(F) Ein altes Volk

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Ein altes Volk

Auszug aus der Chronik der Völker von Selim dem Weisen:

Aequinocter:
[ 2] Ein Volk, welches so unbekannt erscheint wie der Ursprung der zwölf Götter Aventuriens. Entsprungen aus der finsteren Nacht nennen sie sich Töchter und Söhne der Erde, in deren Tiefe sie hausen. Halb vergessen und durch das Regengebirge von der Außenwelt abgeschnitten sind sie selbst den ältesten Bewohnern Mirhams, Al’Anfas und H Rabaals unbekannt.
[ 2] Ihre Haut so schwarz wie die Nacht selbst überzogen von einem tiefbläulichen Schimmer, ihr Haar von finsterer Tönung nur erhellt durch silbrige Strähnen, welche das Mond- und Sternenlicht einfangen. So können sie sich in der Dunkelheit fast unsichtbar machen, indem sie mit den Schatten verschmelzen. Diese Wesen lieben keine großen Menschenansammlungen und spüren auch nicht das Bedürfnis Kontakte zur Außenwelt zu knüpfen. So leben sie schon seit Jahrhunderten immer gleich bleibend in ihren Stollen-, Gang- und Höhlensystemen ohne jede Ahnung vom Rest der Welt und, ohne dass der Rest der Welt sie je auf einem anderen Wege kennen lernen wird als durch diese Schrift. Ihre Gesellschaft ist aufgeteilt in diejenigen, welche die Tunnel und Höhlen graben und sauber halten, diejenigen, welche an der Erdoberfläche Wild jagen und die Vorräte für die Gemeinschaft sammeln und schließlich die Schamanen, welche das höchste Ansehen genießen.
[ 2] Ihre Sprache, Noxtra, gleicht in gewisser Weise der des Elfenvolkes. So könnten diese sie wohl leicht beherrschen, doch für einen Nichtelfen kommt ihr Erlernen dem Nivesischen oder dem Echsischen gleich.
[ 2] Das Erdenvolk ist von erstaunlich kleinem Wuchs und nur wenige ihrer Art überragen einen großgewachsenen Zwerg, doch ihr Körperbau ist von der zierlichen und wendigen Art der Elfen und man möchte meinen, die Schwarzhäutigen seien mit ihnen auf irgend eine Weise verwand, da manche selbst ein gewisses Talent zeigen sich elfischer Magie zu bedienen.
[ 2] Das Volk der Aequinocter feiert nur einen einzigen Festtag im ganzen Jahr. Zwar beten auch sie zu den zwölf Göttern Aventuriens, doch ihre Feste bleiben unbeachtet. Wichtig erscheint ihnen nur die Tunnelweihe. Ein Tag, welcher – wie es scheint – zufällig mit dem uns bekannten Sommersonnenwendfest zusammenfällt. An jenem Festtag werden alle Kinder der Aequinocter, welche das zehnte Lebensjahr noch nicht erreicht haben, an die Oberfläche gebracht um dort einen Tag und eine Nacht unter der Aufsicht einiger weniger Erwachsener zu verbringen, während unterhalb der Erde alle im vergangenen Jahr neu erbauten Tunnel und Höhlen den verschiedenen Götter Aventuriens geweiht und von den Schamanen gesegnet werden.


