück auf, oben auf der Dufourspitze, in seinem Apartment. Das hieß Tautstube und das ganze Areal drumherum, irgendwie hintersinnig, das Sterne-Welten-Schlaf. Über die Bergrücken des Monte Rosa zog sich eine gläserne Kette aneinandergereihter Kristallpaläste, die in der Morgensonne funkelten. Man musste eine Sonnenbrille tragen, den ganzen Tag über, und man sah das Licht, das sich in den Glashäusern spiegelte, bis runter ins Tessin und natürlich von den Höhen des Zermatt. Von dort wirkte die alpine Architektur wie eine Halskette, die sich das Bergmassiv größenwahnsinnig umgelegt hatte.
Alles hier war, nicht nur in gewisser Weise, weit entfernt von Raum und Zeit und Reemtsma hatte sich, eingedenk dieser Tatsache, einen Schriftzug über seinem Schreibtisch in die Wand eingravieren lassen.
Da stand: „Wir müssen immer das Unerreichbare kennen und wollen, wenn das Erreichbare gelingen soll. Bruno Taut". Und immer, wenn er dort hinauf blickte, wenn er in gewisser Weise über sein "anderes" Leben nachdachte, ein Leben in dem das Unerreichbare gleichbedeutend mit seinem Gegenteil war,
dann flüsterte er die Worte wie einen Zauberspruch, der die Welt im Innersten zusammen halten sollte.
Reemtsma hatte also aufgehört zu rauchen. Das war ihm klar, als er bemerkte, dass der silberne Aschenbecher im Sortiment der Frühstücksutensilien fehlte. Seine Finger tasteten nach der Einnahme der künstlich generierten Morgenmahlzeit nicht automatisch nach dem Feuerzeug und sein Blick hastete auch nicht wie gewöhnlich über das breite Werbebanner über der Zigarettenschachtel: „Ein Erntemann lebt länger“.
Das war natürlich Unsinn, oder besser, es verschleierte die Wahrheit ein wenig und Reemtsma wusste ziemlich genau, wovon er sprach. Schließlich war er inzwischen wohl der älteste Mann der Welt und sein Gesicht hätte aussehen müssen wie ein verschrumpelter Apfel, in dem sich die Maden suhlten. Wie viele Jahre vergangen waren, seit er sich auf das Experiment eingelassen hatte, wusste er nicht. Aber er wusste, dass es unumgänglich gewesen war, und er wusste es deshalb, weil er seinen Ärzten genug Geld dafür bezahlt hatte, damit sie es wussten und es ihm sagen konnten, bevor ihm seine Lungen endgültig um die Ohren flogen.
Alles ist letzten Endes nichts weiter als ein Traum, hatten sie ihm gesagt. Nein, besser als ein Traum, weil er alles kontrollieren konnte, generieren und weil es nichts gab, das hier unmöglich war, in dieser Kiste aus Eis, in die er sich manchmal hineinträumte, um sich ein Gefühl davon zu geben, wie es in der wirklichen Welt um ihn bestellt war.
Die Kryokammer funktionierte offensichtlich ganz ausgezeichnet.
Wenn ihm die Lust nach Sex stand, dann ging die Tür auf und Audrey Hepburn trollte sich als Holly Golightly in einem Traum aus weißer Seide herein.
„Baby, wir müssen miteinander reden“, sagte sie immer und rauchte ihm was von der Konkurrenz vor; was ihn immer ganz wild machte. Vor allem, wenn Truman dann Photos von ihnen schoss. Auf seine schwule Art machte das die Sache immer irgendwie zu einer sexy Angelegenheit.
Was es jedoch wirklich hieß, in einem Traum zu leben, das erfuhr man erst, wenn man einmal in einem Ohrensessel auf einem der Saturnringe Platz nahm und kreisrunde Qualmwolken in die Unendlichkeit blies. Oder man ließ sich mal ordentlich durch ein Wurmloch durchpfeifen und kam am anderen Ende im Universum von Winston Churchill heraus, in dem quasi alles aus Qualm und Rauch bestand. Bei einer Sternenexplosion war alles Grau in Grau. Und man trieb so eine Weile dahin und musste sich nicht mal eine anstecken. Passivrauchen war hier so etwas Normales, wie anderswo die Schwerkraft oder ein Apfel an einem Apfelbaum.
