Der Tag an dem sich meine Mutter zum dritten und letzten Mal in den Schmerzen einer Geburt windet, ist der 16. August des Jahres 1889. Ein guter Jahrgang, sagt mein Vater, denn immerhin gehen in Frankreich und der Welt zu dieser Zeit höchst wichtige Dinge vor sich.
Auf der vierten Weltausstellung in Paris wird der Tour d’Eiffel die große Sensation, gleichzeitig zieht die große Hundertjahrfeier der französischen Revolution merkwürdigerweise eine Menge gekrönter Häupter in unsere Hauptstadt, in der in diesem Jahr auch ein unscheinbarer Nachtklub in der Rue de Moulin eröffnet, während man in London auf der zweiten internationalen Versammlung beschließt, den ersten Mai zum Feiertag der Arbeit zu machen.
Doch als mich die Hebamme windelt und schließlich meinem Vater in die Arme legt, interessiert uns das nicht weiter. Und es soll auch noch mehr als ein Jahrzehnt vergehen, bevor ich Rogér kennenlerne und mich gezwungenermaßen mir solchen politischen Überlegungen belaste. Zunächst einmal bin ich nur Celestine Bellegarde das jüngste der drei Kinder, des angesehenen Weinbauern Maurice Bellegarde und seiner Frau Isabelle und ich bin völlig zufrieden damit.
Unser Dörfchen Sancerre liegt an der Loire, gerade einmal zweihundert Kilometer von Paris entfernt und doch in einer anderen Welt. Und es soll ebenfalls noch eine lange Zeit vergehen, bis ich dies bemerke.
Unser kleiner Gutshof liegt am Rande des Dorfes auf einem ebenfalls kleinen Hügel von dem aus man einen wunderschönen Blick auf die Flußbiegung der Loire hat, die sich, wie ein blauer Faden durch die grünen Hügel zieht, und er wird seit Jahrzehnten von meiner Familie und der unseres Hofmeisters bewirtschaftet. Und daran wird sich auch nichts ändern, denn immerhin hat mein Vater zur Zeit meiner Geburt schon zwei Söhne, die ihm bei der Arbeit helfen und den Hof bei seinesm Tod übernehmen können.
Mein Leben in Sacerre ist so friedlich, wie man es sich nur vorstellen kann, denn welches Kind könnte schon unglücklich sein, wenn es von jedermann nur Sanftmut und Liebe erfährt?
Ironischerweise ist jedoch meine erste wirkliche Kindheitserinnerung ein Streit mit meinem älteren Bruder Richard. Worum wir uns gestritten haben weiß ich zwar nicht mehr, aber Geschwister streiten sich oft, ohne einen Grund dazu zu brauchen.
Es ist ein wunderschöner Tag im März des Jahres 1893 und in den Zweigen der Eichen gegenüber von meinem Fenster sind gerade die ersten Zugvögel eingezogen und streiten lautstark um die besten Brutplätze. Ich freue mich zu diesem Zeitpunkt natürlich schon wahnsinnig auf meinen vierten Geburtstag und stelle jeden Tag neue Theorien darüber auf, welche Geschenke ich dieses Jahr bekommen werde. Ich sitze an meinem Schreibtisch und schreibe einen tappsigen Brief - einen meiner ersten - an meine Freundin Monique, die Tochter von Alfonse und Marie, die zu dieser Zeit gerade mit ihrem Vater und ihrem Bruder Armand bei Vaters Geschäftspartnern in Orleans zu Besuch sind.