[ 2] Mit einem nachdenklichen Ausdruck im Gesicht lehnte Balkar sich in dem bequemen Sessel zurück, der nahe dem Kaminfeuer stand. In seiner Hand hielt er immer noch die alten, vergilbten Pergamentblätter, welche er hier in der Bibliothek von Gareth gefunden hatte. Alte Reiseberichte von Selim dem Weisen, der vor Jahrhunderten schon durch Aventurien gezogen war und alles aufgezeichnet hatte, was ihm wichtig erschienen war, sowohl über das Land, als auch über all seine tierischen, monsterartigen und menschenähnlichen Bewohner. Der riesige, hallengroße Raum der Bibliothek war inzwischen in nächtliche Dunkelheit gehüllt und die bis zur hohen Decke reichenden Regale voller Bücher, Folianten, Manuskripte und Schriftrollen verschwanden in der Finsternis der Höhe. Durch die breiten Fenster schien kein einziger Sonnenstrahl mehr und die Stille der Nacht hatte sich über die alten Mauern gesenkt. Nur das knisternde Kaminfeuer und ein großer Kandelaber, der neben Balkar auf einem Tisch stand, erhellten einen kleinen Teil des großen Raumes mit ihrem flackernden Licht. Balkar hatte lange gebraucht, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Fast hatte er seine Hoffnung schon aufgegeben und alle seine Gedanken für Hirngespinste gehalten. Selbst Lynx, eine Elfe, die ihn schon in viele Abenteuer begleitet hatte, glaubte seinen Erzählungen nicht und er hatte nirgendwo einen Hinweis gefunden, der seine Erinnerungen an diese seltsamen Wochen und Monate, die er in Dunkelheit verbracht hatte, unterstützte. Bis jetzt! Balkar schloss die Augen und erlaubte seinen Gedanken in die Vergangenheit zu fliegen und sich zu erinnern, die unwirklichen, seltsamen Bilder wieder aufleben zu lassen, die er selbst schon fast für Hirngespinste gehalten hatte.

[ 2] Fast ein Jahr war es nun her, dass Balkar in den Wald jenseits des Regengebirges gelangt war. Von seinen Gefährten getrennt hatte er einen Weg zurück zu den Bergen gesucht, doch der undurchdringliche Forst wollte ihn nicht mehr loslassen und dann war er auch noch den Baumgeistern in die Hände gefallen. Balkar war bei weitem kein schlechter Krieger. Jahrzehnte des Kampfes hatten ihm eine Erfahrung geschenkt, die sich kaum mehr messen ließ. Doch eine Horde Baumgeister war selbst für ihn zu viel gewesen, zumal er von dem wochenlangen umherstreifen in dieser unwirtlichen Wildnis völlig ausgezehrt und geschwächt war. Er hatte lange gebraucht, bis ihm klar geworden war, dass er den Geistern entkommen war. Doch wie, bei Praios, war ihm das gelungen? Schwer verletzt und mit kaum mehr Kraft als einem Neugeborenen hatte er sich in einer dunklen Finsternis wiedergefunden, die nach Erde und Moos roch, ohne zu wissen, wie er dorthin gelangt war. Doch seltsamer Weise war es eine Finsternis gewesen, die ihn nicht ängstigte. Angenehme Wärme hüllte ihn ein und weiche Felle bedeckten seine geschundenen Glieder. Sein Körper trug nicht mehr den Dreck von Wochen und jemand hatte ihm den stoppeligen Bart abgenommen. Still und ruhig lag er in der Finsternis und wartete. Er hatte nicht die leiseste Ahnung worauf, konnte er doch mit einer Drehung seines Kopfes auch nicht mehr erkennen als Dunkelheit. Balkar glaubte schon sein Augenlicht verloren zu haben, doch dann erschienen diese silbrigen Fäden, die wie eine leise flüsternde Wolke bald über ihm, bald neben ihm und bald etwas weiter entfernt in der tiefen Schwärze schwebten und den Eindruck von gesponnenem Silber in ihm weckten. Auch Hände konnte er spüren. Unsichtbare Hände, klein und feingliedrig, die seinen Körper betasteten, seine Wunden mit einer angenehm kühlen Sanftheit versorgten und den letzten Fieberschweiß von seinen Gliedern wuschen. Eine ruhige, sanfte Stimme flüsterte in einer fremdartigen, singenden Sprache in sein Ohr und warmer Atem strich über seine wettergegerbte Wange. Balkar wollte sprechen, wollte fragen wo er sei und wer da bei ihm war, doch aus seiner Kehle gelangte nur ein raues Krächzen. Im nächsten Augenblick schob sich eine der unsichtbaren Hände unter seinen Kopf und hob ihn vorsichtig an. An seinen Lippen spürte er den Rand eines hölzernen Bechers und eine süße, klebrige Flüssigkeit rann seine Kehle hinab. Während er mühsam schluckte, tropfte der Saft von seinem Kinn herunter. Schließlich wurde sein Kopf wieder zurück gelegt und die wärmenden Felle erneut um seinen Körper festgesteckt. Immer noch erklang die sanfte Stimme und vermittelte Balkar eine Ruhe und Gelassenheit, die er noch nie empfunden hatte, und sie brachte ihm eine Geduld, mit welcher er die langsame Heilung seiner Wunden hinnahm und welche er bisher nicht gekannt hatte. Er brauchte einen Augenblick um zu registrieren, dass die Stille zurückgekehrt war und die silbrige Wolke aus den fein gesponnenen Fäden verschwunden war, ebenso wie die unsichtbaren Hände. Eine seltsame Enttäuschung machte sich in ihm breit und resigniert begann er wieder zu warten.
