Das Mosaik der Schädel
Faul hingestreckt ruhte Nidal der Meuchelsänger zwischen den knotigen Wurzeln einer mächtigen Schlangeneiche und schaute hinab auf das wilde Tal des Nargh-Flusses. Zwischen seinen langen blassen Fingern drehte er einen kleinen weißen Totenschädel und musterte ihn aus schmalen Augen. Es war wohl eine Knochenschnitzerei, nicht viel größer als ein Hühnerei und so kunstreich der Natur nachgebildet, dass man ihn für den Schädel eines Zwergenkindes hätte halten können.
Die Sonne stand schon tief und tauchte die aus dem Fluss aufsteigenden Dunstwölkchen in unwirkliches rosenfarbenes Licht. Nidal entschloss sich aufzubrechen. Er hatte keine Lust, noch im Wald unterwegs zu sein, wenn die Wolfstrolle in ihren Höhlen erwachten und loszogen um Beute zu machen.
Erst am Vormittag war ihm ein solches Ungetüm über den Weg gelaufen. Doch im Sonnenlicht waren die Bestien fast blind und so war es für Nidal ein Leichtes gewesen, ihn mit einem Stich seines vergifteten Rapiers in die Leber zu töten. Um den Hals des Wolfstrolls hatte er an einem derben Lederriemen jenen Schädel entdeckt und mitgenommen. Es war zwar kein Juwel oder Schmuckstück, aber vielleicht konnte er es irgendeinem reichen Bürger in Valauna als Kunstwerk andrehen.
Nidal erhob sich und streckte sich gähnend. Es war ohnehin Zeit aufzubrechen, denn auch das Wetter würde bald umschlagen. Die große rote Narbe auf seiner Stirn pochte schon den ganzen Tag über. Vorsichtig fuhr er mit den Fingern darüber und fühlte das tiefe Loch, das nur von einer dünnen Haut überwachsen war. Es war der Reißzahn eines Urns gewesen, der es vor einigen Jahren in seinen Schädelknochen geschlagen hatte und es bereitete ihm oft Unbehagen und dumpfe Schmerzen. Aber es zeigte ihm auch das Wetter an und war insofern nicht ganze ohne einen Nutzen.
Er schulterte seine Wanderharfe, prüfte, ob sein kurzer, schmaler Rapier locker in der Scheide saß und machte sich auf den Weg hinunter zum Fluss. Er hatte in dieser Richtung einen dünnen Rauchfaden über den Baumwipfeln bemerkt und rechnete damit, dort ein Obdach für die Nacht zu finden - oder erzwingen zu können. Denn die Bewohner Merthalions galten als nicht besonders gastfreundlich. Zu viel Gesindel und Halbwesen trieben auf den Straßen des abgelegenen, vergessenen Reiches ihr Unwesen.
Das Ufer des Flusses lag schon im Dämmerlicht, als Nidal auf eine zwischen den Weiden hingeduckte Fischerhütte zuschritt. Er hielt sich so, dass man ihn aus den kleinen Fenstern nicht vorzeitig erspähen konnte und schaute sich immer wieder prüfend um. Aber da war nur ein schmaler Kahn, halb aufs Ufer gezogen und ein paar aufgespannte Netze, die wohl seit Jahren nicht mehr benutzt worden waren. Alles machte eher den Eindruck von Verlassenheit, und ein modriger, dumpfer Geruch hing in der Luft. Aber in einem der Fenster bemerkte er einen Lichtschein und auch der fahle Rauch, der aus dem Kamin stieg, bewies, dass die Hütte bewohnt war. Rasch huschte er von der Seite her zur Tür und prüfte noch einmal den Sitz seiner Waffe. Dann klopfte er hart und entschlossen an die hölzerne Tür.
Von drinnen hörte er rumpelnde und knarrende Geräusche und das Schlurfen schwerfälliger Schritte. Knarzend öffnete sich die Tür einen Spalt breit. Das mürrische Gesicht eines fetten kleinen Mannes mit schmierigen grauen Zöpfen schaute ihn fragend an.
"Was willst du? Es ist mitten in der Nacht. Anständige Menschen sind um diese Zeit nicht mehr unterwegs, also kannst du nicht zu ihnen gehören. Du solltest weiter deines Weges gehen und nicht um die Häuser braver Leute herumlungern."
