Melani Raasch
Mitglied
Falke bleib!
[ 2]Die Nacht bricht herein, Schatten werden länger, greifen mit gespenstisch langen Fingern nach den Schrecken des Tages um sie in der Dunkelheit zu verbergen. Das letzte, fahle Licht blitzt über die Berge und verschleiert mit dunstigen Nebelschwaden das blutige Bad. Grau und leblos erscheint das weite, sonst von frischem Grün durchzogene Land.
[ 2]Wind kommt auf, zaust ihre wilde Mähne, reißt an den dichten Flechten und streicht mit dem eisigen Hauch nahender Kälte über die bloße Haut von Armen und Wangen. Glühende Augen blicken hinab in ein Tal voller Grauen. Ein Tal, das Frieden hätte bringen sollen. Endlich! Doch sie ist zu spät gekommen.
[ 2]Verloren, eine einzelne Träne rinnt über das von Trauer verzerrte Gesicht, ungesehen, unbeachtet, tropft hinab ins feuchte Gras und vermischt sich mit der Feuchtigkeit, die langsam aus dem Boden kriecht. Eisige Klauen greifen nach dem warmen Herz, packen zu und zwingen die gehegte Hoffnung daraus hervor. Ein wilder Schrei steigt in der Tiefe auf, doch bleibt er in der Kehle stecken, die von maßlosem Entsetzen zugeschnürt den Atem fast verwehrt.
[ 2]Keuchend steht er da, gestützt auf das lange Schwert. Am Morgen erschien es noch so leicht. Nun liegt es schwer in seiner Hand, zieht den muskulösen Arm nach unten, als habe jede Wunde, welche die Klinge schlug, sie mit einer weiteren Schicht Blei statt Blut überzogen. Kalte Schauer rinnen über seinen Rücken wie Schweiß über sein Gesicht. Die Glieder schmerzen, die Muskeln protestieren bei jeder Bewegung und doch zwingt er sie zum Gehorsam. Leben! Hier muss doch irgendwo noch Leben sein! Doch die verschleierten Augen sehen nichts, wollen nichts mehr sehen, haben an diesem Tag schon viel zu viel erblickt.
[ 2]Der Tag geht, das Licht schwindet und lässt nichts als Dunkelheit, im Tale und in den wenigen noch schlagenden Herzen. Nebel erhebt sich, legt sich wie ein gnädiger Schleier über den Boden, doch alles zu bedecken vermag er nicht. Der Blick schweift zum Himmel. Ein Stern blinkt über dem nahen Hügelkamm auf, wie ein widersinniger Schimmer kommender Hoffnung, die es niemals geben wird, die längst vergangen ist. Sonst sieht er nichts als Tod. Er senkt den Kopf, wendet sich ab, will gehen und weiß doch nicht wohin.
[ 2]Ein Schrei zerreißt die kalte, erschreckend klare Luft über dem Tal. Endlich hat er sich befreit, schwingt sich hoch in die Lüfte und fliegt wie ein Falke über das grauenvolle Schlachtfeld.
[ 2]Sein Kopf fährt hoch und winzige Schauer rieseln über seinen breiten Rücken. Der Schrei, der in seiner eigenen Seele steckt, sein Schrei und doch der einer anderen Seele. Er wendet sich um, zurück zu dem Stern, den er blinken sah. Da steht sie! Oben auf der Hügelkuppe, direkt unter dem noch schwachen Licht der Nacht. Gerade, aufrecht, wie eine Königin und doch drückt ihre Haltung nichts als Kummer und Verzweiflung aus. Das lange, dunkle Haar gleicht gesponnener Finsternis und weht in einer wilden Mähne um ihr Haupt. Dünne Fäden darin fangen die letzten flirrenden Lichtstrahlen und verwandeln sie zu glitzerndem Gold. Obgleich er nicht viel erkennen kann, so weiß er doch eins:
[ 2]Ein Mensch ist sie nicht! Die Flügel heben sich schwarz vor dem dämmrigen Hintergrund des Himmels ab, doch die grazilen Knochen, um die sich die samtene Haut spannt, glänzen wie lichter Bernstein und leuchten wie eine Verheißung der Sonne. Die großen, hellen Augen blicken gen Himmel, als könnten sie dort eine Antwort finden, doch der Wind bleibt stumm, spielt bloß mit ihrem Haar, als wolle er sie vor aller Welt verhöhnen.