[ 2] Beim nächsten Mal, als die Wolke aus Mondfäden erschien, brachte sie noch etwas anderes mit. Sobald die warmen, sanften Hände ihn wieder versorgt und er erneut von dem stärkenden, süßen Sirup getrunken hatte, hörte er das Aufeinanderschlagen von Feuerstahl und Zunder, gefolgt von einem reißenden Zischen. Dann kam die Helligkeit und Balkar kniff gequält seine geblendeten Augen zu. Er holte einige Male tief Atem, bevor er die Lieder um einige Millimeter hob. Als sich seine Augen an den schmalen Spalt aus Licht gewöhnt hatten, hob er sie noch ein Stück und noch ein Stück, bis er schließlich die brennende Pechfackel erkannte, die schräg über ihm in einer eisernen Halterung an einer Höhlenwand steckte. Es war eine kleine Höhle mit einer niedrigen Decke und kleinen Würzelchen, die sich durch die Wände in den Raum zwängten. Außer seiner Lagerstatt aus einem dicken Moosbett und den zotteligen Fellen war die Höhle leer. Nein, nicht ganz. Völlig sprachlos starrte Balkar auf das Wesen, welches sich neben ihn hockte und ihn aus nachtblauen Augen musterte. Es war ein klarer Blick, angefüllt mit Erfahrung und Wissen von jemandem, der schwere Zeiten hinter sich gebracht hatte, und trotzdem auch der Neugierde und Naivität eines Kindes. Verwirrt musterte Balkar das Wesen. Es war klein, ja fast winzig, vielleicht von der Größe eines Zwerges, vielleicht auch noch etwas kleiner, doch von zierlicherem Körperbau als das Bergvolk und mit einer dunklen, fast schwarzen Haut, die im Licht der Fackel von einem bläulichen Schillern überzogen wurde. Das schulterlange, krause Haar, das ein feingeschnittenes, feminines Gesicht umrahmte, war von einem dunklen, weinroten Ton, doch als das Mädchen den Kopf schief legte, glitt ein silbriges Glitzern durch ihren Schopf und Balkar erkannte mit zusammen gekniffenen Augen die silbernen Fäden, die das dunkle Rot durchzogen und bei jeder Bewegung vom Licht der Fackel verraten wurden. Das hatte er also die ganze Zeit über gesehen! Es waren die silbernen Haarsträhnen des Mädchens gewesen, die wie eine nicht greifbare Wolke in der Dunkelheit um ihn herum geschwebt waren.
