fabel

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zora feldman

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Eine Fabel

An einem Winterabend, an dem die Kälte fast sichtbar wie Eiszapfen in der dunklen Luft hing, trabte ein einsamer Wolf durch den Wald. Man wird sagen hören, daß Wölfe immer in Rudeln leben, außer wenn sie sehr, sehr alt sind und bald sterben, aber dieser Wolf, in dessen Augen eine unlöschbare Einsamkeit hing, dieser Wolf war allein. Es gab kein Rudel, in dessen atmender Wärme er hätte schmelzen können. Dieser Wolf trabte durch den Wald, der wie erstickt war unter dem dämmenden Schnee, und ab und zu krächzte er einen einsamen Laut. Sein Körper hatte keine Konturen mehr, er war so kantig und steif wie die Winterluft. Nicht nur seine Rippen stachen hervor, auch an seinen Beinen schien das Fell direkt aus den Knochen zu wachsen. Vor Hunger lief das heiße Wasser aus seinem Maul, doch gefror es gleich auf seinen Lefzen. Er trabte mit der Sinnenlosigkeit der Einsamen, der Hungrigen und der Erfrierenden: er atmete so heftig, als wolle er das Lerben zu Ende bringen, das noch warm aus ihm dampfte.

Auf einer Lichtung im selben Wald hing ein Rehbock gefangen in einer Schlinge. Auch sein Fell war gefroren, der Angstschweiß hatte winzige Zapfen gebildet, und während der Rehbock seinen verzweifelten Kampf austrug, klirrte es wie ein verspottendes Glockenspiel. Seine Augen starrten in die Ferne, sein Maul war aufgerissen und das Blut an seinem Hals brach immer von neuem hervor, wenn er sich der vermeintlichen Freiheit entgegenwand.

Unbeschreiblich ist das Entsetzen, das sein erlahmendes Herz erneut antrieb, als der Wolf die Lichtung betrat. Gefrorenes Gras, Sträucher, die Kälte selbst stand wie eine Mauer zwischen ihnen. Hätte der Rehbock nicht versucht, die Beine fest auf den Boden zu stellen, um vor seinem Feind zu fliehen, hätten die kalten Augen des Wolfes ihn vielleicht nie bemerkt. Doch der Bock konnte den Impuls nicht unterdrücken, und so trabte der Wolf auf ihn zu, um seine geiferfeuchten Zähne in ihn zu jagen. Doch das tat er nicht. Er stand wie gebannt, für einen Augenblick trafen sich die Blicke des Wehrlosen und des Verzweifelten, dann begann der Rehbock wieder zu treten und zu zappeln, sinnlose Bewegungen der Flucht. Der Wolf stand und der Rehbock glaubte schon fast, er sei vor Kälte erstarrt, da zog der Wolf die Hinterläufte an und ließ sich nieder, mit wie zum Grinsen gebleckten Zähnen. Der Bock trat weiter und weiter, obwohl er selbst wußte, daß es kein Ziel gab, das er erreichen konnte. Schließlich sank er herab, die steifen Beine wie Stelzen, fremd, vom Körper wegstreckend. Eines knickte ein, worauf sich die eisie Schlinge sofort fester um seinen Hals zog. Er hievte sich keuchend hoch, doch seine Kraft trug ihn nur noch so weit, daß ihm sein Gewicht nicht zum Verhängnis wurde. Er starrte wie wahnsinnig zu dem Wolf, der noch immer saß und blickte wie die Winternacht, geduldig und kalt.
„Du“, sagte er, „warum tötest Du mich nicht, was? Warum tust Du nicht das, wonach sich Dein böses Maul sehnt, mein Fleisch reißen, mein Blut lecken, was?!“