[ 2]Ja, du bist zu spät, denkt er. Ihre Hände, schmal und grazil halten den Stab, doch fest ist der Griff um das schwarze Holz. Sie weiß es. Sie weiß, dass sie zu spät ist. Wieder zerreißt ihr klagender Schrei die Luft, doch er bringt die Toten nicht wieder, weist ihnen nur den Weg in die ewige Ruhe.
[ 2]Sein Herz fliegt ihr zu, weiß er doch wie sie fühlen muss, kennt er doch ihre Qual, weil es seine eigene ist. Aber das Licht des Tages schwindet immer mehr und Dunkelheit umfängt das Tal. Umfängt auch ihn. Mit gnädiger Hand? Nein, nicht Gnade ist es. Sein Blick sucht sie, findet sie und muss doch untätig zusehen, wie sie sich abwendet vom Angesicht ihrer Qual. Nimm mich mit dir! Doch sie hört ihn nicht, kann ihn nicht hören, weil seine Stimme stumm bleibt. Die Knie geben nach und er sinkt auf die zerstampfte Erde. Das Schwert entgleitet seiner verkrampften Hand, hat sie es doch schon viel zu lange halten müssen. Warm ist das Blut, das aus der breiten Wunde strömt, wie das Leben, das den Körper langsam verlässt. Trüb wird der Blick, doch abwenden kann er ihn nicht. Sucht die schlanke Gestalt, hoch über ihm, den Kopf nun gesenkt, die Flügel wie einen Mantel um die Schultern geschlungen, als könnten sie vor der klirrenden Kälte des Todes schützen. Falke warte auf mich! Doch sie geht und er bleibt in Dunkelheit zurück, die ihn umhüllt wie das sanft gemurmelte Versprechen von falschem Schlaf.
[ 2]Noch nicht zu spät, diesmal nicht. Sie fliegt – mit der Zeit. Jeder Flügelschlag bringt sie weiter, führt sie näher an ihr Ziel. Sie kann es schaffen, muss es sogar. Das Herz hämmert in der Brust, von Hoffnung erfüllt. Doch ein banger Schatten der Furcht lauert im Hintergrunde. Wartet auf den günstigen Augenblick, einen schwachen Augenblick um ihr die Bilder zu zeigen, immer wieder. Bilder, die sie nicht vergessen kann.
[ 2]Kraftvoll schlagen die Flügel und doch... So viele Male schon waren sie zu schwach. Zu schwach um mit der Zeit mitzuhalten, die rasend dahinfliegt. Doch diesmal nicht! Diesmal darf es nicht sein, darf sie nicht zu spät kommen. Sie weiß es.
[ 2]Schon zu viele Male zuvor ist es geschehen. Hoffnung streitet mit Furcht. Der Kampf in ihrem Innern nimmt ihr den Atem, will sie lähmen, straucheln lassen. Aber das darf er nicht. Zu viele Kämpfe schon gewonnen wie verloren sind und keiner Sieger blieb.
[ 2]Der Wille treibt sie an, eisern entschlossen legt sie alle Kraft in die mächtigen Schwingen, die mit jedem Schlag die Winde um Hilfe rufen. Ein Berg noch, ein Tal. Vor ihr erheben sich die Mauern, hoch ragen die Türme in die Schwärze der Nacht, nur von fahlem Mondlicht von den Schatten der Dunkelheit getrennt.
[ 2]Sie fliegt mit der Zeit, gegen die Zeit. Braust über die Winde. Lautloser Flug jagt durch die Nacht. Unter ihr eine gewundene Straße, ein kleiner Trupp von Reitern. Noch nicht zu spät, sie eilt.
[ 2]Schwebt über die hohen Mauern und sinkt auf den mächtigsten aller Türme nieder. Schultern und Flügel schmerzen, die Kraft schwindet ihr. Doch der Wille bleibt, treibt sie voran eine dunkle Treppe hinab ins Innere der Burg. Im Laufen noch schlingt sie die müden Schwingen um ihre Schultern, bedeckt sie mit einem weitern Mantel, so wie die Kapuze ihr dunkles Gesicht verbirgt. Die Halle, hell erleuchtet vom warmen Glanz der Kerzen, Stimmengewirr, fröhlich ausgelassen. Ein Stich in ihr Herz, dies wird sie nie erfahren: Herzlichkeit. Denn sie ist immer Bote schlechter Kunde.