Eigentlich hätte es ewig so weitergehen können. Man glaubt gar nicht, was einem alles so in den Sinn kommt, wenn man eine halbe Ewigkeit einen Klartraum hat! Zuerst einmal will man Gott sein, mit seinem Rauschebart und so weiter. Dann macht man sich selbst zur Frau, denkt an Alanis Morissette und stellt sich vor, wie es ist, Alanis und Gott gleichzeitig zu sein. Bis einem bewußt wird, dass man Gott per Definition ist und dass das wohl das langweiligste Spiel ist, auf das man sich einlassen konnte.
Nichts ist so lächerlich, dass man es nicht mal ausprobiert.
Und während dieser ganzen Zeit hat Reemtsma geraucht. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, damit aufzuhören. Schließlich rauchte er ja nicht wirklich. Jedenfalls, wenn die Ärzte Recht hatten. Alles geschah nur in seinem Kopf, in den paar Milliarden Zellen, die sie künstlich am Leben erhielten und die nicht in der eisigen Umklammerung des kryonischen Eises gefangen waren. Eine Spielwiese, halb so groß wie das ganze Universum und durch die ganzen möglichen Verschaltungen etwa doppelt so groß, wie alles, was man sich vorstellen kann.
Da blieb also für das Sich-Vorstellen noch eine ganze Menge Platz und man trug auch gewöhnlich keine Zigarettenschachteln mit sich herum, sondern schnippte sie sich einfach her; ohne nachzudenken.
Wie also war es dazu gekommen, dass Reemtsma aufgehört hatte zu rauchen? War es ihm vielleicht zu heiß geworden?
Er rauchte nicht gerne, wenn es ihm zu heiß war. Darum hatte er sich auch hier oben auf dem Monte Rosa sein Hauptdomizil errichtet. War nicht ganz die richtige Temperatur, wenn man sich draußen in vierundeinhalb Kilometer Höhe herumtrieb, aber man konnte das regeln. Es waren so immer siebzehn Grad, bei denen er sich wohl fühlte und so an die drei Schachteln rauchte; so wie früher. Die Hitze sollte also nicht das Problem sein. Außerdem befand er sich ja ohnehin im Kälteschlaf, der eine erhöhte Temperatur von vornherein ausschloss.
Trotzdem wurde ihm plötzlich heiß, als die Morgensonne auf den Frühstücktisch oben auf der Dufourspitze knallte, und er musste mit der Hand die Augen hinter der Sonnenbrille abschirmen, damit ihm das Sonnenlicht nicht die Pupillen aus den Augäpfeln brannte.
Vermutlich hatte er seine Gedanken nicht ganz unter Kontrolle und hatte wegen dieser absurden Vorstellung von unerträglicher Hitze eine zu heiße Welt generiert. Da musste man höllisch aufpassen, damit einem der Mist nicht unter den Fingern wegbrannte. Einmal verschwunden war so eine Traumwelt nicht so schnell zurückzuholen. Man musste ganz von vorn anfangen. Etwa wie Gott; erst Himmel und Erde, Wasser, Pflanzen, Hunde, Margaret Thatcher. Das dauerte so seine Zeit. Und schlussendlich konnte man nie sicher sein, ob das ganze dann wieder so war, wie vorher.
Es kostete eine Menge Arbeit, deshalb erhöhte man die Welttemperatur nicht so einfach auf fünftausend Grad, nur weil einem gerade mal danach war.
Trotzdem dauerte es einige Augenblicke, bis Reemtsma die ansteigende Temperatur unter Kontrolle bekam. Seine Haut aber brannte noch einige Sekunden von der Hitze und das flüssige Eigelb war ungenießbar, weil trocken wie die Wüste Gobi.