„Wer bis du?“ Der Kopf der Kleinen neigte sich zur anderen Seite und ein leises Lächeln umspielte ihren Mund. Die bekannte Stimme aus der Dunkelheit antwortete ihm in einem unverständlichen Singsang. Dann ein leises Lachen und eine kleine, schwarze Hand, die beruhigend über seine Stirn strich. Das Kind erhob sich, suchte ein paar Utensilien zusammen, die um Balkar herum verstreut lagen, und stopfte sie in einen Beutel, bevor es sich erhob und verschwand. Fassungslos starrte Balkar auf das schwarze Loch des Höhleneingangs, verdeckt durch einen fadenscheinigen Vorhang, der den kalten Luftzug der Nacht zurückhalten sollte. Oder war es gar nicht die Nacht, die dort vor seiner Höhle hauste? Wo zum Donnerwetter war er und wer war dieses winzige Geschöpf, das ihm vielleicht gerade mal bis zur Hüfte reichte? Unzählige Fragen bestürmten Balkar, doch niemand war da ihm zu antworten.
[ 2] Balkar erinnerte sich nur allzu gut an die folgenden Wochen und Monate. Immer wieder war das Mädchen erschienen, versorgte ihn in der tiefen Dunkelheit der kleinen Höhle und entzündete schließlich eine Fackel, bevor sie wieder verschwand. An der Fackel und der Zeit, welche sie brauchte um herunter zu brennen erkannte Balkar, dass das Kind etwa zweimal am Tag erschien. Er versuchte sich mit ihm zu verständigen, doch es sprach weder Garethi, noch sonst eine ihm bekannte Mundart, sondern nur dieses seltsame Singen, mit dem es ihm unbekannte Wörter formte. Diese Sprache erinnerte Balkar an Isdira, was Lynx, eine seiner Kampfgefährtinnen, ihm beigebracht hatte. Also versuchte er es auf diesem Wege und tatsächlich fanden die beiden Ähnlichkeiten in den verschiedenen Sprachen. Er hatte der Kleinen klar machen können, dass sein Name Balkar von Donnerbach lautete. Es war seltsam sie den Namen singen zu hören. Auch sie hatte ihm ihren Namen genannt, doch er war nicht sicher, ob es sich tatsächlich um einen Namen handelte oder einfach um ein weiteres Wort aus ihrer Sprache. Jedenfalls wandte sie sich zu ihm um, wenn er sie Ädoni rief, was Balkar nur als gutes Zeichen werten konnte. Wochen vergingen bis seine Wunden völlig verheilt waren und er sich stark genug fühlte um wieder aufzubrechen. Bis dahin glaubte er recht gut zu verstehen, was Ädoni ihm in den wenigen Stunden erzählte, die sie zu ihm kam. Sie gehörte einem Volk an, welches unter der Erde in einem Reich aus Höhlen und Gängen lebte und nur zum Jagen an die Oberfläche kam. Ädoni war die Tochter eines ärmlichen Ehepaares gewesen, die zur Kaste der Tunnel- und Höhlengräber gehörte. Um sich zu ernähren und ihrer Tochter den Aufstieg in die Kaste der Jäger und Vorratsmeister zu ermöglichen, hatten die Eltern das Risiko auf sich genommen an der gefährlichsten Stelle zu graben, nämlich in der vordersten Reihe der Tunnelfront. Wenn Balkar das Mädchen richtig verstanden hatte, bekamen diese Leute für das Risiko, welches sie eingingen, auch ein wenig mehr Lohn. Doch das Risiko blieb eben bestehen und so waren Ädonis Eltern bei einem Tunneleinsturz auf der Länge von fünfzig Höhlen ums Leben gekommen. Das Kind war damals etwa sechs Jahre alt gewesen, also noch nicht alt genug für die schwere Arbeit des Tunnelgrabens. Doch da die Kleine in die Kaste der Armen hineingeboren worden war, wurde sie einer alten Schamanin unterstellt, der sie beim verrichten ihren Arbeiten helfen sollten. Das war vor zwei Jahren gewesen und es konnte nicht mehr lange dauern, bis Ädoni vom Kind zum Erwachsenen erhoben wurde. Es war für Balkar ein rechter Schock sich vorzustellen, dass dieser kleine, barmherzige Engel schon