[ 2]Eine Magd, sie hält sie auf. Die Hand um den Arm des Mädchens ist kühl, aber sanft. Große Augen mustern fragend die verhüllte Gestalt mit dem hohen, dunklen Stab.
„Bring mich zu deinem Herrn!“ Ohne ein Widerwort führt man die Fremde vor die hohe Tafel an der Stirnseite des Saales. Viele Männer, starke, mutige Krieger und in ihrer Mitte der größte von allen. Sie beugt sich ihm nicht, erweist keine Ehre, hat keinen Herrn außer dem einzigen, höchsten.
[ 2]Doch sie ist Bote schlechter Kunde. Aufrecht und gerade ihre Haltung, klar die Worte, welche die vielen Stimmen übertönen.
„Gefahr droht Euch, hoher Herr. Ein guter Herrscher, doch nicht mehr lange, so Ihr nicht handelt. Der Feind naht und fliegt auf den Schwingen der Zeit, die Ihr bereits verloren habt!“ Stille im Saal. Niemand regt sich.
[ 2]Langsam erhebt er sich, nimmt den festen Blick nicht von der schlanken Gestalt, während die langen Schritte ihn um die Tafel herumführen. Seltsam vertraut erscheint die aufrechte Haltung, doch kein Gesicht zeigt das weite Gewand, keine Erinnerung.
[ 2]Hoch ragt er auf, steht so dicht vor ihr, dass sie den Kopf in den Nacken legen müsst, wollte sie dem Blick der strengen Augen begegnen. Sie reicht kaum bis an das herrische Kinn, zierlich und zerbrechlich klein wirkt ihre Gestalt vor der des Riesen. Doch sie weicht nicht zurück.
„Wer bringt diese rätselhafte Kunde?“ Die Stimme dunkel, ruhig, und doch – sie fragt nach Antwort. Antwort, die sie nicht geben kann, nicht geben darf. Nur einen kurzen Blick will sie wagen in das stolze Gesicht über ihr. Sehen darf er sie nicht, darf die Schatten der Kapuze nicht durchdringen.
[ 2]Das Aufblitzen von Bernstein durchschneidet seine Erinnerung wie ein Blitz die dunkle Gewitternacht. Schon senkt sich das Haupt wieder. Ohne Zögern greift die große Hand nach der Kapuze und streift sie hinab, doch langsam, fast bedächtig, nicht sicher, was sie darunter finden wird. Ein leises Raunen flieht durch die Halle. Staunen, Fassungslosigkeit spiegeln die Gesichter wider. Doch nicht das seine.
[ 2]Er sieht in ein feines Antlitz, schön und ebenmäßig, zugleich fremd und unirdisch. Haut von schimmerndem Grau, die vollen Lippen in dunklerem Ton, Haar schwarz wie die Finsternis und lang wie die Nächte im Winter. Doch Augen groß und leuchtend wie brennende Bernsteine.
[ 2]Sein silbergrauer Blick leuchten auf. Überraschung, Erstaunen? Nein, sie beobachtet, wie seine Augen sich zu schmalen Schlitzen verengen. Misstrauen sammelt sich in ihren Tiefen, tritt kalt und unbarmherzig an die Oberfläche. Es ist die Gewissheit, die ihr eisige Schauer über den Rücken jagt und sie zugleich innerlich verbrennt. Die Gewissheit, in diesem stählernen Blick Erkennen gelesen zu haben.
„Du!“ Er tritt einen Schritt zurück, mustert sie noch eindringlicher. „Wieder bringst du schlechte Kunde. Sag, kommst du auch diesmal schon zu spät, Falke?“ Bosheit? Nein, Bitterkeit tönt aus der dunklen Stimme. Doch woher?
[ 2]Verwirrung. Er kennt sie, erkennt sie! Das kann er nicht wissen, unmöglich, doch er weiß, dass sie gefehlt hat. Dumpf hallen die Worte in ihrem Kopf nach. Wieder bringst du – auch diesmal schon zu spät. Nein, er kann nicht wissen, kann nicht kennen. Und doch...