Reemtsma seufzte und legte die Plastiklöffel neben den Eierbecher. Eigentlich stand einer Zigarette ja nichts im Wege, dachte er sich. Trotzdem war nun schon einige Zeit vergangen, seit ihm aufgefallen war, dass er aufgehört hatte zu rauchen, und davor lag die unbestimmte Zeit, in der es ihm eben nicht aufgefallen war. Eines war klar, er hatte mit dem Rauchen aufgehört, ohne dass er es bemerkt hatte, und nun würde er nicht einfach wieder damit anfangen, ohne zu wissen, warum und weshalb ihm diese geliebte Gewohnheit verloren gegangen war.
Mit der Hand wischte er sich über die Stirn und seufzte wieder.
Mein Gott, war das heiß!
Und zum ersten Mal bemerkte er, wie ihm der Schweiß von der Stirn lief.
Um genau zu verstehen, in welche Panik es Reemtsma versetzte, als er spürte, wie er die Kontrolle verlor, muss man sich vorstellen, wie es ist, Juniorchef eines Tabakkonzerns zu sein und Erbe einer Jahrhunderte alten Tradition und der damit verbundenen Verantwortung, nur um dann fest zu stellen, dass der Konsum einer gewissen Luxusware für bestimmte Politiker nicht mehr hipp ist und sie einem im Handumdrehen den Hahn abdrehen wollen.
Ohne dass man daran etwas ändern kann! Man fragt sich, ob man schnell einen Umschulungskurs für die Herstellung von Alkoholika machen sollte, ins Waffengeschäft umsatteln oder ähnliches. Die Hände fangen einem an zu zittern, und mit einem Mal ist alles vorbei und man sieht plötzlich genau so dumm aus, wie Reemtsma, der feststellen musste, dass die Temperatur immer schneller anstieg, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte.
Die Glasfassaden in seinem Kristallpalast, oben auf der Dufourspitze, begannen zu dampfen. Ein Kessel, der irgendwo auf einer glühenden Heizplatte stand, begann mit hellem, fröhlichem Ton zu pfeifen. Der Schnee, der sonst so unbeeindruckt von der Sonne auf dem Dach des Kristallpalastes schlummerte, rann als geschmolzenes Nass an der Außenfassade herunter. Alle Heizungen standen auf sechs, obwohl sie niemand aufgedreht hatte, und Reemtsma verbrannte sich in dem Augenblick an seinem silbernen Aschenbecher, als er ihn sich vor sich auf den Küchentisch wünschte.
Mit einem Schnipp war eine Zigarette zwischen seinen Fingern.
Ihm war plötzlich egal, warum er aufgehört hatte zu rauchen. Ihm war heiß; ihm war so elend heiß, dass er glaubte, das Gehirn in seinem Kopf würde anfangen zu kochen.
Scheiße, er brauchte eine Zigarette, bevor ihm der ganze Mist weg brannte. Dann würde er eben eine neue Welt generieren! Eine, in der den ganzen Tag Alaska war. Weg mit der Cote Azur und dem ganzen Mittelmeersonnenscheinmist. Weg mit den Azoren; Bikini, Hawaii, Waikiki – alles weg!
Dafür Eis und Schnee und jede Menge Zigaretten, die er so lange rauchen würde, bis sie ihn 2545 wieder auftauten, um ihm computergenerierte Lungen einzusetzen; oder 3271, dann konnten sie ihm schon mal Lungenflügel aus organischem Gold verpflanzen; 5986, seine Lungen werden auf Proxi Centauri geschmiedet und durch ein künstlich erzeugtes Wurmloch direkt in seinen Brustkorb geschickt…
Alles, was Reemtsma jetzt will, ist eine rauchen, und er hebt die Zigarette zum Mund und muss sie nicht mal anzünden, weil die Temperatur so enorm angestiegen ist, dass sich das Zigarettenpapier von selbst entzündet und der Tabak im selben Augenblick verbrennt, als er sich den Qualm in die kochend heißen Lungen saugt.