Der Wolf blinzelte, genoß für einen Moment die Wärem, mit der seine Lider die erfrorenen Augen bedeckten.
„Heute ist ein besonderer Abend für die Menschen.“
„Was gehen sie mich an, die grausamen Wesen, die uns töten, ohne sich die Hände zu beflecken! Dank ihnen bin ich hier gefangen, der Kälte ausgeliefert!“
Der Wolf fletschte die Zähne und schwieg. Der Bock begann wieder zu kämpfen, vom Zorn angetrieben. Als wolle er diese Quelle der Wärme, der Energie aufrecht erhalten, keuchte er weiter: „Warum kommst Du nicht und bringst mich um? Fürchtest Du die grausamen Kreaturen, denen Du die Beute stiehlst? Wenn Du mich tötest, werde ich nicht klagen, denn das wäre Natur, nicht der künstliche Tod, den die Menschen mir bereiten!“
Der Wolf erhob sich und schlich unruhig hin und her.
„Du kannst mich nicht verstehen, Du kennst nicht diese Einsamkeit, die kälter ist als der Winter und beißender als der Hunger.“
„Was kümmert mich deine Einsamkeit, Wolf! Du willst mich fressen - für mich macht es keinen Unterschied, ob es ein wolf oder ein Rudel ist!“
Der Wolf setzte sich wieder und hielt den Schädel schief.
„Ich möchte jemandem ein Geschenk machen. Ich möchte Dankbarkeit spüren, vor mein Leben versickert. Dich will ich beschenken.“
Der Rehbock hielt inne.
„Ich möchte Dir das schenken, was Du Dir bald mehr wünschen wirst als alles andere. Den Tod.“

Die Momente, die darauf folgten, waren still und dunkelblau vor Kälte. Der Himmel lag wie eine Eisschicht über der Welt, wie eine Samtdecke, die jeden Ton erstickt. Die Bäume wurden schwärzer, die Kälte immer lauter, je stiller der Wolf in seiner Geduld und der Rehbock in seinem verzweifelten Kampf. Noch immer wehrte sich der Bock, er trat, zappelte, raste; der Schaum, der ihm vor das Maul trat, gefror. Dass Blut machte den Draht warm und glatt, der Dampf, der von dem zuckenden Körper aufstieg, ließ die Augen des Wolfes glitzern.
Die erfrorene Zeit verging, und schließlich kreischte der Rehbock: „Jetzt, Wolf, jetzt wünsche ich mir den Tod; bitte, bitte töte mich, befreie mich aus der Qual!“
Der Wolf machte einen Satz auf ihn zu, doch der Ausdruck in den Augen seines Opfers hielt ihn zurück.
„Du fürchtest Dich noch immer, Reh, Du hast den Winsch nicht von Herzen, sondern aus Furcht.“ Und er setzte sich wieder, ohne den Blick zu senken. Der Bock schluchzte nur noch und rappelte sich ab un zu kraftlos hoch. Es gab nicht mehr, was ihn trieb. Weitere Zeit verstrich, das erschöpfte Zucken des Rehs war das einzige Zeichen für den schwerfälligen Fluß der Minuten. Nun ließ er sich hängen, der Draht am Hals, die Kälte der Glieder, es machte keinen Unterschied, es war alles ein einziger eisiger Mantel aus Schmerz.
Seine Lider flatterten, er blickte zum Wolf hinüber, ohne Ausdruck. Der Wolf kam zögernd heran. Leise ging der Hauch eines einzigen Wortes über die Gräser: „Bitte - “ Und der Wolf legte endlich, endlich seine Kiefer an den Hals des Rehbocks und mit glühenden Augen senkte er die Zähne in das dankbare, weiche, nachgiebeige Fleisch. Es war Weihnachten.
 

Bonnie Darko

Mitglied
Hallo zora,

ich finde die Idee gut, denn ich mag Märchen/Fabeln, die mich eher traurig stimmen, oder die nicht mit einem Happy End enden. Es kommt ein gewisser Zynismus rüber, ein Wunsch, zu verstören. Auch das finde ich in Ordnung.

Deine Beschreibung (vor allem der eisigen Kälte etc.) ist in meinen 'Ohren' allerdings manchmal hölzern, übertrieben oder unstimmig. Wie kann zum Beispiel etwas, das als kantig beschrieben wird, keine Konturen haben? Du versuchst auch sehr viel durch Adjektive zu beschreiben, als fürchtest du, daß es sonst nicht richtig beim Leser ankommt. Zum Beispiel betonst du immer wieder wie eisig es ist. Das war mir manchmal fast schon zu viel.

Der Wolf wird als "geduldig und kalt" beschrieben (so kommt er auch rüber), fletscht aber dann immer wieder zwischendurch das geifernde Gebiß/Maul. Das hat mich auch ein bißchen irritiert, weil ich das für einen Widerspruch halte. Soll er nun vor allem emotionslos rüberkommen oder als wildes Tier? Vielleicht ist das Haarspalterei, aber du kannst ja mal drauf achten.

Das ist erstmal eine spontane Rückmeldung.
Ich hoffe, daß mein Kommentar noch durch andere Meinungen ergänzt und vielleicht auch widerlegt wird. ;)

Gruß,
Bonnie
 



 
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