Natürlich bin ich in Armand verliebt und gerade deshalb schreibe ich nicht ihm, sondern seiner Schwester, damit er mich noch mehr vermißt, als er es sicherlich sowieso schon tut. Und natürlich damit er nicht bemerkt, wie sehr ich ihn vermisse! Armand ist der einzige Grund, warum ich an diesem Tag nicht draußen bin, um herumzurennen, oder mit meinem Vater auf den Weinbergen spazieren zu gehen. Ohne Armand macht mir dies alles keinen Spaß und so verkrieche ich mich in meiner Höhle und schmolle vor mich hin, weil er nicht Zuhause geblieben ist, oder noch mehr, weil er mich nicht mitgenommen hat. Nicht einmal mein kleiner Filou kann mich aufheitern, obwohl er mit seinen treuen Hundeaugen zu mir aufsieht und traurig seinen weißen Pudelkopf auf meinen Fuß legt, während ich noch schreibe. Und auch der Gedanke an Princesse, mein kleines, goldbraunes Pony, das sicher schon im Stall auf mich wartet kann mich nicht dazu bewegen, endlich aufzustehen und mein Zimmer zu verlassen. Armand gehört dazu und wenn Armand nicht da ist, dann ist dies alles nichts wert.
Er und ich sind schon Freunde solange ich mich erinnern kann, denn er war schon zwei Jahre alt, als ich geboren wurde und seine Familie, die Rigous waren zu dieser Zeit schon lange auf dem Hof meiner Eltern. Er und seine Schwester Monique sind meine ältesten uns besten Freunde und es steht außer Frage, daß ich Armand einmal heiraten werde, wenn ich alt genug bin. Er sagt zwar immer, daß das nicht geht, weil meine Eltern sicherlich einen reichen Mann für mich haben wollen, doch dank unseres Plan wird das bald kein Problem mehr sein. Wir haben uns nämlich vorgenommen sooft es geht in den Wald zu gehen, und dort Fallen zu legen, um ein Einhorn, oder vielleicht eine Elfe darin zu fangen. Die werden wir dann dem Zoo, oder einem Museum verkaufen und von dem Geld werden wir dann leben. Für mich ist dieser Plan so genial, daß ich mich oft frage, warum nicht schon vorher Menschen auf diese Idee gekommen sind. Andererseits könnte es natürlich auch daran liegen, daß viele Menschen so dumm sind, wie meine Brüder Ettienne und Richard. Sie denken nämlich, das es gar keine Elfen und Feen gibt, aber das liegt natürlich nur daran, daß sie wie gesagt dumm sind. Richard kann mit seinen sechs Jahren nicht einmal richtig lesen, jedenfalls nicht so gut, wie ich und Ettienne braucht für eine einfache Additionsaufgabe Stunden, und das, obwohl er schon zehn ist. Außerdem sind sie beide so laut und häßlich, das es nur verständlich ist, das die Elfen vor ihnen davonlaufen. Keiner von ihnen hat die blauen Augen und die blonden Locken von Vater geerbt und dazu das feine Gesicht mit den dichten Wimpern und die schlanke Gestalt von Mutter. Bei ihnen ist es genau umgekehrt. Sie haben Mutters dunkel Augen und ihr schlichtes dunkles Haar und dazu die stämmige Figur von Vater, was ihnen ein völlig gewöhnliches, unscheinbares Aussehen gibt! Sie sind die Spreu und ich der Weizen, das sagt jedenfalls Vater immer, natürlich nur, wenn sie es nicht hören!
Armand hat auch dunkles Haar, genau, wie seine Schwester Monique und sie tragen es beide fast gleich lang und im Nacken zusammen gebunden. Wäre Monique nicht so ungewöhnlich zart, könnte man sie für Zwillinge halten. Armand könnte nie gewöhnlich aussehen, selbst wenn er es versuchte.
Ich schreibe also an Monique, daß sie das schönste Wetter verpaßt, das man sich vorstellen kann und hoffe im Stillen, das es in Orleans nur so stürmt und regnet. Dann steht plötzlich mein Bruder Richard im Zimmer und schreit mit seiner nörgelnden Stimme herum und kann sich gar nicht mehr beruhigen. Ich weiß nicht, um was es geht, denn er stottert und schnieft nur so, das es völlig unmöglich ist, seine Worte auseinander zuhalten.