Ahhh!
Was für ein Zug!
Als Reemtsma erwacht, ist es dunkel um ihn und erstickend heiß. Sein Kopf schmerzt und seine Lungenflügel brennen. Wo ist er? Etwa in der Kryokammer? Die hatte er sich sonst immer ausgeschlagen mit rotem Samt vorgestellt. Die hier aber sieht anders aus. Irgendwie realer und irgendwie wie ein Grab. Aus seiner Stirn fallen ihm nicht Haare, sondern lange, bunte Drähte ins Gesicht. Und er sieht sie aus seinem Blickfeld gleiten, als er den Deckeln fort stößt und im selben Augenblick die feurige Hitze spürt.
Die Haut, die von einem Rest Kälte noch immer mit schmelzenden Eiskristallen übersät ist, spannt sich im selben Augenblick, und Reemtsma glaubt, er würde in einen Schmelztiegel schauen.
Die Wände der Kryokammer sind kochend heiß. Der Boden flimmert und für einen Augenblick sieht er die Ärzte, die ihn eingefroren haben, als brennendes Fleisch über den Armaturen hängen.
Im selben Moment aber beginnen seine Augen zu kochen und für die wenigen Sekunden, die er noch am Leben ist, konzentriert er sich mit aller Kraft darauf, die Temperatur um ihn herum auf das Normalniveau abzusenken.
Am Ende wünscht er sich nur noch eine letzte Zigarette.
Nachdem die Ozeane zu kochen begannen, hatte Reemtsma in seiner Kryokammer gerade noch sieben Tage, bevor das Notsystem versagte. Er war draußen, bei Winston Churchill und rauchte passiv einen Sternennebel, als die ersten Isolierungen durch schmorten.
Einen Tag später hatte er aufgehört zu rauchen,
ohne dass er es merkte.
Da brannte schon die Atmosphäre…
Irgendwie und vor allem irgendwann, das muss man der Sache definitiv voraus schicken, wenn man sich auf den ganzen Irrsinn einlassen will; also irgendwie hatte Reemtsma aufgehört zu rauchen.
Das fiel ihm beim Frühstück auf, oben auf der Dufourspitze, in seinem Apartment. Das hieß Tautstube und das ganze Areal drumherum, irgendwie hintersinnig, das Sterne-Welten-Schlaf. Über die Bergrücken des Monte Rosa zog sich eine gläserne Kette aneinandergereihter Kristallpaläste, die in der Morgensonne funkelten. Man musste eine Sonnenbrille tragen, den ganzen Tag über, und man sah das Licht, das sich in den Glashäusern spiegelte, bis runter ins Tessin und natürlich von den Höhen des Zermatt. Von dort wirkte die alpine Architektur wie eine Halskette, die sich das Bergmassiv größenwahnsinnig umgelegt hatte.
Alles hier war, nicht nur in gewisser Weise, weit entfernt von Raum und Zeit und Reemtsma hatte sich, eingedenk dieser Tatsache, einen Schriftzug über seinem Schreibtisch in die Wand eingravieren lassen.
Da stand: „Wir müssen immer das Unerreichbare kennen und wollen, wenn das Erreichbare gelingen soll. Bruno Taut". Und immer, wenn er dort hinauf blickte, wenn er in gewisser Weise über sein "anderes" Leben nachdachte, ein Leben in dem das Unerreichbare gleichbedeutend mit seinem Gegenteil war,
dann flüsterte er die Worte wie einen Zauberspruch, der die Welt im Innersten zusammen halten sollte.
Reemtsma hatte also aufgehört zu rauchen. Das war ihm klar, als er bemerkte, dass der silberne Aschenbecher im Sortiment der Frühstücksutensilien fehlte. Seine Finger tasteten nach der Einnahme der künstlich generierten Morgenmahlzeit nicht automatisch nach dem Feuerzeug und sein Blick hastete auch nicht wie gewöhnlich über das breite Werbebanner über der Zigarettenschachtel: „Ein Erntemann lebt länger“.