"Ich habe meinen Weg leider verloren und mich verirrt", erwiderte Nidal mit liebenswürdigem Lächeln. "Außer Eurer Hütte konnte ich weit und breit nichts finden, um mich vor den nächtlichen Schrecken des Waldes zu verbergen. Urns und Krallenkriecher streichen umher. Die Morgensonne wird sicher nur noch auf meine Leiche scheinen, wenn Ihr mich nicht einlasst. Außerdem weht ein verlockender Duft nach warmem Essen um Eure Hütte und ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen."
"Wie ist dein Name?" knurrte der Fischer, ihn von oben bis unten musternd.
"Nidal. Ich bin nur ein harmloser wandernder Sänger. Hier, seht Ihr meine Harfe?"
Nidal bemerkte zwar, wie die Augen des Fischers kurz aufleuchteten, wusste es aber nicht zu deuten.
"Ich sehe deine Harfe, und auch deinen Rapier. Aber... na, schön, komm rein", der Fischer gab die Tür frei wandte sich um und winkte Nidal, ihm zu folgen. Die Hütte besaß nur einen einzigen Raum, schummrig ausgeleuchtet von einigen trüben Tranlampen und erwärmt von einem offenen Kamin aus Lehmziegeln. Über dem Feuer hing an einer Kette ein Bronzetopf, aus dem ein appettitlicher Geruch nach Fischsuppe aufstieg. Zwei, drei grobgezimmerte Schränke einige Regale und ein roher Holztisch mit zwei Stühlen bildeten die sparsame Einrichtung.
"Da setz dich!" brummte der Fischer und zeigte auf einen der beiden Stühle. "Du kannst hier bleiben, bis die Sonne aufgeht. Aber wenn du dir ein warmes Essen erhofft hast - was dort in dem Topf kocht dürfte dir kaum bekommen."
"Es duftet vorzüglich", sagte Nidal. "Warum willst du es nicht mit mir teilen?"
"Es sind Schorfrüben. Ein Löffel davon und du fällst tot vom Stuhl. Weißt du, die Kicherspinnen haben sich in letzter Zeit arg vermehrt. Sie zerreißen mir nachts die Netze und nagen Löcher in die Reusen", er lachte hustend. "Es ist an der Zeit, ihre Zahl ein wenig zu vermindern. Dafür ist der Schorfrübenbrei. Ich habe ihn ein bisschen appetitanregend gewürzt, um sie anzulocken."
"Sehr findig", nickte Nidal anerkennend. "Aber irgendetwas werdet ihr doch auch essen, oder?"
"Räucherfisch", brummte der Fischer. "Räucherfisch und Kastanienbrot. Mehr habe ich nicht. Aber du kannst etwas davon kriegen. Als Gegenleistung magst du mir ein wenig über dich erzählen und wo du herkommst. Es kommen nur wenig Leute hier vorbei, um mir Neuigkeiten zu berichten."
Während sie aßen erfand Nidal eine halbwegs interessante Geschichte für den Fischer, der gespannt zuhörte, immer wieder ungläubig den Kopf schüttelte und "Ach was!" sagte. Dann, als sie gesättigt waren und der Fischer einen Krug mit scharfgewürztem Wein hervorgekramt hatte ergriff dieser selber das Wort:
"Du hast einen bemerkenswerten Anhänger um deinen Hals", sagte er. "Ich werde das Gefühl nicht los, schon etwas ähnliches gesehen zu haben. Wo hast du ihn her?"
"Eine kunstlose Schnitzerei", Nidal zuckte leichthin die Achseln. "Ohne jeden Wert. Ich habe sie einem toten Wolfstroll abgenommen."
"Einem Wolfstroll sagst du? Dann ist er vielleicht nicht so wertlos wie du denkst. Terthonos könnte sich dafür interessieren."
"Wer ist Terthonos?"
"Ein Hexenmann, ein Alchimist. Seine Burg ist nicht weit von hier."
"Warum sollte er sich für eine solche Schnitzerei interessieren?"
"Nun, es heißt, in seiner Burg gibt es eine Bronzetür, hinter der er all seine Talismane, Bücher und Tinkturen verschließt. Das Schloss ist ein magisches Mosaik aus kleinen... geschnitzten Schädeln. Ein Wolfstroll hat wohl vor langer Zeit einen dieser Schädel herausgebrochen und gestohlen. Seitdem kann Terthonos die Tür nicht mehr öffnen und ist ein Magier ohne Macht. Man sagt, er hat für denjenigen, der ihm den Schädel zurückbringt eine hohe Belohnung ausgesetzt...."
Nidal zupfte nachdenklich an der Spitze seines schwarzen Kinnbärtchens.