[ 2]Sie tritt auf ihn zu, leise, sucht nach Antwort, wo sie kaum zu fragen wagt. Eine zarte, feingliedrige Hand hebt sich. Sacht streicht ihr Rücken über die finsternisumwölkte Stirn. Bilder kehren zurück, wie schon einmal diese Nacht – doch anders diesmal.
[ 2]Ein Schlachtfeld, wie so viele schon, Blut, Tod, Dunkelheit. Sie sieht alles noch einmal und doch ist es anders. Das Tageslicht schwindet, Nebel erhebt sich aus der Erde, versucht die Schrecken zu verbergen und ist doch zu dünn um das Grauen zu beenden. Sie sieht, was er sah. Ihre Hand wandert hinab zu der breiten, mächtigen Brust und legt sich voller Staunen auf die lange Narbe, die diese überquert.
[ 2]Erstaunen flackert in den silbergrauen Tiefen auf, nur kurz. Wie kann sie davon wissen, ist doch die längst verheilte Wunde von Kleidern verdeckt wie ihre Flügel von dem weiten Mantel. Als wäre sie durch die zarte Berührung wieder aufgebrochen, spürt er erneut den alten Schmerz.
[ 2]Sie sieht, sieht sich selbst durch seine Augen. Hoch auf dem Hügel, das letzte Licht schwindet hinter ihr. Sie sollte Hoffnung bringen, er weiß es, obgleich es gar nicht sein kann. Hoffnung, doch sie kommt zu spät, viel zu spät. Kommt zu spät und wendet sich ab. Lässt ihn in Dunkelheit zurück.
[ 2]Überraschen, Unglauben erfassen sie. Er gibt ihr die Schuld daran. Schuld an allem und Schuld an seinem Schmerz. Immer noch, selbst diese Nacht! Eine feste Hand umschließt das zarte Handgelenk. Der stählerne Griff beendet die Berührung. Seine Augen – kalt, vorwurfsvoll.
[ 2]Er lässt sie los, stößt sie gleichsam von sich. Rau klingt die Stimme in der Stille.
„Geh, Falke! Hierher bringst du dein Unheil nicht!“ Langsam schüttelt die zierliche Gestalt das Haupt. Dunkles Haar bewegt sich wie Wellen der Nacht. Doch schwarz erscheint es nicht, vielmehr fangen dünne Fäden goldenes Licht der Kerzen ein und verwandeln es in lichten Bernstein. Er hat es schon mal gesehen, es schürt noch seinen Zorn. Sie erscheint wie Sonnenlicht und doch bringt sie nur Botschaften von tiefer Dunkelheit.
[ 2]Wie soll sie es ihm erklären? Er wird ihr nicht glauben, nicht glauben wollen, dass nicht sie es ist, mit der die Finsternis kommt. Die Zeit fliegt, holt sie wieder ein. Das Unheil kommt näher. Sie spürt es mit jedem Herzschlag. Eine Bewegung, aus dem Augenwinkel erfasst. Ein Fenster, Schatten darin. Lebendig, tödlich. Sirrend durchschneidet das Schicksal die Luft.
[ 2]Der Schrei des Falken gellt durch den Saal, dann trifft das leichte Gewicht der zierlichen Gestalt auf seine Brust. Starke Hände greifen zu, halten instinktiv fest ohne nachzudenken.
[ 2]Schmerz explodiert im Rücken, rast durch den Körper und sprengt die Brust. Die leuchtenden Augen weiten sich. Wie Edelstein der Sonne glüht ihr Blick, brennt sich in sein Herz.
[ 2]Lautes Rufen erfüllt die Halle, Männer stürzen hinaus, dem Fensterschatten nach. Er versucht zu fliehen in die Finsternis der Nacht, doch er wird scheitern. Wird scheitern, weil sie rechtzeitig gekommen ist.
[ 2]Kein weiterer Schrei durchdringt die Luft. Die Stimme klingt seltsam leise, zittert leicht.
„Diesmal nicht! Diesmal bin ich nicht zu spät. Nicht für Euch!“ Das Lächeln zaghaft, der Blick aus den Bernsteinaugen viel zu ruhig für den Schmerz, der in ihrem Innern tobt.
[ 2]Entsetzt starrt der Silberblick auf die tödliche Spitze, die aus ihrer Brust ragt, fliegt hoch zu dem zarten Antlitz und bereut jedes Wort des Misstrauens. Für ihn war dieser Pfeil bestimmt.