bald mit einer Hacke in einem Erdloch stehen würde um sich durchs Leben zu schaufeln. Wenn er ihre Worte richtig deutete, hatte Ädoni ihn eines Tages in einem stillgelegten Stollen gefunden, der nicht mehr benutzt wurde, da ein naher Waldsee ihn teilweise überflutet hatte. Sie hatte ihn in diese kleine Höhle geschleppt und stahl sich nun schon seit Monaten immer wieder von ihrer Arbeit davon um ihn zu pflegen und zu heilen. Einen halben Mond lang war Balkar bewusstlos gewesen. Er nahm an, dass es sich um zwei Wochen handelte und Ädoni mit einem Mond wohl einen Monat meinte. Danach dauerte es noch einige Wochen bis er wieder soweit bei Kräften war, dass er glaubte sich wieder auf den Weg machen zu können. Er bat Ädoni um ein wenig Wegeproviant und eine Beschreibung wie er zum Regengebirge gelangen könne, doch das Mädchen schüttelte den Kopf. Balkar war völlig verwirrt, als sie ihn wieder verließ, und zermarterte sich das Hirn, wie er hier bloß wieder herauskommen könne, doch ihm wollte keine Lösung einfallen. Selbst wenn er den Ausgang aus den Tunnelsystemen finden würde, stand er immer noch vor dem weitaus größeren Problem des düsteren Waldes an der Erdoberfläche, der von einer wilden Horde völlig verrückter und blutrünstiger Baumgeister beherrscht wurde, und seinem verlorenen Orientierungssinn, der ihm die Richtung zum Regengebirge verwehrte. Irgendwie musste er der Kleinen doch klar machen können, dass er nicht für ewig hier unten in den Gängen und Höhlen bleiben könnte.
[ 2] Als Ädoni das nächste Mal zu ihm kam, stellte Balkar überrascht fest, dass sie einen großen, schweren Beutel bei sich trug, so umfangreich, dass sie schwer daran zu schleppen hatte und sich abmühen musste den Sack nicht über den Boden zu schleifte. Sie reichte ihn Balkar und bei näherer Untersuchung fand er reiche Proviant- und Wasservorräte darin, sowie ein warme Decke und einige andere nützliche Dinge. Erstaunt sah er auf und beobachtete, wie das Mädchen sich in eine der Höhlenecken hockte und dort mit einem groben Dolch den lehmigen Boden aufkratzte. Sie schob den Dreck bei Seite und zog schließlich ein längliches Paket hervor, eingewickelt in einen Stoff, der Balkar an geteertes Segeltuch erinnerte. Auch dieses Bündel stellte für Ädoni eine Herausforderung dar, als sie es nun zu Balkar hinüber ins Licht der Fackel zerrte. Er hörte es leise klirren. Es klang nach Metall und als Ädoni die Verschnürung der Tuchumhüllung löste, erblickte Balkar mit großer Verwunderung seine eigene Rüstung samt der Waffen: Ein feingliedriges Kettenhemd, sein Helm, das Langschwert, drei Wurfdolche, ein Jagdmesser,... sämtliche Waffen, die er bei seiner Flucht vor den Baumgeistern bei sich getragen hatte. Er warf Ädoni einen prüfenden Blick zu, doch sie lächelte nur verschmitzt und hob die Schultern.
„Konnte wissen ich, ob Ihr die Waffen richten würdet gegen mich?“ Balkar nickte bewundernd. Die Kleine benutzte ihren Kopf, das war ihm schon früher aufgefallen. Doch warum hatte sie ihre Meinung ihn gehen zu lassen so schnell geändert?
„Dann wirst du mich also wieder an die Oberfläche bringen?“ Ädoni nickte.
„Euch sogar bringe zu den nassen Bergen.“ Balkar runzelte die Stirn.
„Zum Regengebirge? Warum? Gestern hast du meine Bitte doch noch abgelehnt.“ Wieder grinste Ädoni und schüttelte den Kopf, dass ihr Haar flog und die Silberfäden darin wieder zu glitzern begannen. Balkar war aufgefallen, dass diese in der Dunkelheit konstant zu leuchten schienen, beim Licht einer Fackel und vielleicht auch bei Tage aber nur zu erkennen waren, wenn Ädoni ihren Kopf bewegte.