„Ach halt doch den Mund!“ fahre ich ihn schließlich an, was seine Tränen sofort zum Stillstand bringt. Statt dessen ist er jetzt um so wütender.
„Du dumme Gans! Ich hasse dich!“ brüllt er und stürzt sich auf mich. Er ist nicht viel größer als ich, doch sehr viel schwerer und bekommt außerdem dummerweise einen meiner Zöpfe zu fassen. Ich schreie nicht, denn das wäre weibisch, doch mir schießen die Tränen in die Augen, als er ein großes Büschel Haar ausreißt.
„Kinder, was soll denn das! Aufhören sofort!“
Aimé unsere Kinderfrau stürzt aufgebracht ins Zimmer und reißt Richard von mir fort. Seine Augen blitzten wütend, doch ich habe meine Fassung schon wiedergewonnen. Einer der Vorteile, wenn man ältere Brüder hat.
„Was ist hier los? Richard, schämst du dich nicht, deine jüngere Schwester zu schlagen? Los vertragt euch! Und eure Mutter wird davon erfahren!“
Aimés Fuß tappt ungeduldig auf das helle Parkett des Fußbodens, während sie und mit strengen Blick ansieht. Wenn sie so dreinschaut möchte man gar nicht glauben, daß sich unter der weißen Haube und dem einfachen grauen Kleid ein nicht einmal zwanzigjähriges Mädchen verbirgt. Doch ihrem Befehl ist nicht zu entkommen. Widerwillig und naserümpfend umarmen wir und flüchtig und geben uns einen nachlässigen Kuß auf die Wange. Dann führt Aimé Richard fort und ich kann endlich meinen Tränen freien Lauf lassen und wütend nach der kahlen Stelle auf meiner Kopfhaut tasten.
Zum Diner habe ich diese ganze Geschichte jedoch schon beinahe schon wieder vergessen, so froh bin ich über die neuen Haarschleifen, die mir Vater vom Markt in Sancerre mitgebracht hat. Die ganze Familie ißt zusammen mit den Rigous im großen Salon. Nur Aimé, unsere Köchin Lucille und unser Kutscher Sebastienne essen für sich in der Küche. Der große Salon ist nach allgemeinen Maßstäben gar nicht so groß, das sollte ich schon bald erfahren, doch für mich, ist er damals einfach der gemütlichste Raum, den man sich denken kann. Er hat ein großes Fenster zum Hof hin, das von schweren, roten Vorhängen verschlossen werden kann und an der Längswand hängt eine wundervoller bunter Wandteppich aus der Zeit von Louis seize, der eine Schlacht und viele Engel und Könige zeigt. In der Mitte des Raumes steht der riesige, schwere Tisch, den mein Urgroßvater selbst gezimmert hat. Früher habe ich immer gedacht, man hätte unser Haus um den Tisch herum aufgebaut, denn es schien unmöglich, das dieses Monstrum einmal durch eine winzige Tür gepaßt haben soll. Um den Tisch herum stehen bequeme, gepolsterte Stühle und in jeder freien Ecke des Raumes duften Mamas geliebte Blumen um die Wette. Es gibt eine schmale Tür, die zur Eingangshalle hinführt und eine große, doppelflüglige Tür, die die Küche verbirgt. Und aus dieser Richtung kommen immer mindestens so wunderbare Gerüche, wie die der Blumen.