"Eine Belohnung? Was darf man sich darunter vorstellen?"
"Wer kann das wissen? Aber eins ist sicher: Terthonos ist unermesslich reich. Ab und zu darf ich ihm etwas von meinem Fisch liefern Er bezahlt mich sehr großzügig und ich habe schon den eine oder anderen Blick in seine Gemächer geworfen. Ein einziger seiner Weinpokale würde genügen und ich könnte mir ein Herrenhaus in Valauna kaufen."
"Wie würde ich zu seiner Burg finden?"
"Hinter meiner Hütte beginnt ein Hohlweg. Er führt dich geradewegs dorthin. Zu Fuß sind es nicht mehr als drei oder vier Stunden. Oder weniger für einen flinken jungen Kerl wie dich."
Nidal schaute in die wässrig-blauen Augen des Fischers. Es gefiel ihm nicht recht, wie sehr diesem daran lag, ihm zu einer Belohnung zu verhelfen. Aber im Moment sah er nicht, wie der feiste kleine Mann ihm gefährlich werden konnte. Er erwog, zu warten, bis der Fischer schlief und ihm dann die Kehle durchzuschneiden. Das würde zumindest der Ruhe seines eigenen Schlafs dienlich sein.
"Ich werde drüber nachdenken", sagte er und streckte sich gähnend. "Aber jetzt würde ich gern zu Bett gehen. Ich bin heute weit gewandert und bis Valauna sind es noch viele Wegstunden"
"Da drüben liegen ein paar Wolldecken. Sie sind vielleicht ein wenig klamm, aber etwas besseres habe ich nicht."
Nidal stand auf und wandte sich der Ecke zu, in der die Decken lagen. Träge begann er die Schleifen seines Wamses zu lösen. und beobachtete die seltsamen Schatten, die das Kaminfeuer an die Wand warf. Einer ähnelte einem kleinen dicken Mann, der einen langen spitzen Gegenstand in der Hand hielt.
Nidal wirbelte herum. Sein Rapier zeichnete einen singenden, silberschimmernden Kreis in die Luft.
Der Kopf des Fischers kippte nach hinten, wie der Deckel eines Bierkrugs. Gleich einem Wasserspiel sprang eine dünne Fontäne schwarzroten Blutes aus dem offenen Hals. Der massige Rumpf schwankte vor und zurück und schlug mit einem weichen Plumpsen auf den Dielenboden. Der Fischspeer, den er in der Hand gehalten hatte fiel klappernd zu Boden und rollte unter den Tisch.
Fast augenblicklich ging eine grauenerregende Veränderung mit dem Leichnam vor. Das Fleisch schien seinen Zusammenhalt zu verlieren, begann dickflüssig von den Knochen herabzutropfen und bildete eine braunrote, schleimige Lache.
"Ein Ghraun!" Nidal trat angewidert einen Schritt zurück und versuchte das Würgen in seinem Hals zu unterdrücken. Der zerfallende Körper des Fischers glich in unangenehmer Weise einer Pfütze von Erbrochenem und verströmte einen üblen, scharfen Geruch.
Die Ghrauns waren Halbwesen aus den Hochmooren von Argud, fähig, jede gewünschte Gestalt anzunehmen. Erst im Tod enthüllte sich die Gestalt, mit der sie geboren waren. Rasch griff Nidal nach einer der Öllampen, löschte sie und goss sie über den zerfallenden Überresten aus. Es hieß, das Fischöl verhindere, dass ein toter Ghraun sich wieder zusammenzog und zu neuem Leben erwachte.
Obwohl der Gestank in der Hütte kaum zu ertragen war, wagte Nidal es nicht, noch in der Nacht weiterzugehen. So richtete er sich das Bett des Fischers her trank den Rest des Weins und schlief kurz darauf ein.
Am Morgen durchsuchte er die wenigen Truhen und Schränke des Fischers, fand aber außer ein paar Stücken Räucherfisch nichts, was des Mitnehmens wert gewesen wäre. Von der Leiche des Ghraun war nichts mehr zu sehen als ein großer dunkler Fleck auf den Dielenbrettern. Selbst die Knochen schienen zu Luft und Staub zerfallen zu sein.
