Fading rainbow, lingering hope

Gertrude

Mitglied
Sie schlägt die Augen auf. Wie lange sie vor sich hingedöst hatte, kann sie nicht sagen. Sonnenstrahlen fallen schräg in die linke Zimmerecke, wo ein einfacher Tisch mit zwei weißen Plastiksesseln steht. Langsam versucht sie, sich aufzurichten. Das karge Zimmer spiegelt ihre schwächelnde Gesundheit wider, und die bleichen Wände scheinen die Düsterheit zu absorbieren, die sich in ihrem Inneren ausgebreitet hatte.

„Wenn ich doch nicht so müde wäre“, flüstert sie leise, darauf bedacht, niemanden zu stören. Sie blickt sich um, da ist niemand, sie ist allein. Ihr war entfallen, dass sie in ein Einzelzimmer verlegt worden war. Allmählich verdichten sich ihre Gedanken. Ein Blick auf den Seitentisch zeigt ihr, dass die Schwester unbemerkt an ihr Bett gekommen war, um ihren Tablettenblister aufzufüllen. Daneben steht ein kleiner Teller mit Essen, den man ihr bereitgestellt hatte. Seit drei Wochen liegt sie nun hier. Jeder Tag, jede Stunde bringt sie ihrem Ende näher. Der immer wieder über sie hereinfallende Dämmerschlaf hat etwas Gnädiges. Für einen kurzen oder auch längeren Zeitraum hören ihre Gedanken auf zu kreisen. Die Angst vor dem Unausweichlichen kehrt in den einsamen Nachtstunden zurück.

Es ist nicht fair! Zuerst der unverschuldete Unfall, an dessen Folgen sie seit Monaten laboriert und nun das. Noch vor einigen Wochen war sie guten Mutes.

„Es geht bergauf“, erzählte sie ihrer Schwägerin am Telefon.

„Ich mache schon, wenn auch am Stock, kleine Spaziergänge.“ Sie versprühte Zuversicht. Alles schien sich zum Besseren zu wenden. Und dann der Urknall: Müdigkeit, Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit und deutliche Zeichen am Körper. Zeichen, die Vorboten ihrer todbringenden Erkrankung sind.

„So schnell ist das Leben vorbei“, sagt sie seufzend. Für den nächsten Tag sind wieder Untersuchungen angesetzt, vor denen sie sich fürchtet, nicht, weil sie möglicherweise unangenehm oder schmerzvoll sind, sondern weil sie wieder in die ratlosen und betrübten Augen ihrer Familie schaut. Was soll sie ihnen sagen? Seid nicht traurig?

Ihr Handy vibriert. Ein kurzer Blick sagt ihr, dass es ihr Mann ist, mit dem sie ausgemacht hat, dass sie zurückrufen wird, wenn sie die Energie und Kraft aufbringt zu sprechen. Ihr Mann Manfred, den sie seit ihrer frühen Jugend kennt. „Was wird aus ihm werden, wenn ich nicht mehr an seiner Seite bin?“ Erschöpft sinkt ihr Kopf in das Kissen, das sie versucht hatte aufzuschütteln. Kaum reicht ihre Luft aus, ein Kraftakt, doch sie will es alleine schaffen.

Unmerklich sinkt die Dämmerung in das Krankenzimmer und hüllt mit ihrem Schweigen den Raum in eine zeitlose Schwerelosigkeit. Sie lässt es zu. Sie fühlt sich zu diesem Zeitpunkt so wohl, dass sich ihre Lider sanft schließen. Sie glaubt zu schweben, so, als ob ein Windhauch ihren zarten und fragilen Körper hochhebt und mit sich nimmt auf seine Reise durch Welten ohne Raum und Zeit. Ein Lächeln huscht über ihre eingefallenen Wangen. Warum sie lächelt, weiß nur sie.

Fast auf Zehenspitzen schleicht die Visite herein. Eine diensthabende Ärztin steht an ihrem Bett und sieht auf ihre lächelnden Gesichtszüge herab. Was hinter den geschlossenen, leicht zuckenden Augenlidern der Patientin vor sich geht, erschließt sich ihr nicht. Nur so viel ist klar, dass jetzt gerade, genau in diesem Augenblick etwas Schönes am geistigen Auge der von Krankheit gezeichneten Frau vorbeizieht. Die Ärztin will sie nicht stören und zieht sich zurück.

„Dieser intime Moment ist kostbar und unteilbar“, denkt sie, als wiederum das Handy vibriert. Kurz dreht sie sich um, um nachzusehen, ob die Patientin aufwacht.

„Brrrrrr…..macht das Telefon ungefähr dreimal, dann ist es still. Von draußen ist das abendliche Vogelgezwitscher zu hören. Über den Flur hallen kurze, abgehackte Schritte, heisere Gesprächsfetzen dringen durch die Türe. Aus dem Nachbarzimmer ist ein Fernsehsprecher undeutlich zu hören und das Klirren von eingesammeltem Geschirr ist zu vernehmen. Die Finger der rechten Hand kratzen an der Bettdecke, das sieht die Ärztin noch, bevor sie ungesehen das Zimmer verlässt.



Ein Krachen reißt sie aus dem Dämmerzustand. Unwillkürlich zuckt sie zusammen. Sie tastet nach dem Lichtschalter, denn während ihres Schlafes war es dunkel geworden im Zimmer. Nur der Fernseher, der an ihrer linken Seite des Bettgestells angebracht war, flimmert in der Finsternis. Plötzlich dringt ein Lichtschein herein. Der Nachtdienst bringt eine neue Infusionsflasche, die während der Nachtstunden langsam in ihre Venen tropft. Eine Prozedur, die sich Tag für Tag und Nacht für Nacht wiederholte.