Ich bin an diesem Tag nicht so ausgehungert, wie sonst, denn schließlich habe ich mich kaum bewegt, von der kleinen Rangelei mit Richard einmal abgesehen. Und weil mich der Hunger nicht so drückt, habe ich mir besondere Mühe gegeben mein Nachmittagskleid nicht zu zerknittern und meine Haare nicht zu zerzausen, wie es sonst immer passiert, wenn ich erst fünf Minuten vor Tisch von draußen hereingestürzt komme und dann nur noch Zeit dazu habe, mein Gesicht zu waschen, bevor ich mich mit erhitzten Wangen zum Tischgebet einfinde. Ich weiß, das Mama sehr betrübt darüber ist, das ihre einzige Tochter sich so wenig aus der feinen Damenhaftigkeit macht, die in ihrer Familie als höchstes Gut gilt, doch trotz des schlechten Gewissens, das mich bei ihren tadelnden Blicken immer wieder beschleicht, kann ich nicht widerstehen, wenn Vater pfeift, um mich in die Berge mitzunehmen. Ich komme viel zu sehr nach ihm, sagt Mama dann immer seufzend, bevor sie wieder zu sticken beginnt.
Mama stammt aus einer vornehmen Familie aus Orleans und hat eigentlich unter Stand geheiratet, als sie mit meinem Vater in die Bourgogne ging. Sie hat mir oft erzählt, das die Wurzeln ihrer Familie viel weiter zurückreichen, als die der meisten anderen Familien Frankreichs und sich außerdem das Blut der Könige in ihr vereinigt, denn einige ihrer Vorfahrinnen waren berühmte Mätressen, wie z.B. La Valiere oder sogar La Pompadour. Natürlich weiß ich damals noch nicht, was eine Mätresse ist, doch ich bemerke wohl die feine Eleganz und Grazie, die meine Mutter von den anderen Frauen im Dorf unterscheidet. Ihre Haut ist weißer, ihre Augen sind sanfter, ihre Stimme melodischer, ihre Haltung anmutiger und ihre Haare seidiger, als die irgendeiner anderen Frau, da bin ich mir sicher. Vater sagt immer, sie sei eine Heilige, doch ich bin mir zu dieser Zeit schon sicher, das sie eine verzauberte Elfe oder Fee sein muß, die nur sterblich wurde, weil sie Vater liebte. Denn das die Ehe meiner Eltern ungewöhnlich glücklich ist steht außer Frage. Sie war das, was man heute eine Liebesheirat nennt und diese waren zu meiner Kinderzeit ebenso ungewöhnlich, wie verpönt. Meine Mutter mußte ihrer Familie mit dem Kloster drohen, bis sie die Erlaubnis erhielt meinen Vater zu heiraten und auch wenn ihre Familie noch immer zu unseren Geschäftspartner gehört, hat sie doch nie wieder mehr als das Nötigste mit ihnen zu tun gehabt. Man munkelt sogar, sie habe ihre Mutter damals verflucht und ihr keine Träne nachgeweint, als sie nur ein Jahr nach der Hochzeit starb. Ich habe derlei jedoch nie geglaubt. Mama ist der reinste Engel und nie könnte man sich denken, das sie etwas tut, das nicht von ihrem guten Herzen zeugt. Außerdem hat sie nie erkennen lassen, das sie ihre Schwestern, oder ihren Vater nicht mit Höflichkeit behandelt hätte. Nur eine winzig kleine Gehässigkeit konnte sie sich nie versagen, denn keine ihrer drei Schwestern hat auch nur ein Kind zur Welt gebracht, während meine Mutter gleich zwei gesunden Söhnen und einem entzückenden Mädchen das Leben geschenkt hatte. Sie sagte immer, das liege nur daran, das sie so glücklich sie und sah unter ihren langen Wimpern bewundernd zu Vater empor, derweil meine Tanten ganz grün um die Nase wurden und die Lippen zusammen kniffen. Doch ihre Worte entsprechen nun einmal der Wahrheit und niemand hätte dies je stärker empfinden können, als ich, die ich als jüngstes Kind und einziges Mädchen ein Übermaß an Liebe von Mama und Papa erfährt, das meine Brüder oftmals vor Eifersucht aufschreien läßt.