[ 2]Doch zu spät! Diesmal ist er zu spät!
[ 2]Die Nacht bricht herein, Schatten werden länger, greifen mit gespenstisch langen Fingern nach den Schrecken des Tages um sie in der Dunkelheit zu verbergen. Das letzte, fahle Licht blitzt über die Berge und verschleiert mit dunstigen Nebelschwaden das blutige Bad. Grau und leblos erscheint das weite, sonst von frischem Grün durchzogene Land.
[ 2]Wind kommt auf, zaust ihre wilde Mähne, reißt an den dichten Flechten und streicht mit dem eisigen Hauch nahender Kälte über die bloße Haut von Armen und Wangen. Glühende Augen blicken hinab in ein Tal voller Grauen. Ein Tal, das Frieden hätte bringen sollen. Endlich! Doch sie ist zu spät gekommen.
[ 2]Verloren, eine einzelne Träne rinnt über das von Trauer verzerrte Gesicht, ungesehen, unbeachtet, tropft hinab ins feuchte Gras und vermischt sich mit der Feuchtigkeit, die langsam aus dem Boden kriecht. Eisige Klauen greifen nach dem warmen Herz, packen zu und zwingen die gehegte Hoffnung daraus hervor. Ein wilder Schrei steigt in der Tiefe auf, doch bleibt er in der Kehle stecken, die von maßlosem Entsetzen zugeschnürt den Atem fast verwehrt.
[ 2]Keuchend steht er da, gestützt auf das lange Schwert. Am Morgen erschien es noch so leicht. Nun liegt es schwer in seiner Hand, zieht den muskulösen Arm nach unten, als habe jede Wunde, welche die Klinge schlug, sie mit einer weiteren Schicht Blei statt Blut überzogen. Kalte Schauer rinnen über seinen Rücken wie Schweiß über sein Gesicht. Die Glieder schmerzen, die Muskeln protestieren bei jeder Bewegung und doch zwingt er sie zum Gehorsam. Leben! Hier muss doch irgendwo noch Leben sein! Doch die verschleierten Augen sehen nichts, wollen nichts mehr sehen, haben an diesem Tag schon viel zu viel erblickt.
[ 2]Der Tag geht, das Licht schwindet und lässt nichts als Dunkelheit, im Tale und in den wenigen noch schlagenden Herzen. Nebel erhebt sich, legt sich wie ein gnädiger Schleier über den Boden, doch alles zu bedecken vermag er nicht. Der Blick schweift zum Himmel. Ein Stern blinkt über dem nahen Hügelkamm auf, wie ein widersinniger Schimmer kommender Hoffnung, die es niemals geben wird, die längst vergangen ist. Sonst sieht er nichts als Tod. Er senkt den Kopf, wendet sich ab, will gehen und weiß doch nicht wohin.
[ 2]Ein Schrei zerreißt die kalte, erschreckend klare Luft über dem Tal. Endlich hat er sich befreit, schwingt sich hoch in die Lüfte und fliegt wie ein Falke über das grauenvolle Schlachtfeld.
[ 2]Sein Kopf fährt hoch und winzige Schauer rieseln über seinen breiten Rücken. Der Schrei, der in seiner eigenen Seele steckt, sein Schrei und doch der einer anderen Seele. Er wendet sich um, zurück zu dem Stern, den er blinken sah. Da steht sie! Oben auf der Hügelkuppe, direkt unter dem noch schwachen Licht der Nacht. Gerade, aufrecht, wie eine Königin und doch drückt ihre Haltung nichts als Kummer und Verzweiflung aus. Das lange, dunkle Haar gleicht gesponnener Finsternis und weht in einer wilden Mähne um ihr Haupt. Dünne Fäden darin fangen die letzten flirrenden Lichtstrahlen und verwandeln sie zu glitzerndem Gold. Obgleich er nicht viel erkennen kann, so weiß er doch eins:
[ 2]Ein Mensch ist sie nicht! Die Flügel heben sich schwarz vor dem dämmrigen Hintergrund des Himmels ab, doch die grazilen Knochen, um die sich die samtene Haut spannt, glänzen wie lichter Bernstein und leuchten wie eine Verheißung der Sonne. Die großen, hellen Augen blicken gen Himmel, als könnten sie dort eine Antwort finden, doch der Wind bleibt stumm, spielt bloß mit ihrem Haar, als wolle er sie vor aller Welt verhöhnen.