„Sie werden schon sehen, bald wird es Ihnen wieder besser gehen“, versucht die Schwester, sie aufzumuntern. „Warum tut sie das? Mut machen? Wofür?“, überlegt sie. Ein prüfender Blick auf die Infusion und ein sanfter Händedruck der Schwester, dann ist sie wieder draußen. Es warten in jedem Zimmer Patienten auf ihre Medikamente und vielleicht auch auf Zuspruch. Sie ist wieder allein mit ihren Gedanken. Die düsteren Prognosen hängen wie ein Damoklesschwert über ihrem Leben. Trotz allem hält sie an einem Gefühl von aufkeimender Hoffnung fest. Sicher, sie weiß, dass es keine Heilung gibt. Aber die Aussicht auf Stabilisierung und möglicherweise einer Kräftigung steht hoffnungsvoll im Raum.

Ihr Mund verzieht sich zu einem geheimnisvollen Lächeln. Ihr Enkel hatte ihr bei seinem Besuch versprochen, sie mit dem Auto um den See zu fahren. Mit einem Mal riecht sie förmlich die frische Seeluft und hört im Inneren die Geräusche und Laute vom Seeufer. Der Sommer war ihre Lieblingsjahreszeit, in der sie, wann immer es möglich war, in das Strandbad radelte und den Tag dort verbrachte. Das Strandbad war zu ihrem zweiten Wohnzimmer geworden, und seitdem ihre Tochter aus dem Ausland zurückgekehrt war, konnten sie gemeinsam viel Zeit am See verbringen, während Manfred, ihr Manfred, mit dem sie ein ganzes Leben zusammen war, lieber zuhause blieb.

„Es ist wohl erst April. Ob ich den Sommer erleben?“ Nachdenklich starrt sie in die Leere. Die gegenüberliegende kahle, weiße Wand, die ihr ins Gesicht leuchtet, lässt das Gesicht noch fahler erscheinen als es ist.

„Manfred ruft an“, steht auf dem Display des vibrierenden Handys. Sie greift nach dem Telefon und drückt auf „Annehmen“.

„Na du“, beginnt Manfred das Gespräch, „habe ich dich aufgeweckt?“

„Ah na“, erwidert sie, „ich hänge wieder am Tropf. Die Schwester war da.“ Ein plötzlicher Hustenanfall unterbricht das zerbrechliche Gespräch. Einige Sekunden vergehen, viel zu lange für Manfred, der ohnmächtig zuhört, wie seine Frau nach Luft ringt.

„Geht schon wieder“, keucht sie leise in den Hörer.

„War ein Arzt da?“, ist seine nächste Frage.

„Nein. Morgen vor der Untersuchung, in der Früh wird er kommen“, antwortet sie. Ein erneutes Räuspern, dann kündigte ein Krächzen den nächsten Hustenanfall an.

„Wir telefonieren morgen um fünf Uhr, wie immer“, wirft Manfred schnell ein und legt auf, um seine Frau zu schonen.

Die wenigen Sätze, die sie miteinander gesprochen hatten, erschöpften sie. In ihren Ohren tröpfeln die letzten Worte, die er zu ihr gesagt hatte. Seine Sorge um sie lag in seiner Stimme. Seit sie hier im Krankenhaus liegt, versucht er Optimismus zu versprühen. Jedes Mal, wenn er zu Besuch kommt, läuft er Hals über Kopf zum Schwesternstandort, lässt sich die Befunde erklären, treibt verzweifelt geselliges Lachen in die ernste Unterhaltung, um sich entspannt zu geben, wenn er wieder das Zimmer seiner Frau betritt. Zwischen den Besuchszeiten schlingt er in einem Beisl warmes Essen hinunter, telefoniert mit seiner Tochter und hängt in langen, einsamen Spaziergängen seinen freudlosen Gedanken nach.

„Ein Leben ohne sie? Wie wird es sein, denkt er. Wenige Augenblicke später trifft er einen Nachbar.

„Wie geht es ihr?“ Mitfühlend, ja. Aber ein neuer Stich ins Herz. Ihm fehlen die Worte, obwohl er normalerweise – aber was ist schon normal? – immer etwas zu sagen hat. Der Nachbar versteht, drückt ihm die Hand und geht weiter. Manfred setzt seinen Weg fort. Schließlich richtet sich sein Blick auf die Armbanduhr. Er trägt noch eine, was seine Enkelkinder amüsiert. In einer halben Stunde geht er zurück ins Krankenhaus. Er lässt sich stumpf an diesen unheilvollen Ort treiben, wo er alle Hoffnungsschimmer wie zerbrochene Glasscherben einsammelt, um daraus ein Zukunfst-Puzzle für sich und seine Frau zu bauen.

Auf einmal hat er es eilig. Statt die Treppe, wie sonst zu nehmen, stürzt er zu einem Aufzug, der ihn in den vierten Stock der Klassepatienten bringt. Als die Türen sich öffnen, springt er hastig heraus, den Blick entschlossen auf den Zimmernummer 412 gerichtet. In der rechten Hand hält er sein Telefon, mit dem er seine Frau anruft. Nichts! Er hetzt den Gang entlang, reißt die Türe auf. Sie ist nicht da. Auf dem mobilen Beistelltisch blinkt ihr Handy: „Manfred ruft an“.
 



 
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