So verzeiht mir Mama auch immer, das ich noch nicht so geschliffen bin, wie sie es sich sicher wünscht und ich gebe mir die größte Mühe ihr zumindest manchmal eine Freude zu machen und so sauber und höflich zu sein, wie sie es sich vorstellt.
Auf der vierten Weltausstellung in Paris wird der Tour d’Eiffel die große Sensation, gleichzeitig zieht die große Hundertjahrfeier der französischen Revolution merkwürdigerweise eine Menge gekrönter Häupter in unsere Hauptstadt, in der in diesem Jahr auch ein unscheinbarer Nachtklub in der Rue de Moulin eröffnet, während man in London auf der zweiten internationalen Versammlung beschließt, den ersten Mai zum Feiertag der Arbeit zu machen.
Doch als mich die Hebamme windelt und schließlich meinem Vater in die Arme legt, interessiert uns das nicht weiter. Und es soll auch noch mehr als ein Jahrzehnt vergehen, bevor ich Rogér kennenlerne und mich gezwungenermaßen mir solchen politischen Überlegungen belaste. Zunächst einmal bin ich nur Celestine Bellegarde das jüngste der drei Kinder, des angesehenen Weinbauern Maurice Bellegarde und seiner Frau Isabelle und ich bin völlig zufrieden damit.
Unser Dörfchen Sancerre liegt an der Loire, gerade einmal zweihundert Kilometer von Paris entfernt und doch in einer anderen Welt. Und es soll ebenfalls noch eine lange Zeit vergehen, bis ich dies bemerke.
Unser kleiner Gutshof liegt am Rande des Dorfes auf einem ebenfalls kleinen Hügel von dem aus man einen wunderschönen Blick auf die Flußbiegung der Loire hat, die sich, wie ein blauer Faden durch die grünen Hügel zieht, und er wird seit Jahrzehnten von meiner Familie und der unseres Hofmeisters bewirtschaftet. Und daran wird sich auch nichts ändern, denn immerhin hat mein Vater zur Zeit meiner Geburt schon zwei Söhne, die ihm bei der Arbeit helfen und den Hof bei seinesm Tod übernehmen können.
Mein Leben in Sacerre ist so friedlich, wie man es sich nur vorstellen kann, denn welches Kind könnte schon unglücklich sein, wenn es von jedermann nur Sanftmut und Liebe erfährt?
Ironischerweise ist jedoch meine erste wirkliche Kindheitserinnerung ein Streit mit meinem älteren Bruder Richard. Worum wir uns gestritten haben weiß ich zwar nicht mehr, aber Geschwister streiten sich oft, ohne einen Grund dazu zu brauchen.
Es ist ein wunderschöner Tag im März des Jahres 1893 und in den Zweigen der Eichen gegenüber von meinem Fenster sind gerade die ersten Zugvögel eingezogen und streiten lautstark um die besten Brutplätze. Ich freue mich zu diesem Zeitpunkt natürlich schon wahnsinnig auf meinen vierten Geburtstag und stelle jeden Tag neue Theorien darüber auf, welche Geschenke ich dieses Jahr bekommen werde. Ich sitze an meinem Schreibtisch und schreibe einen tappsigen Brief - einen meiner ersten - an meine Freundin Monique, die Tochter von Alfonse und Marie, die zu dieser Zeit gerade mit ihrem Vater und ihrem Bruder Armand bei Vaters Geschäftspartnern in Orleans zu Besuch sind.
