Es ist Zeit mein Liebes.

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Benn

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Gedankenverloren saß sie am Küchentisch. Ihr Blick wanderte verträumt durch das Fenster. Hinüber zur alten Weide, die an der Flussbiegung ihre dicken Wurzeln weit ins rauschende, lebendige Wasser schob. Im breiten Schatten des knorrigen Baumes küsste sich leidenschaftlich ein Liebespaar.
»Ja, ja, die jungen Leute.«
»Was hast du gesagt?«, fragte ihr Mann, der ihr gegenüber am Küchentisch saß. Dabei ließ er die Zeitung sinken und schaltete sein Hörgerät ein.
»Sag mir. Liebst du mich noch?« Wollte sie wissen.
»Natürlich liebe ich dich noch«, entgegnete er und dabei legte er die Zeitung zur Seite.
»Nach all den Jahren? Genauso wie früher?«
»Wie früher mein Liebes, nur anders.«
»Wie meinst du das?«
»In den stürmischen Jahren unserer Jugend haben wir unsere Individualität gelebt. Früher waren wir zwei Seelen, mein Liebes.«
»Und heute?«
»Heute sind wir eins«, flüsterte er, beugte sich vor und berührte zärtlich ihre knochige Hand, die ihn an Raben Füße erinnerte.
"Weißt du noch, wie wir zueinander fanden?", wollte sie mit zitternder Stimme wissen. Ihre Augen glichen wässrig blauen Glasmurmeln und lagen tief zurückgezogen in ihren Höhlen. Doch musterten sie ihn mit ehrlicher Neugier.
»Aber ja, mein Liebes. Es war im Winter während des Krieges. Ich sah dich am Marktplatz unter all den vielen Leuten und mein Herz schlug schneller. Du warst so blass und zart, wie mein Atemnebel und mich überkam die Sorge, du könntest genauso schnell wie dieser vergehen. Dann spaltete das Heulen der Sirenen die Winterluft. Ungefragt ergriff ich deine Hand. Dann suchten wir Schutz vor der mörderischen Fracht der anrückenden Bomber, in einem nahen Keller, der mit Menschen vollgestopft war.
Wir drängten uns dazwischen.
Du hast dich an mich gepresst, als die Bomben wütend und brüllend die Erde durchwühlten, um uns zu finden. Eingeklemmt in den vor Todesangst weinenden und schwitzenden Menschenleibern spürte ich deinen zerbrechlichen Körper zittern und nahm dich beschützend in meine Arme.«
»Von diesem Augenblick an warst du mein Held.«
»Ich wäre beinahe ohnmächtig geworden vor Furcht. Mein Liebes«, sagte er und sah beschämt auf den Boden.
»Das hast du mir nie gesagt.«
»Natürlich nicht mein Liebes. Ich hatte Angst, ich sei dir nicht gut genug und du könntest mich verlassen.«
»Du warst immer der Kapitän in unserer Familie und gabst das Ziel an.«
»Aber du, mein Liebes, warst der Steuermann und fandest den Weg.«
Dabei fing er an, ihre kalte Hand zu streicheln und sah ihr wieder ins Gesicht. Ihre Falten sind wie Lebensringe in einem Baum und diese erzählen ihre eigene Geschichte, dachte er.
»Du weißt, ich will kein Mitleid«, sagte sie energisch und entzog ihm ihre Hand. Dann legte sie ihre Perücke auf den Tisch und reib sich ihre kahle Kopfhaut, die über dem Ohr wund gekratzt war.
»Ich weiß, mein Liebes«, flüsterte er. Und in seinen feuchten Augen spiegelte sich die Sonne.
»Schade, sie sind weg«, sagte sie.
»Wer ist weg?«, fragte er und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Na, das Pärchen. Sie waren so jung und so verliebt wie wir damals« und dabei beugte sie sich über den Tisch, um dem Fenster näher zu sein, und zog die Jalousien herab.
Der alte Mann sah traurig auf ihre flache Bluse und dachte. Einst waren ihre Brüste lebensspendend und gesund. Drei Kinder hatten sie gesäugt. Und heute gleichen sie leeren Weinschläuchen. Verdorrt und ausgesogen von Metastasen, die sich gierig wie wachsende Föten an ihrem Körper labten. Nicht um geboren zu werden, sondern um zu zerstören.
Die Frau wandte sich wieder ihm zu. Ihre Haut über den Wangenknochen schimmerte gelb. Ihre Lippen, spröde und rissig wie zerknülltes Pergamentpapier, formten ein Wort, aber er hörte es nicht. Zu sehr war er in Gedanken.
Sein Blick heftete sich auf die alte Fotografie, die neben der Küchenuhr an der Wand hing.
Hübsch war sie. Er war stolz auf seine Frau. Mit dem Kleinen auf dem Arm. Damals waren sie eben eingezogen in ihr neues Heim, als die Fotografie entstand. Dann folgten glückliche und unbeschwerte Zeiten.
Musste man für sein Glück bezahlen?
Werden die Lebensjahre voller Glück vom Schicksal am Lebensende hochgerechnet und muss dann der Überschuss an Glück, den man im Leben erfahren hatte, zum Schluss mit Leid wieder ausgleichen werden? Oder umgekehrt?
Ihm wurde schwindelig bei dieser Vorstellung und er rieb sich die Stirn.
»Was hast du gesagt?«, fragte er sie erschrocken, mit der Angst etwas Wichtiges überhört zu haben.
Aber sie saß nur schweigend da und presste sich ein Papiertaschentuch an die Nase, das sich langsam rot färbte.
Eigenartig dachte er. Ihr Blut ist rot. Es ist Dunkelrot. Ihr Rot ist so rot wie das Rot von gesunden Menschen.
Was denke ich nur für ein Schwachsinn, tadelte er sich und stand auf. Er öffnete den Küchenschrank und reichte ihr eine Packung frischer Taschentücher.
»Ich glaube, es ist so weit«, sagte sie, ohne ihn anzuschauen.
Er legte seine Hand auf ihre schmale Schulter. Sie griff danach und umschloss seine zitternden Finger.
»Es ist besser, wenn ich den Arzt rufe«, sagte er.
»Nein. Es gibt für ihn nichts mehr zu tun und Mitleid ertrag’ ich nicht. Was nützen mir leere Worte? Phrasen von tausendmal wiederholten und halbherzig gemeinte Ratschläge. Sind sie nicht stumpf Waffen, hilfloser Menschen, die in tiefer Angst vor ihrem eigenen Schicksal leben?«
»Was soll ich für dich tun! Mein Liebes.«
»Du hast sie doch noch, oder?«
»Ja, mein Liebes. Sie liegt drüben im verborgenen Fach.«
»Dann lass uns ins Schlafzimmer gehen«, sagte sie und erhob sich.
Sie schwankte. Er stützte sie. Wie schwer ihr ausgezehrter Körper dennoch ist, dachte er und legte sie behutsam auf das Bett.
»Mein Herz schlägt immer noch schneller, wenn ich dich berühre«, sagte er und streichelte ihre Stirn.
»Wird es weh tun?«, fragte sie.
»Nein.«
»Ich habe Angst«, sagte sie und schloss ihre Augen.
»Ich auch«, sagte er und erhob sich. Daraufhin öffnete er ein geheimes Fach am Schrank.
Die Armeepistole hatte er damals im Schutt eines brennenden Hauses gefunden, während sie den Keller nach dem Bombenangriff wieder verlassen hatten. Gedankenlos hatte er sie eingesteckt. Er konnte damals nicht ahnen, dass sie in seinem Leben das Letzte sein würde, das er in der Hand halten sollte.
»Es wird Zeit, das Steuerrad unseres Lebensschiffes loszulassen. Wir brauchen kein Ziel mehr, mein Liebes«, sagte er.
»Wie glücklich sie waren, das junge Liebespaar«, sagte sie und lächelnde ihm zu. Doch er sah nur die Bewegung ihrer Lippen und hörte die Worte nicht mehr. Ihre Stimme war zu kraftlos geworden.
Nur die Abendsonne war Zeuge, was nun geschah und sie schwieg. Sachte ließ sie ihr Abendrot flach durch die Jalousien gleiten und zerschnitt das Geschehene in lange Streifen.
 