[ 2]Ja, du bist zu spät, denkt er. Ihre Hände, schmal und grazil halten den Stab, doch fest ist der Griff um das schwarze Holz. Sie weiß es. Sie weiß, dass sie zu spät ist. Wieder zerreißt ihr klagender Schrei die Luft, doch er bringt die Toten nicht wieder, weist ihnen nur den Weg in die ewige Ruhe.
[ 2]Sein Herz fliegt ihr zu, weiß er doch wie sie fühlen muss, kennt er doch ihre Qual, weil es seine eigene ist. Aber das Licht des Tages schwindet immer mehr und Dunkelheit umfängt das Tal. Umfängt auch ihn. Mit gnädiger Hand? Nein, nicht Gnade ist es. Sein Blick sucht sie, findet sie und muss doch untätig zusehen, wie sie sich abwendet vom Angesicht ihrer Qual. Nimm mich mit dir! Doch sie hört ihn nicht, kann ihn nicht hören, weil seine Stimme stumm bleibt. Die Knie geben nach und er sinkt auf die zerstampfte Erde. Das Schwert entgleitet seiner verkrampften Hand, hat sie es doch schon viel zu lange halten müssen. Warm ist das Blut, das aus der breiten Wunde strömt, wie das Leben, das den Körper langsam verlässt. Trüb wird der Blick, doch abwenden kann er ihn nicht. Sucht die schlanke Gestalt, hoch über ihm, den Kopf nun gesenkt, die Flügel wie einen Mantel um die Schultern geschlungen, als könnten sie vor der klirrenden Kälte des Todes schützen. Falke warte auf mich! Doch sie geht und er bleibt in Dunkelheit zurück, die ihn umhüllt wie das sanft gemurmelte Versprechen von falschem Schlaf.
[ 2]Noch nicht zu spät, diesmal nicht. Sie fliegt – mit der Zeit. Jeder Flügelschlag bringt sie weiter, führt sie näher an ihr Ziel. Sie kann es schaffen, muss es sogar. Das Herz hämmert in der Brust, von Hoffnung erfüllt. Doch ein banger Schatten der Furcht lauert im Hintergrunde. Wartet auf den günstigen Augenblick, einen schwachen Augenblick um ihr die Bilder zu zeigen, immer wieder. Bilder, die sie nicht vergessen kann.
[ 2]Kraftvoll schlagen die Flügel und doch... So viele Male schon waren sie zu schwach. Zu schwach um mit der Zeit mitzuhalten, die rasend dahinfliegt. Doch diesmal nicht! Diesmal darf es nicht sein, darf sie nicht zu spät kommen. Sie weiß es.
[ 2]Schon zu viele Male zuvor ist es geschehen. Hoffnung streitet mit Furcht. Der Kampf in ihrem Innern nimmt ihr den Atem, will sie lähmen, straucheln lassen. Aber das darf er nicht. Zu viele Kämpfe schon gewonnen wie verloren sind und keiner Sieger blieb.
[ 2]Der Wille treibt sie an, eisern entschlossen legt sie alle Kraft in die mächtigen Schwingen, die mit jedem Schlag die Winde um Hilfe rufen. Ein Berg noch, ein Tal. Vor ihr erheben sich die Mauern, hoch ragen die Türme in die Schwärze der Nacht, nur von fahlem Mondlicht von den Schatten der Dunkelheit getrennt.
[ 2]Sie fliegt mit der Zeit, gegen die Zeit. Braust über die Winde. Lautloser Flug jagt durch die Nacht. Unter ihr eine gewundene Straße, ein kleiner Trupp von Reitern. Noch nicht zu spät, sie eilt.
[ 2]Schwebt über die hohen Mauern und sinkt auf den mächtigsten aller Türme nieder. Schultern und Flügel schmerzen, die Kraft schwindet ihr. Doch der Wille bleibt, treibt sie voran eine dunkle Treppe hinab ins Innere der Burg. Im Laufen noch schlingt sie die müden Schwingen um ihre Schultern, bedeckt sie mit einem weitern Mantel, so wie die Kapuze ihr dunkles Gesicht verbirgt. Die Halle, hell erleuchtet vom warmen Glanz der Kerzen, Stimmengewirr, fröhlich ausgelassen. Ein Stich in ihr Herz, dies wird sie nie erfahren: Herzlichkeit. Denn sie ist immer Bote schlechter Kunde.
