Ewig währt am längsten

rolarola

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Chronos saß da, sein Blick war starr und leer. Ruhig und gleichmäßig atmete er die Zeit ein und aus. Sein Atem war weder heiß noch kalt, er war einfach nur da. Jeder Hauch suchte sich seinen Ort in der Welt und umhüllte ihn mit dem Mantel der Zeit. Egal was es war, der Mantel saß wie angegossen. Und jedes Mal, wenn er ein Stückchen Zeit einsog, da passte der Mantel plötzlich irgendwo in der Welt nicht mehr, hörte auf zu umhüllen und kehrte zu Chronos zurück um wieder in die Welt geschickt zu werden. Chronos hatte eine wichtige Aufgabe. Der Vorrat an Zeit war nicht unbegrenzt, und ihm oblag die korrekte Verteilung. Er selbst war nicht in der Zeit, er verwaltete sie nur, emotionslos, urteilsfrei und bis in alle Ewigkeit. Er gab der Welt ihre Ordnung, er war die einzige und wahre Zeitmaschine und nichts konnte ihn stören, wenn, ... ja, wenn da nicht sein Bruder gewesen wäre: Kairos.
Der war ganz anders als Chronos. Nichts lag ihm ferner als Ordnung und Plan, Berechnung und Gleichgewicht. Er sorgte in der Welt für den Augenblick, jene Zeit, die weder gemessen, noch als Maß benutzt werden kann. Er handelte nach seinem Gefühl, aus dem Bauch heraus und war ständig in Bewegung. Mal hier, mal dort. Er konnte nicht überall sein, aber da wo er auftauchte, da wurde der Mantel des Chronos kurz an der Garderobe abgegeben. Seltsamerweise erfreute das die Welt, was Chronos überhaupt nicht verstehen konnte.

So begab es sich, als er wieder einmal, wie immer, da saß und gelassen atmete, dass Kairos vorbeispazierte und grinsend bemerkte: „Hallo Bruderherz! Wir haben uns ja Ewigkeiten nicht mehr gesehen, hehe. Was treibst du so?“ Chronos antwortete nicht. „Wie ich sehe, gefällt dir dein Job noch genauso, wie ...äh ... wie eh und je, hihi?“ Aus Chronos’ Richtung war ein leises, kurzes Brummen zu vernehmen. „Du verstehst wohl keinen Spaß, wie? Nach all den Jahren, -zehnten, -tausenden noch immer der alte Brummbär, was?“ Chronos brummte kurz. Kairos schritt langsam um Chronos herum, betrachtete ihn und blieb direkt vor ihm stehen. Die Hand des sitzenden Bruders machte eine Geste des Verschwinden-Sollens, denn Kairos stand dem Zeithauch im Weg. Doch stattdessen begann Kairos von einem Bein auf das anderen zu springen. Dem Hauch wich er dabei geschickt aus. „I-hist ... di-hir schon ... ma-hal der ... Hi-hintern ... ei-heinge ... schla-hafen?“, fragte er hopsend, „Hehe-hehe!“ Chronos begann hin und her zu rutschen. Jetzt, in diesem Augenblick, war ihm so, als spüre er seinen Hintern und als habe Kairos recht. Nur die Ruhe, Chronos, dachte er bei sich, konzentrier dich auf die Zeit. Er beendete seine Bewegung, fand in seine Gelassenheit zurück und vergaß den Zustand seines eh schon wissen. Kairos hatte mit der Hüpferei aufgehört und setzte sich neben seinen Bruder. „Götter, ist das kalt hier! Können wir Platz tauschen? Deinen hast du ja sicher schon angewärmt...“, schlug Kairos vor, „Ich meine, du wirst ja noch länger hier sitzen. Was macht das schon, wenn du ein paar Zentimeter verrückst, hehe?“ Chronos blieb still und wo er war. Eine Zeit lang verhielt sich Kairos ebenso ruhig und starrte in die Welt. Plötzlich sah er etwas, das ihn zu beunruhigen schien. Er begann wild mit den Armen zu fuchteln und schrie: „Chronos! Dort, schau! Ein Loch in der Welt! Die Zeit verrinnt! Du musst was tun!!!“ Der Zeitverwalter wusste nicht, was er machen sollte, war es wieder ein Scherz oder verrann die Zeit tatsächlich? Was wäre, wenn er sich nun darum kümmern müsste, wer würde einstweilen seine Aufgabe übernehmen? Was, wenn er die Ordnung unterbräche, was, was, was...? Sein starrer Blick sah zwar alles aber nichts einzelnes, und so konnte er auch nicht die kleine Ritze im Gefüge erkennen, die Kairos’ sprunghaftem und interessiertem Blick nicht verborgen geblieben war. Kairos wartete die Entscheidung seines Bruders nicht ab, das hätte zu lange dauern können, und entschied augenblicklich. Er sprang auf, stellte sich in den Strom der Zeit, und atmete ein. So stark und so lange, bis er die letzte Sekunde erwischt hatte und die Welt zeitlos geworden war. Kairos hielt die Zeit an, so wie man die Luft anhält (und das konnte er gut und eine lange ..., ja was nun (?), denn er war ein Gott und Nichtraucher), er hielt sich die Nase zu, schloss den Mund und warf einen auffordernden Augenblick zu Chronos. Dieser wusste nicht recht, was er tun sollte. Die Zeit war fort, er war arbeitslos geworden, da erhob er sich zum ersten Mal seit ..., ja, seit wann denn nun? Kairos richtete seinen Finger in Richtung der Ritze, aber Chronos blickte ihn nur verdutzt an. Tja, er war eben auch nur ein Gott und kein Handwerker. Chronos begann nachzudenken und Kairos begann rot zu werden, dann grün und schließlich blau. Da hatte Chronos die rettende Idee (wann er sie hatte, das weiß niemand): Er nahm ein wenig Erde, formte sie zu einer Kugel, holte aus und warf sie zielgenau in die Ritze. Er hätte zwar lieber Kaugummi genommen, aber zur Not... Wie lange das gedauert hat, lässt sich nicht sagen, fest steht bloß, dass er es geschafft hatte, die Ritze zu versiegeln.
Endlich konnte Kairos die Zeit entweichen lassen und blies sie zurück in die Welt. Chronos nahm sofort wieder seinen Platz ein und begann ruhig und gleichmäßig zu atmen. Kairos betrachtete die Kugel in der Ritze aufmerksam und meinte dann: „Chronos, du hast den größten Teil der Ritze wohl verschlossen, aber die Erde schlecht geformt, da ist noch immer ein winziges Loch! Die Zeit verrinnt...“ Chronos zuckte mit den Schultern. Da begann Kairos zu strahlen und sagte ernst: „Und wenn schon! Der einzige Ort, wo die Zeit verrinnt, ist die Erde, und nur so wenig von ihr geht dort verloren, dass es kaum ins Gewicht fällt. Wir stellen die Erde einfach in die Rubrik Sonstiges, so wird die Statistik komplett! Was sagst du dazu?“ Chronos brummte zustimmend. Kairos begann zu lächeln und rief: „So, jetzt muss ich aber wieder los. Werde mal die Erde besuchen, mich ein wenig umsehen und vom Verrinnen ab und zu ablenken! Wir sehen uns ... irgendwann mal, ja!? Hehe.“ Und augenblicklich war er fort.
 



 
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