Dann brach er auf. Hinter der Hütte fand er den beschriebenen Hohlweg, der in durch lichten Pechbuchenwald führte und sich in weiten Windungen sanft bergan zog. Bald schloss sich ihm eine Schar Kicherspinnen an, die rechts und links des Weges durchs Unterholz huschten und ihn mit ihrem heiseren Meckern begleiteten. Hin und wieder dachte er daran, einige der, an dürre, achtbeinige Affen erinnernden Geschöpfe, zu töten, um sie zu vertreiben, denn sie waren zwar nicht gefährlich aber ungemein lästig. Doch es war ihm nicht der Mühe wert, erbeuten konnte er nichts von ihnen und ihre Pelze hatten auch keinen besonderen Wert.
Gegen Mittag erreichte er die Burg des Zauberers. Sie lag düster und massig auf einer felsigen Anhöhe und hatte die Gestalt einer Schildkröte, mit wuchtigen schwarzen Türmen auf den vier Ecken ihres Panzers. Der Weg hinein führte durch das weit geöffnete Maul, in das eine bronzene, drei Klafter hohe Tür eingelassen war.
Nidal lächelte zufrieden. Bis hierhin entsprach die Geschichte des Fischers der Wahrheit. Er hatte auch nichts anderes erwartet, nachdem dieser so leichtfertig sein Leben weggeworfen hatte, um in den Besitz des Schädels zu gelangen.
Vorsichtig näherte er sich dem Tor und fand, dass einer der beiden Flügel offen stand. Dahinter führte ein mit saphirblauen Relieffliesen gekachelter und von Glühfackeln erleuchteter Gang ins Innere der Burg. In der Mitte des Ganges flatterte ein fledermausähnliches leuchtendes Etwas. Es war eine Phiniolis, mit einem winzigen menschlichen Gesicht und handtellergroßen schimmernden Schwingen. Sie schwebte auf ihn zu und blieb vor seinem Gesicht in der Luft stehen.
"Komm, folge mir, Sänger", rief sie mit melodischem Piepsen. "Terthonos weiß, dass du kommst und wartet in seinem Arbeitszimmer auf dich."
Sie flatterte ein Stück weit voran, verhielt wieder und schaute sich nach ihm um.
"Komm, komm!"
Nidal folgte ihr zögernd und schaute sich immer wieder forschend um. Aber er konnte nichts Verdächtiges oder Bedrohliches entdecken. Bald erreichten sie eine Reihe von schwarzen, polierten Holztüren. Eine von ihnen stand halb offen und die Phiniolis schwebte hindurch.
Nidal lugte vorsichtig um die Türkante. In einem großen, mit Webteppichen ausgekleideten Raum sah er einen hochgewachsenen alten Mann an einem schweren geschnitzten Tisch stehen und ihm zuwinken.
"Komm nur herein. Du hast nichts zu befürchten. Ohne das, was du mir hoffentlich bringst bin ich nur ein harmloser Greis, der sich kaum aus seinen Gemächern wagt."
Nidal versuchte, die Gefährlichkeit des Mannes abzuschätzen. Gewiss, die Runzeln in seinem bleichen Gesicht bewiesen, dass er alt war, sehr alt. Aber sein langes glattes Haar war schwarz und glänzend - und größer als Nidal war er zudem. Und die schwarzgrüne, faltenreiche Robe ließ auch nicht erkennen, ob er Waffen bei sich trug. Nidal beschloss, auf der Hut zu sein.
"Ich suche Terthonos, den Magier", sagte er, langsam eintretend.
"Nun, dann hast du ihn gefunden", lächelte der Alte. "Die Kicherspinnen haben mir bereits berichtet, dass du auf dem Weg bist. Und ... dass du etwas bei dir trägst, das für dich keinen Nutzen hat und nur schwer an deinem Hals hängt."
"Der Wert bemisst sich danach, welchen Nutzen es für dich hat", entgegnete Nidal.
"Wohl gesprochen. In der Tat ist dieser Schädel, den ich dort sehe für mich von unschätzbarem Wert. Dass du ihn herbringst, zeigt mir, dass du von der Belohnung gehört hast, die ich darauf ausgesetzt habe."
Nidal nickte.
"Das hat man mir erzählt. Es würde mich interessieren, diese Belohnung zu sehen, bevor ich darüber nachdenke, ihn herzugeben."
Ein belustigter Ausdruck trat in die Augen des Magiers. Wasserblaue Augen, die Nidal an etwas erinnerten, ohne dass er sagen konnte woran.