[ 2]Eine Magd, sie hält sie auf. Die Hand um den Arm des Mädchens ist kühl, aber sanft. Große Augen mustern fragend die verhüllte Gestalt mit dem hohen, dunklen Stab.
„Bring mich zu deinem Herrn!“ Ohne ein Widerwort führt man die Fremde vor die hohe Tafel an der Stirnseite des Saales. Viele Männer, starke, mutige Krieger und in ihrer Mitte der größte von allen. Sie beugt sich ihm nicht, erweist keine Ehre, hat keinen Herrn außer dem einzigen, höchsten.
[ 2]Doch sie ist Bote schlechter Kunde. Aufrecht und gerade ihre Haltung, klar die Worte, welche die vielen Stimmen übertönen.
„Gefahr droht Euch, hoher Herr. Ein guter Herrscher, doch nicht mehr lange, so Ihr nicht handelt. Der Feind naht und fliegt auf den Schwingen der Zeit, die Ihr bereits verloren habt!“ Stille im Saal. Niemand regt sich.
[ 2]Langsam erhebt er sich, nimmt den festen Blick nicht von der schlanken Gestalt, während die langen Schritte ihn um die Tafel herumführen. Seltsam vertraut erscheint die aufrechte Haltung, doch kein Gesicht zeigt das weite Gewand, keine Erinnerung.
[ 2]Hoch ragt er auf, steht so dicht vor ihr, dass sie den Kopf in den Nacken legen müsst, wollte sie dem Blick der strengen Augen begegnen. Sie reicht kaum bis an das herrische Kinn, zierlich und zerbrechlich klein wirkt ihre Gestalt vor der des Riesen. Doch sie weicht nicht zurück.
„Wer bringt diese rätselhafte Kunde?“ Die Stimme dunkel, ruhig, und doch – sie fragt nach Antwort. Antwort, die sie nicht geben kann, nicht geben darf. Nur einen kurzen Blick will sie wagen in das stolze Gesicht über ihr. Sehen darf er sie nicht, darf die Schatten der Kapuze nicht durchdringen.
[ 2]Das Aufblitzen von Bernstein durchschneidet seine Erinnerung wie ein Blitz die dunkle Gewitternacht. Schon senkt sich das Haupt wieder. Ohne Zögern greift die große Hand nach der Kapuze und streift sie hinab, doch langsam, fast bedächtig, nicht sicher, was sie darunter finden wird. Ein leises Raunen flieht durch die Halle. Staunen, Fassungslosigkeit spiegeln die Gesichter wider. Doch nicht das seine.
[ 2]Er sieht in ein feines Antlitz, schön und ebenmäßig, zugleich fremd und unirdisch. Haut von schimmerndem Grau, die vollen Lippen in dunklerem Ton, Haar schwarz wie die Finsternis und lang wie die Nächte im Winter. Doch Augen groß und leuchtend wie brennende Bernsteine.
[ 2]Sein silbergrauer Blick leuchten auf. Überraschung, Erstaunen? Nein, sie beobachtet, wie seine Augen sich zu schmalen Schlitzen verengen. Misstrauen sammelt sich in ihren Tiefen, tritt kalt und unbarmherzig an die Oberfläche. Es ist die Gewissheit, die ihr eisige Schauer über den Rücken jagt und sie zugleich innerlich verbrennt. Die Gewissheit, in diesem stählernen Blick Erkennen gelesen zu haben.
„Du!“ Er tritt einen Schritt zurück, mustert sie noch eindringlicher. „Wieder bringst du schlechte Kunde. Sag, kommst du auch diesmal schon zu spät, Falke?“ Bosheit? Nein, Bitterkeit tönt aus der dunklen Stimme. Doch woher?
[ 2]Verwirrung. Er kennt sie, erkennt sie! Das kann er nicht wissen, unmöglich, doch er weiß, dass sie gefehlt hat. Dumpf hallen die Worte in ihrem Kopf nach. Wieder bringst du – auch diesmal schon zu spät. Nein, er kann nicht wissen, kann nicht kennen. Und doch...