petrasmiles

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Lieber Benn,

die letzten beiden Sätze sind großartige Poesie und bilden einen würdigen Abschluss einer zarten Liebesgeschichte.

Für meinen Geschmack sagt er zu oft 'mein Liebes', auch, wenn es ein anhaltender Dialog ist - hier zum Beispiel:
»Von diesem Augenblick an warst du mein Held.«
»Ich wäre beinahe ohnmächtig geworden vor Furcht. Mein Liebes«, sagte er und sah beschämt auf den Boden.
»Das hast du mir nie gesagt.«
»Natürlich nicht mein Liebes. Ich hatte Angst, ich sei dir nicht gut genug und du könntest mich verlassen.«
»Du warst immer der Kapitän in unserer Familie und gabst das Ziel an.«
»Aber du, mein Liebes, warst der Steuermann und fandest den Weg.«
Sehr schön fand ich den Punkt des Verschmelzens zu einer Seele. Es ist ja das Mysterium einer langjährigen Beziehung, dass das geschehen kann.

Sehr gerne gelesen.

Liebe Grüße
Petra
 

Benn

Mitglied
Vielen Dank für deinen Kommentar. Du hast recht. Mein Liebes kommt zu oft vor. Ich habe den beiden keinen Namen gegeben, weil ich festgestellt habe, dass sich Ehepaare, wenn sie lange verheiratet sind, sich hauptsächlich, mit Kosenamen anreden. Wie z.B. mein Schatz oder Mausi oder so ähnlich. Ja, das Verschmelzen zu einer Seele ist auch nachvollziehbar. Langzeit Verheiratete entwickeln in ihrer Kommunikation eine eigene Sprache, die für Außenstehende ein Geheimnis ist. Nach Jahren wächst eine Vertrautheit und ein tieferes Verstehen für die Bedürfnisse des Anderen. Da braucht es nur wenige, immer wiederkehrende Gesten oder Worte. Manchmal reicht ein Blick oder eine bestimmte Betonung einiger Silben, um sich mitzuteilen. So, jedenfalls, war es bei meinen Großeltern. Ich wünsche dir noch einen schönen Sonntag. Liebe Grüße zurück von Benn.
 



 
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