Natürlich bin ich in Armand verliebt und gerade deshalb schreibe ich nicht ihm, sondern seiner Schwester, damit er mich noch mehr vermißt, als er es sicherlich sowieso schon tut. Und natürlich damit er nicht bemerkt, wie sehr ich ihn vermisse! Armand ist der einzige Grund, warum ich an diesem Tag nicht draußen bin, um herumzurennen, oder mit meinem Vater auf den Weinbergen spazieren zu gehen. Ohne Armand macht mir dies alles keinen Spaß und so verkrieche ich mich in meiner Höhle und schmolle vor mich hin, weil er nicht Zuhause geblieben ist, oder noch mehr, weil er mich nicht mitgenommen hat. Nicht einmal mein kleiner Filou kann mich aufheitern, obwohl er mit seinen treuen Hundeaugen zu mir aufsieht und traurig seinen weißen Pudelkopf auf meinen Fuß legt, während ich noch schreibe. Und auch der Gedanke an Princesse, mein kleines, goldbraunes Pony, das sicher schon im Stall auf mich wartet kann mich nicht dazu bewegen, endlich aufzustehen und mein Zimmer zu verlassen. Armand gehört dazu und wenn Armand nicht da ist, dann ist dies alles nichts wert.
Er und ich sind schon Freunde solange ich mich erinnern kann, denn er war schon zwei Jahre alt, als ich geboren wurde und seine Familie, die Rigous waren zu dieser Zeit schon lange auf dem Hof meiner Eltern. Er und seine Schwester Monique sind meine ältesten uns besten Freunde und es steht außer Frage, daß ich Armand einmal heiraten werde, wenn ich alt genug bin. Er sagt zwar immer, daß das nicht geht, weil meine Eltern sicherlich einen reichen Mann für mich haben wollen, doch dank unseres Plan wird das bald kein Problem mehr sein. Wir haben uns nämlich vorgenommen sooft es geht in den Wald zu gehen, und dort Fallen zu legen, um ein Einhorn, oder vielleicht eine Elfe darin zu fangen. Die werden wir dann dem Zoo, oder einem Museum verkaufen und von dem Geld werden wir dann leben. Für mich ist dieser Plan so genial, daß ich mich oft frage, warum nicht schon vorher Menschen auf diese Idee gekommen sind. Andererseits könnte es natürlich auch daran liegen, daß viele Menschen so dumm sind, wie meine Brüder Ettienne und Richard. Sie denken nämlich, das es gar keine Elfen und Feen gibt, aber das liegt natürlich nur daran, daß sie wie gesagt dumm sind. Richard kann mit seinen sechs Jahren nicht einmal richtig lesen, jedenfalls nicht so gut, wie ich und Ettienne braucht für eine einfache Additionsaufgabe Stunden, und das, obwohl er schon zehn ist. Außerdem sind sie beide so laut und häßlich, das es nur verständlich ist, das die Elfen vor ihnen davonlaufen. Keiner von ihnen hat die blauen Augen und die blonden Locken von Vater geerbt und dazu das feine Gesicht mit den dichten Wimpern und die schlanke Gestalt von Mutter. Bei ihnen ist es genau umgekehrt. Sie haben Mutters dunkel Augen und ihr schlichtes dunkles Haar und dazu die stämmige Figur von Vater, was ihnen ein völlig gewöhnliches, unscheinbares Aussehen gibt! Sie sind die Spreu und ich der Weizen, das sagt jedenfalls Vater immer, natürlich nur, wenn sie es nicht hören!
Armand hat auch dunkles Haar, genau, wie seine Schwester Monique und sie tragen es beide fast gleich lang und im Nacken zusammen gebunden. Wäre Monique nicht so ungewöhnlich zart, könnte man sie für Zwillinge halten. Armand könnte nie gewöhnlich aussehen, selbst wenn er es versuchte.
Ich schreibe also an Monique, daß sie das schönste Wetter verpaßt, das man sich vorstellen kann und hoffe im Stillen, das es in Orleans nur so stürmt und regnet. Dann steht plötzlich mein Bruder Richard im Zimmer und schreit mit seiner nörgelnden Stimme herum und kann sich gar nicht mehr beruhigen. Ich weiß nicht, um was es geht, denn er stottert und schnieft nur so, das es völlig unmöglich ist, seine Worte auseinander zuhalten.
„Ach halt doch den Mund!“ fahre ich ihn schließlich an, was seine Tränen sofort zum Stillstand bringt. Statt dessen ist er jetzt um so wütender.