Das war natürlich Unsinn, oder besser, es verschleierte die Wahrheit ein wenig und Reemtsma wusste ziemlich genau, wovon er sprach. Schließlich war er inzwischen wohl der älteste Mann der Welt und sein Gesicht hätte aussehen müssen wie ein verschrumpelter Apfel, in dem sich die Maden suhlten. Wie viele Jahre vergangen waren, seit er sich auf das Experiment eingelassen hatte, wusste er nicht. Aber er wusste, dass es unumgänglich gewesen war, und er wusste es deshalb, weil er seinen Ärzten genug Geld dafür bezahlt hatte, damit sie es wussten und es ihm sagen konnten, bevor ihm seine Lungen endgültig um die Ohren flogen.
Alles ist letzten Endes nichts weiter als ein Traum, hatten sie ihm gesagt. Nein, besser als ein Traum, weil er alles kontrollieren konnte, generieren und weil es nichts gab, das hier unmöglich war, in dieser Kiste aus Eis, in die er sich manchmal hineinträumte, um sich ein Gefühl davon zu geben, wie es in der wirklichen Welt um ihn bestellt war.
Die Kryokammer funktionierte offensichtlich ganz ausgezeichnet.
Wenn ihm die Lust nach Sex stand, dann ging die Tür auf und Audrey Hepburn trollte sich als Holly Golightly in einem Traum aus weißer Seide herein.
„Baby, wir müssen miteinander reden“, sagte sie immer und rauchte ihm was von der Konkurrenz vor; was ihn immer ganz wild machte. Vor allem, wenn Truman dann Photos von ihnen schoss. Auf seine schwule Art machte das die Sache immer irgendwie zu einer sexy Angelegenheit.
Was es jedoch wirklich hieß, in einem Traum zu leben, das erfuhr man erst, wenn man einmal in einem Ohrensessel auf einem der Saturnringe Platz nahm und kreisrunde Qualmwolken in die Unendlichkeit blies. Oder man ließ sich mal ordentlich durch ein Wurmloch durchpfeifen und kam am anderen Ende im Universum von Winston Churchill heraus, in dem quasi alles aus Qualm und Rauch bestand. Bei einer Sternenexplosion war alles Grau in Grau. Und man trieb so eine Weile dahin und musste sich nicht mal eine anstecken. Passivrauchen war hier so etwas Normales, wie anderswo die Schwerkraft oder ein Apfel an einem Apfelbaum.
Eigentlich hätte es ewig so weitergehen können. Man glaubt gar nicht, was einem alles so in den Sinn kommt, wenn man eine halbe Ewigkeit einen Klartraum hat! Zuerst einmal will man Gott sein, mit seinem Rauschebart und so weiter. Dann macht man sich selbst zur Frau, denkt an Alanis Morissette und stellt sich vor, wie es ist, Alanis und Gott gleichzeitig zu sein. Bis einem bewußt wird, dass man Gott per Definition ist und dass das wohl das langweiligste Spiel ist, auf das man sich einlassen konnte.
Nichts ist so lächerlich, dass man es nicht mal ausprobiert.
Und während dieser ganzen Zeit hat Reemtsma geraucht. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, damit aufzuhören. Schließlich rauchte er ja nicht wirklich. Jedenfalls, wenn die Ärzte Recht hatten. Alles geschah nur in seinem Kopf, in den paar Milliarden Zellen, die sie künstlich am Leben erhielten und die nicht in der eisigen Umklammerung des kryonischen Eises gefangen waren. Eine Spielwiese, halb so groß wie das ganze Universum und durch die ganzen möglichen Verschaltungen etwa doppelt so groß, wie alles, was man sich vorstellen kann.
Da blieb also für das Sich-Vorstellen noch eine ganze Menge Platz und man trug auch gewöhnlich keine Zigarettenschachteln mit sich herum, sondern schnippte sie sich einfach her; ohne nachzudenken.
Wie also war es dazu gekommen, dass Reemtsma aufgehört hatte zu rauchen? War es ihm vielleicht zu heiß geworden?