"Du bist sehr besonnen", sagte Terthonos. "Als Kaufmann würdest du sicher mehr Geld verdienen denn als Sänger. Nun, zunächst gibt es natürlich einen guten Tropfen Wein für den Wanderer, der den weiten Weg zu mir auf sich genommen hat", er nahm eine bergkristallene Karaffe vom Tisch und füllte daraus zwei schwere, mit Gemmen besetzte Goldpokale. Einen davon reichte er Nidal. "Hier, trinken wir auf deinen Fund. Ich bin dem Wein für gewöhnlich eher abgeneigt. Aber da heute mein Glückstag zu sein scheint, will ich mit dir darauf anstoßen."
Nidal zögerte.
"Gern, aber seid so gut und gebt mir den Pokal, den Ihr für Euch eingeschenkt habt. Er scheint mir nicht ganz so voll zu sein, wie der meine und ich denke, als Gast sollte ich mich in Bescheidenheit üben."
Der Magier schüttelte bekümmert lächelnd den Kopf.
"Wachsam bist du auch. Wahrlich, selbst wenn ich noch all meine Macht besäße und dir Böses wollte: ich glaube es würde mir nicht gelingen dich zu überlisten." Er tauschte die Pokale aus und reichte Nidal den gewünschten. Der Meuchelsänger wartete noch, bis der Magier selbst getrunken hatte, dann setzte auch er den Kelch an die Lippen. Es schmeckte wie ganz gewöhnlicher Wein eines vorzüglichen Jahrgangs. Nidal nahm einen weiteren tiefen Zug.
"So, und dies hier ist deine Belohnung", Terthonos zog etwas aus den Falten seiner Robe und hielt es Nidal hin. Es war ein Reif aus geschnittenem Goldtopas, bedeckt mit kunstvollen Gravuren und besetzt mit erbsengroßen Zirkonen. Nidal leckte sich die Lippen. Dieser Reif war sicher mehr wert als alles, was er in seinem bisherigen Leben zusammengestohlen hatte.
Sein Geist arbeitete fieberhaft. Vielleicht gab es einen Weg, den Magier zum Weitertrinken zu verleiten ... was diese Burg an Kostbarkeiten barg reichte aus um ein kleines Königreich zu kaufen.
Er griff nach dem Reif, aber Terthonos zog ihn überraschend behende zurück.
"Warte, du bist sicher neugierig, welchem Zweck dieser Schädel dient. Ich will es dir zeigen", er schritt rasch auf einen schweren, samtenen Wandvorhang zu und zog ihn zur Seite. Dahinter befand sich eine große bronzene Tür. in der Mitte waren in silbernen Fassungen Dutzende der kleinen Schädel eingelassen so dass ihr Anordnung die magische Nakroth-Rune bildete. Aus hundert leeren Augenhöhlen drang ein hypnotisches, pulsierendes Glühen.
Nidal trat näher. Täuschte er sich oder war es tatsächlich so, dass diese Schädel alle ein wenig größer waren, als der, den er bei sich trug? Er schaute sich nach dem Magier um. Auch der schien größer, als er ihn eigentlich eingeschätzt hatte. Er spürte, wie seine Gedanken träge wurden und schüttelte verwirrt den Kopf. Dann schaute er wieder auf das Schädelmosaik und entdeckte die leeren Fassungen.
"Aber es sind ja zwei Schädel die fehlen!", keuchte er. Es schien ihm plötzlich sehr anstrengend, laut zu sprechen. Er fühlte sich gar nicht wohl, wie ein Käfer im erstickenden Kokon einer Spinne. Und da war dieser dumpfe Geruch von Fischtran...
"Du hast Recht", vernahm er Terthonos' Stimme - hohl und hallend wie ein Echo. "Es fehlen zwei Schädel. Aber das macht nichts. Wir werden mit dem zurechtkommen, was wir haben..."
Nidal atmete schwer und versuchte aufzusehen. Vor ihm ragte die Bronzetür endlos hoch empor, wie eine Felswand in den Nachthimmel - verlor sich in wirbelnder Dunkelheit ...
***
"Du sollst deine Belohnung haben" sagte Terthonos leise, fast liebevoll den kleinen Schädel in seiner Linken betrachtend. "Obgleich du nicht vollkommen bist."
In seiner Rechten hielt er den Reif aus geschnittenem Goldtopas.
"Du sollst sie haben", wiederholte er und setzte den Reif wie eine Krone auf den kleinen Schädel, so dass das hässliche Loch in der Stirn davon verdeckt wurde.
Dann setzte er ihn in die letzte noch offene Fassung der Bronzetür. Ein tiefer summender Ton setzte ein und das Mosaik der Schädel begann wabernd aufzuleuchten...
© 2002 by Achim Hildebrand