„Du dumme Gans! Ich hasse dich!“ brüllt er und stürzt sich auf mich. Er ist nicht viel größer als ich, doch sehr viel schwerer und bekommt außerdem dummerweise einen meiner Zöpfe zu fassen. Ich schreie nicht, denn das wäre weibisch, doch mir schießen die Tränen in die Augen, als er ein großes Büschel Haar ausreißt.
„Kinder, was soll denn das! Aufhören sofort!“
Aimé unsere Kinderfrau stürzt aufgebracht ins Zimmer und reißt Richard von mir fort. Seine Augen blitzten wütend, doch ich habe meine Fassung schon wiedergewonnen. Einer der Vorteile, wenn man ältere Brüder hat.
„Was ist hier los? Richard, schämst du dich nicht, deine jüngere Schwester zu schlagen? Los vertragt euch! Und eure Mutter wird davon erfahren!“
Aimés Fuß tappt ungeduldig auf das helle Parkett des Fußbodens, während sie und mit strengen Blick ansieht. Wenn sie so dreinschaut möchte man gar nicht glauben, daß sich unter der weißen Haube und dem einfachen grauen Kleid ein nicht einmal zwanzigjähriges Mädchen verbirgt. Doch ihrem Befehl ist nicht zu entkommen. Widerwillig und naserümpfend umarmen wir und flüchtig und geben uns einen nachlässigen Kuß auf die Wange. Dann führt Aimé Richard fort und ich kann endlich meinen Tränen freien Lauf lassen und wütend nach der kahlen Stelle auf meiner Kopfhaut tasten.
Zum Diner habe ich diese ganze Geschichte jedoch schon beinahe schon wieder vergessen, so froh bin ich über die neuen Haarschleifen, die mir Vater vom Markt in Sancerre mitgebracht hat. Die ganze Familie ißt zusammen mit den Rigous im großen Salon. Nur Aimé, unsere Köchin Lucille und unser Kutscher Sebastienne essen für sich in der Küche. Der große Salon ist nach allgemeinen Maßstäben gar nicht so groß, das sollte ich schon bald erfahren, doch für mich, ist er damals einfach der gemütlichste Raum, den man sich denken kann. Er hat ein großes Fenster zum Hof hin, das von schweren, roten Vorhängen verschlossen werden kann und an der Längswand hängt eine wundervoller bunter Wandteppich aus der Zeit von Louis seize, der eine Schlacht und viele Engel und Könige zeigt. In der Mitte des Raumes steht der riesige, schwere Tisch, den mein Urgroßvater selbst gezimmert hat. Früher habe ich immer gedacht, man hätte unser Haus um den Tisch herum aufgebaut, denn es schien unmöglich, das dieses Monstrum einmal durch eine winzige Tür gepaßt haben soll. Um den Tisch herum stehen bequeme, gepolsterte Stühle und in jeder freien Ecke des Raumes duften Mamas geliebte Blumen um die Wette. Es gibt eine schmale Tür, die zur Eingangshalle hinführt und eine große, doppelflüglige Tür, die die Küche verbirgt. Und aus dieser Richtung kommen immer mindestens so wunderbare Gerüche, wie die der Blumen.
Ich bin an diesem Tag nicht so ausgehungert, wie sonst, denn schließlich habe ich mich kaum bewegt, von der kleinen Rangelei mit Richard einmal abgesehen. Und weil mich der Hunger nicht so drückt, habe ich mir besondere Mühe gegeben mein Nachmittagskleid nicht zu zerknittern und meine Haare nicht zu zerzausen, wie es sonst immer passiert, wenn ich erst fünf Minuten vor Tisch von draußen hereingestürzt komme und dann nur noch Zeit dazu habe, mein Gesicht zu waschen, bevor ich mich mit erhitzten Wangen zum Tischgebet einfinde. Ich weiß, das Mama sehr betrübt darüber ist, das ihre einzige Tochter sich so wenig aus der feinen Damenhaftigkeit macht, die in ihrer Familie als höchstes Gut gilt, doch trotz des schlechten Gewissens, das mich bei ihren tadelnden Blicken immer wieder beschleicht, kann ich nicht widerstehen, wenn Vater pfeift, um mich in die Berge mitzunehmen. Ich komme viel zu sehr nach ihm, sagt Mama dann immer seufzend, bevor sie wieder zu sticken beginnt.