„Ich habe abgelehnt ans gelbe Licht zu bringen und den Weg zu den nassen Bergen zu weisen, weil es Euch genützt hätte gar nichts. Die Baumgeister beherrschen diesen Wald und hätten Euch in die Falle gleiche getrieben, aus der Ihr schon nur mit knapper zuvor Not entkommen seid. Ihr nur mit einem Führer könnt zu den nassen Bergen gelangen, aber ich nicht darf die Höhlen verlassen. Zumindest nicht für lange so. Ich bekomme Ärger.“ Balkar nickte. Ädoni hatte die Wörter der Elfensprache schnell gelernt, doch den Satzbau brachte sie völlig durcheinander und schien ein wahres Würfelspiel aus den einzelnen Begriffen zu veranstalten ohne jedoch nur ein Wort zu vergessen. Trotzdem konnte Balkar ihr recht gut folgen.
„Gibt es denn dann überhaupt eine Möglichkeit für mich aus diesem Wald herauszufinden?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf.
„Für Euch nicht, aber für Vogel!“ Wieder glitzerten ihre nächtlichen Augen und ein verschmitztes Grinsen spielte um ihre Lippen. „Kommt, müssen uns wir beeilen!“ Also folgte Balkar dem Mädchen, nachdem er seine Rüstung und die Waffen angelegt und sich den Vorratsbeutel über die Schulter gehängt hatte. Die Gänge waren dunkel und verwinkelt, doch Ädoni hatte keinerlei Probleme sich hier zurecht zu finden. Ihre Augen schienen in der Finsternis regelrecht sehen zu können und Balkar hatte seine liebe Mühe ihr zu folgen, obgleich ihre Schritte viel kürzer waren als die seinen. Erleichtert stellte er fest, dass der Ausgang zur Oberfläche nicht allzu weit entfernt lag. Schon nach wenigen hundert Metern kroch Ädoni vor ihm durch einen Höhlenausgang, durch den ein schwacher Schimmer des Tageslichtes drang. Balkar folgte ihr. Es erschien ihm wie eine Wiedergeburt aus der engen Finsternis hinaus in die kühle, frische Waldluft zu treten und sich dem Himmel entgegen zu recken ohne schon mit den Schulterblättern an eine Höhlendecke zu stoßen. Es dämmerte gerade und ein feiner Nebel überzog den weichen, moosigen Waldboden. Der leise Wind, der durch die Äste und Wipfel der Bäume strich, sang ein Willkommenslied für jeden, der es hören wollte. Seltsam berührt beobachtete Balkar, wie auch Ädoni ihre Arme zum grauen, dunstigen Himmel hob und sich zu ihrer vollen Größe von etwa 1,25 Meter reckte. Es erstaunte ihn, dass dieses kleine Wesen, das sein ganzes Leben in der dunklen Wärme der erdigen Stollen und Tunnel verbracht hatte, die frische Luft der Erdoberfläche genauso genoss wie er selbst. Sie holte tief Atem und schloss die Augen für einen Augenblick. Balkar sah, wie ihre kleine Nase sich schnuppernd in den Wind drehte und sie den Duft von Blumen, Gräsern, Bäumen und der Luft einsog. Es dauerte einen Moment, bis sie merkte, dass er sie beobachtete. Verlegen ließ sie ihre Arme wieder sinken und biss sich auf die Unterlippe als schäme sie sich, dass er Zeuge ihrer Freude geworden war.