Er rauchte nicht gerne, wenn es ihm zu heiß war. Darum hatte er sich auch hier oben auf dem Monte Rosa sein Hauptdomizil errichtet. War nicht ganz die richtige Temperatur, wenn man sich draußen in vierundeinhalb Kilometer Höhe herumtrieb, aber man konnte das regeln. Es waren so immer siebzehn Grad, bei denen er sich wohl fühlte und so an die drei Schachteln rauchte; so wie früher. Die Hitze sollte also nicht das Problem sein. Außerdem befand er sich ja ohnehin im Kälteschlaf, der eine erhöhte Temperatur von vornherein ausschloss.
Trotzdem wurde ihm plötzlich heiß, als die Morgensonne auf den Frühstücktisch oben auf der Dufourspitze knallte, und er musste mit der Hand die Augen hinter der Sonnenbrille abschirmen, damit ihm das Sonnenlicht nicht die Pupillen aus den Augäpfeln brannte.
Vermutlich hatte er seine Gedanken nicht ganz unter Kontrolle und hatte wegen dieser absurden Vorstellung von unerträglicher Hitze eine zu heiße Welt generiert. Da musste man höllisch aufpassen, damit einem der Mist nicht unter den Fingern wegbrannte. Einmal verschwunden war so eine Traumwelt nicht so schnell zurückzuholen. Man musste ganz von vorn anfangen. Etwa wie Gott; erst Himmel und Erde, Wasser, Pflanzen, Hunde, Margaret Thatcher. Das dauerte so seine Zeit. Und schlussendlich konnte man nie sicher sein, ob das ganze dann wieder so war, wie vorher.
Es kostete eine Menge Arbeit, deshalb erhöhte man die Welttemperatur nicht so einfach auf fünftausend Grad, nur weil einem gerade mal danach war.
Trotzdem dauerte es einige Augenblicke, bis Reemtsma die ansteigende Temperatur unter Kontrolle bekam. Seine Haut aber brannte noch einige Sekunden von der Hitze und das flüssige Eigelb war ungenießbar, weil trocken wie die Wüste Gobi.
Reemtsma seufzte und legte die Plastiklöffel neben den Eierbecher. Eigentlich stand einer Zigarette ja nichts im Wege, dachte er sich. Trotzdem war nun schon einige Zeit vergangen, seit ihm aufgefallen war, dass er aufgehört hatte zu rauchen, und davor lag die unbestimmte Zeit, in der es ihm eben nicht aufgefallen war. Eines war klar, er hatte mit dem Rauchen aufgehört, ohne dass er es bemerkt hatte, und nun würde er nicht einfach wieder damit anfangen, ohne zu wissen, warum und weshalb ihm diese geliebte Gewohnheit verloren gegangen war.
Mit der Hand wischte er sich über die Stirn und seufzte wieder.
Mein Gott, war das heiß!
Und zum ersten Mal bemerkte er, wie ihm der Schweiß von der Stirn lief.
Um genau zu verstehen, in welche Panik es Reemtsma versetzte, als er spürte, wie er die Kontrolle verlor, muss man sich vorstellen, wie es ist, Juniorchef eines Tabakkonzerns zu sein und Erbe einer Jahrhunderte alten Tradition und der damit verbundenen Verantwortung, nur um dann fest zu stellen, dass der Konsum einer gewissen Luxusware für bestimmte Politiker nicht mehr hipp ist und sie einem im Handumdrehen den Hahn abdrehen wollen.
Ohne dass man daran etwas ändern kann! Man fragt sich, ob man schnell einen Umschulungskurs für die Herstellung von Alkoholika machen sollte, ins Waffengeschäft umsatteln oder ähnliches. Die Hände fangen einem an zu zittern, und mit einem Mal ist alles vorbei und man sieht plötzlich genau so dumm aus, wie Reemtsma, der feststellen musste, dass die Temperatur immer schneller anstieg, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte.