Mama stammt aus einer vornehmen Familie aus Orleans und hat eigentlich unter Stand geheiratet, als sie mit meinem Vater in die Bourgogne ging. Sie hat mir oft erzählt, das die Wurzeln ihrer Familie viel weiter zurückreichen, als die der meisten anderen Familien Frankreichs und sich außerdem das Blut der Könige in ihr vereinigt, denn einige ihrer Vorfahrinnen waren berühmte Mätressen, wie z.B. La Valiere oder sogar La Pompadour. Natürlich weiß ich damals noch nicht, was eine Mätresse ist, doch ich bemerke wohl die feine Eleganz und Grazie, die meine Mutter von den anderen Frauen im Dorf unterscheidet. Ihre Haut ist weißer, ihre Augen sind sanfter, ihre Stimme melodischer, ihre Haltung anmutiger und ihre Haare seidiger, als die irgendeiner anderen Frau, da bin ich mir sicher. Vater sagt immer, sie sei eine Heilige, doch ich bin mir zu dieser Zeit schon sicher, das sie eine verzauberte Elfe oder Fee sein muß, die nur sterblich wurde, weil sie Vater liebte. Denn das die Ehe meiner Eltern ungewöhnlich glücklich ist steht außer Frage. Sie war das, was man heute eine Liebesheirat nennt und diese waren zu meiner Kinderzeit ebenso ungewöhnlich, wie verpönt. Meine Mutter mußte ihrer Familie mit dem Kloster drohen, bis sie die Erlaubnis erhielt meinen Vater zu heiraten und auch wenn ihre Familie noch immer zu unseren Geschäftspartner gehört, hat sie doch nie wieder mehr als das Nötigste mit ihnen zu tun gehabt. Man munkelt sogar, sie habe ihre Mutter damals verflucht und ihr keine Träne nachgeweint, als sie nur ein Jahr nach der Hochzeit starb. Ich habe derlei jedoch nie geglaubt. Mama ist der reinste Engel und nie könnte man sich denken, das sie etwas tut, das nicht von ihrem guten Herzen zeugt. Außerdem hat sie nie erkennen lassen, das sie ihre Schwestern, oder ihren Vater nicht mit Höflichkeit behandelt hätte. Nur eine winzig kleine Gehässigkeit konnte sie sich nie versagen, denn keine ihrer drei Schwestern hat auch nur ein Kind zur Welt gebracht, während meine Mutter gleich zwei gesunden Söhnen und einem entzückenden Mädchen das Leben geschenkt hatte. Sie sagte immer, das liege nur daran, das sie so glücklich sie und sah unter ihren langen Wimpern bewundernd zu Vater empor, derweil meine Tanten ganz grün um die Nase wurden und die Lippen zusammen kniffen. Doch ihre Worte entsprechen nun einmal der Wahrheit und niemand hätte dies je stärker empfinden können, als ich, die ich als jüngstes Kind und einziges Mädchen ein Übermaß an Liebe von Mama und Papa erfährt, das meine Brüder oftmals vor Eifersucht aufschreien läßt.
So verzeiht mir Mama auch immer, das ich noch nicht so geschliffen bin, wie sie es sich sicher wünscht und ich gebe mir die größte Mühe ihr zumindest manchmal eine Freude zu machen und so sauber und höflich zu sein, wie sie es sich vorstellt.