„Du liebst den Wald, nicht war?“ Balkar war selbst überrascht über die Sanftheit in seiner sonst so schroffen Stimme, doch er hatte genug Zeit mit Ädoni verbracht um zu wissen, dass seine raue Art sie manchmal erschreckte, ganz besonders in Augenblicken wie diesem. Sie nickte und gab schließlich zu:
„Ich liebe alles, was an ist der Oberfläche, verboten ist aber es. Nur Jäger und Schamanen hier dürfen hinauf. Alle Kinder nur an im Jahr einem Tag. Ich darf nicht das genießen.“ Balkar nickte. Ihm war schon zuvor aus ihren Erzählungen der Eindruck erwachsen, dass die unterste Kaste der Aequinocter nicht viel mehr Rechte als gewöhnliche Sklaven oder Leibeigene besaßen. Nur durch eine enorme Abgabe an den Rat der Schamanen konnte sich ein Tunnelgräber ein Leben in einer höheren Kaste erkaufen. Doch es war kaum möglich diese Abgabe in einem Leben zusammenzusparen, wie Ädonis Eltern es für ihre Tochter versucht hatten.
„Liebst du die Oberfläche mehr als die Tunnel?“, wollte Balkar nun wissen. Ädoni hob nichtssagend die Schultern, bevor sie nach kurzem Zögern nickte und ihn schuldbewusst ansah.
„Aber das nicht ich darf. Leben das in der Erde gut ist, aber nicht wie oben. Hier ist Freiheit.“ Balkar lächelte.
„Ja, hier ist die Freiheit und natürlich darfst du. Niemand kann dir vorschreiben, welche Gefühle du hegst.“ Die Kleine senkte den Kopf und Balkar meinte wieder ihr Singen zu vernehmen. Doch dieses Mal klang es seltsam dissonant und er wusste, dass sie fluchte, bevor sie einen Leisen Seufzer ausstieß und ihn wieder ansah.
„Aber macht es unglücklich.“, erklärte sie dann. Balkar wollte etwas erwidern, doch Ädoni schien die Unterhaltung nicht mehr fortsetzen zu wollen, denn sie wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und bahnte sich den Weg durch das Dickicht und zwischen den Bäumen hindurch. Schweigend folgte Balkar ihr eine ganze Weile, bis sie eine winzige Lichtung auf einem kleinen Hügel erreichten. Inzwischen war die Sonne vollständig aufgegangen und sandte ihre warmen Strahlen zwischen den Bäumen hindurch, in dem Bemühen die Dämmerung am Waldboden so weit wie möglich zu vertreiben. Auf der kleinen Lichtung angelangt bedeutete Ädoni ihm zu warten und kletterte auf einen Baum. Sie schwang sich so hoch in den Wipfel, dass Balkar sicher war, die Äste können selbst ihr Fliegengewicht nicht mehr tragen und müssen jeden Moment brechen. Dann hörte er einen hohen, singenden Ton, der von dem Wind weit über die Baumkronen hinaus getragen wurde. Ädoni wiederholte ihn auch in die anderen Richtungen, bevor sie behände wieder am Baumstamm hinabkletterte.
„Und was jetzt?“, erkundigte Balkar sich, als die Kleine wieder neben ihm stand.
„Wir warten!“, verkündete sie und ließ sich auf einem moosigen Fleckchen nieder. Nachdem Balkar sich neben sie ins taunasse Gras gesetzt hatte, erklärte sie:
„Dies ist meine Lichtung!“ Überrascht sah Balkar sie an.
„Deine?“ Ädoni nickte voller Stolz.
„Alle wichtigen Ereignisse einer Aequinocterfrau im Leben an der Oberfläche finden statt. Auch die Geburten. Meine Mutter hat zur Welt mich auf dieser Lichtung gebracht mitten in einem Gewitter. Aber als ich da war, schien die Sonne wieder.“ Dann schwieg Ädoni, legte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute in den Himmel hinauf. Es mochte wohl eine Stunde vergangen sein, als ein lautes Krächzen erklang. Wie der Blitz sprang das Mädchen auf die Füße und Balkar zuckte erschrocken zusammen, als es abermals diesen hellen, lauten Ton ausstieß, ähnlich dem eines Greifvogels. Schon im nächsten Augenblick erschien ein dunkler Vogel zwischen den Baumwipfeln und flatterte schnurstracks auf Ädoni zu. Sie streckte ihren Arm aus und im Nu landete er krächzend darauf. Seine Krallen schlossen sich nur leicht um Ädonis Arm ohne sie zu verletzen. Die große Krähe schlug noch ein-, zweimal mit den Flügeln, bevor sie diese anlegte und sich mit einem kurzen Schütteln Aufplusterte. Ädoni lachte und sang fröhlich auf den Vogel ein, als habe sie ihm eine ganze Menge zu erzählen. Hin und wieder krächzte ihr seltsamer Besuch und schließlich wandte das Mädchen sich wieder zu Balkar um, der sich ebenfalls erhoben hatte.