Die Glasfassaden in seinem Kristallpalast, oben auf der Dufourspitze, begannen zu dampfen. Ein Kessel, der irgendwo auf einer glühenden Heizplatte stand, begann mit hellem, fröhlichem Ton zu pfeifen. Der Schnee, der sonst so unbeeindruckt von der Sonne auf dem Dach des Kristallpalastes schlummerte, rann als geschmolzenes Nass an der Außenfassade herunter. Alle Heizungen standen auf sechs, obwohl sie niemand aufgedreht hatte, und Reemtsma verbrannte sich in dem Augenblick an seinem silbernen Aschenbecher, als er ihn sich vor sich auf den Küchentisch wünschte.
Mit einem Schnipp war eine Zigarette zwischen seinen Fingern.
Ihm war plötzlich egal, warum er aufgehört hatte zu rauchen. Ihm war heiß; ihm war so elend heiß, dass er glaubte, das Gehirn in seinem Kopf würde anfangen zu kochen.
Scheiße, er brauchte eine Zigarette, bevor ihm der ganze Mist weg brannte. Dann würde er eben eine neue Welt generieren! Eine, in der den ganzen Tag Alaska war. Weg mit der Cote Azur und dem ganzen Mittelmeersonnenscheinmist. Weg mit den Azoren; Bikini, Hawaii, Waikiki – alles weg!
Dafür Eis und Schnee und jede Menge Zigaretten, die er so lange rauchen würde, bis sie ihn 2545 wieder auftauten, um ihm computergenerierte Lungen einzusetzen; oder 3271, dann konnten sie ihm schon mal Lungenflügel aus organischem Gold verpflanzen; 5986, seine Lungen werden auf Proxi Centauri geschmiedet und durch ein künstlich erzeugtes Wurmloch direkt in seinen Brustkorb geschickt…
Alles, was Reemtsma jetzt will, ist eine rauchen, und er hebt die Zigarette zum Mund und muss sie nicht mal anzünden, weil die Temperatur so enorm angestiegen ist, dass sich das Zigarettenpapier von selbst entzündet und der Tabak im selben Augenblick verbrennt, als er sich den Qualm in die kochend heißen Lungen saugt.
Ahhh!
Was für ein Zug!
Als Reemtsma erwacht, ist es dunkel um ihn und erstickend heiß. Sein Kopf schmerzt und seine Lungenflügel brennen. Wo ist er? Etwa in der Kryokammer? Die hatte er sich sonst immer ausgeschlagen mit rotem Samt vorgestellt. Die hier aber sieht anders aus. Irgendwie realer und irgendwie wie ein Grab. Aus seiner Stirn fallen ihm nicht Haare, sondern lange, bunte Drähte ins Gesicht. Und er sieht sie aus seinem Blickfeld gleiten, als er den Deckeln fort stößt und im selben Augenblick die feurige Hitze spürt.
Die Haut, die von einem Rest Kälte noch immer mit schmelzenden Eiskristallen übersät ist, spannt sich im selben Augenblick, und Reemtsma glaubt, er würde in einen Schmelztiegel schauen.
Die Wände der Kryokammer sind kochend heiß. Der Boden flimmert und für einen Augenblick sieht er die Ärzte, die ihn eingefroren haben, als brennendes Fleisch über den Armaturen hängen.
Im selben Moment aber beginnen seine Augen zu kochen und für die wenigen Sekunden, die er noch am Leben ist, konzentriert er sich mit aller Kraft darauf, die Temperatur um ihn herum auf das Normalniveau abzusenken.
Am Ende wünscht er sich nur noch eine letzte Zigarette.
Nachdem die Ozeane zu kochen begannen, hatte Reemtsma in seiner Kryokammer gerade noch sieben Tage, bevor das Notsystem versagte. Er war draußen, bei Winston Churchill und rauchte passiv einen Sternennebel, als die ersten Isolierungen durch schmorten.
Einen Tag später hatte er aufgehört zu rauchen,
ohne dass er es merkte.
Da brannte schon die Atmosphäre…