„Schwarzauge!“, verkündete sie fröhlich. „Er kann den Weg dir zu den nassen Bergen zeigen!“ Balkar hob die Augenbrauen und musterte den Vogel genauer. Erstaunt stellte er fest, dass auch er gemustert wurde. Mit schief gelegtem Kopf betrachtete ihn der Vogel aus dunklen Augen und gab schließlich ein fast fragend klingendes Krächzen von sich. Ädoni lachte. „Er will wissen du ob hast Käse. Er liebt Käse.“ Balkars Brauen wanderten noch ein Stück höher.
„Er will wissen? Heißt das, dass du dieses Gekrächze verstehst?“ Ädoni lächelte verlegen.
„Ich war einmal fleißig sehr und die Schamanin wollte mir geben eine Belohnung. Ich sie bat um einen Zauber der Verständigung mit Schwarzauge.“ Das erklärte zwar, warum das Mädchen mit dem Vogel sprach, als verstehe er jedes Wort, aber wie zu Teufel war sie an das Vieh gekommen, wenn sie die Oberfläche nur einmal im Jahr offiziell betreten durfte? Ädoni zuckte auf seine Frage hin mit den Schultern.
„Habe ihn gefunden wie Euch. Sein Flügel gebrochen war.“ Also noch jemand, den sie verletzt in einem Tunnel aufgegabelt hatte.

[ 2] Müde rieb Balkar sich über die Augen und legte die Pergamentblätter schließlich auf den nahen Tisch, bevor er zum Kamin hinüberging, das Feuer schürte und Holz nachlegte. Aus dem Kessel, der nahe den Flammen in einem eisernen Haken hing, goss er sich Wasser in einen Becher und gab einige Kräuterblätter aus einer Blechdose hinzu, die auf dem Kaminsims stand. Er hatte nun schon fast einen ganzen Monat in dieser Bibliothek zugebracht und niemand beschwerte sich mehr, wenn er sogar über Nacht hier blieb, ebenso wenig, wie einer der Bibliothekare noch etwas gegen seine schon bald häusliche Einrichtung am Kamin zu sagen wagte. Schließlich ließ Balkar sich wieder in seinen Sessel sinken und zog sich das zottige Wolfsfell um die Schultern, mit dem er der wachsenden Kälte in dem großen Raum zu trotzen versuchte. Morgen, beschloss er und nahm einen Schluck von dem würzigen Getränk, das ihn angenehm wach hielt. Morgen würde er zu Lynx gehen und ihr alles erzählen. Sie würde ihm glauben, wenn er ihr die alten Auszüge aus der Chronik von Selim dem Weisen zeigte. Vielleicht würde sie sogar derart neugierig werden, dass sie ihn zum Regengebirge begleitete und ihm selbst in den verwunschenen Wald jenseits der Berge folgte.
 

Lord Stark

Mitglied
hallo,

eine sehr eindringlich und malerisch beschriebene Einführung. Kann ohne weiteres mithalten mit den Schwarze-Auge Büchern, die ich gelesen habe, an atmosphärischer Dichte bis jetzt ist sie sogar besser. Arbeitest du an einem Buch? Bei diesem Talent hoffe ich es doch. Macht Lust auf mehr!

Lord Stark


P.S. 48 Leser und nur ich schreibe einen Beitrag? Oje, das sieht schwarz aus für die erhoffte Kritik für meinen..
 



 
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