[ 2]Sie tritt auf ihn zu, leise, sucht nach Antwort, wo sie kaum zu fragen wagt. Eine zarte, feingliedrige Hand hebt sich. Sacht streicht ihr Rücken über die finsternisumwölkte Stirn. Bilder kehren zurück, wie schon einmal diese Nacht – doch anders diesmal.
[ 2]Ein Schlachtfeld, wie so viele schon, Blut, Tod, Dunkelheit. Sie sieht alles noch einmal und doch ist es anders. Das Tageslicht schwindet, Nebel erhebt sich aus der Erde, versucht die Schrecken zu verbergen und ist doch zu dünn um das Grauen zu beenden. Sie sieht, was er sah. Ihre Hand wandert hinab zu der breiten, mächtigen Brust und legt sich voller Staunen auf die lange Narbe, die diese überquert.
[ 2]Erstaunen flackert in den silbergrauen Tiefen auf, nur kurz. Wie kann sie davon wissen, ist doch die längst verheilte Wunde von Kleidern verdeckt wie ihre Flügel von dem weiten Mantel. Als wäre sie durch die zarte Berührung wieder aufgebrochen, spürt er erneut den alten Schmerz.
[ 2]Sie sieht, sieht sich selbst durch seine Augen. Hoch auf dem Hügel, das letzte Licht schwindet hinter ihr. Sie sollte Hoffnung bringen, er weiß es, obgleich es gar nicht sein kann. Hoffnung, doch sie kommt zu spät, viel zu spät. Kommt zu spät und wendet sich ab. Lässt ihn in Dunkelheit zurück.
[ 2]Überraschen, Unglauben erfassen sie. Er gibt ihr die Schuld daran. Schuld an allem und Schuld an seinem Schmerz. Immer noch, selbst diese Nacht! Eine feste Hand umschließt das zarte Handgelenk. Der stählerne Griff beendet die Berührung. Seine Augen – kalt, vorwurfsvoll.
[ 2]Er lässt sie los, stößt sie gleichsam von sich. Rau klingt die Stimme in der Stille.
„Geh, Falke! Hierher bringst du dein Unheil nicht!“ Langsam schüttelt die zierliche Gestalt das Haupt. Dunkles Haar bewegt sich wie Wellen der Nacht. Doch schwarz erscheint es nicht, vielmehr fangen dünne Fäden goldenes Licht der Kerzen ein und verwandeln es in lichten Bernstein. Er hat es schon mal gesehen, es schürt noch seinen Zorn. Sie erscheint wie Sonnenlicht und doch bringt sie nur Botschaften von tiefer Dunkelheit.
[ 2]Wie soll sie es ihm erklären? Er wird ihr nicht glauben, nicht glauben wollen, dass nicht sie es ist, mit der die Finsternis kommt. Die Zeit fliegt, holt sie wieder ein. Das Unheil kommt näher. Sie spürt es mit jedem Herzschlag. Eine Bewegung, aus dem Augenwinkel erfasst. Ein Fenster, Schatten darin. Lebendig, tödlich. Sirrend durchschneidet das Schicksal die Luft.
[ 2]Der Schrei des Falken gellt durch den Saal, dann trifft das leichte Gewicht der zierlichen Gestalt auf seine Brust. Starke Hände greifen zu, halten instinktiv fest ohne nachzudenken.
[ 2]Schmerz explodiert im Rücken, rast durch den Körper und sprengt die Brust. Die leuchtenden Augen weiten sich. Wie Edelstein der Sonne glüht ihr Blick, brennt sich in sein Herz.
[ 2]Lautes Rufen erfüllt die Halle, Männer stürzen hinaus, dem Fensterschatten nach. Er versucht zu fliehen in die Finsternis der Nacht, doch er wird scheitern. Wird scheitern, weil sie rechtzeitig gekommen ist.
[ 2]Kein weiterer Schrei durchdringt die Luft. Die Stimme klingt seltsam leise, zittert leicht.
„Diesmal nicht! Diesmal bin ich nicht zu spät. Nicht für Euch!“ Das Lächeln zaghaft, der Blick aus den Bernsteinaugen viel zu ruhig für den Schmerz, der in ihrem Innern tobt.
[ 2]Entsetzt starrt der Silberblick auf die tödliche Spitze, die aus ihrer Brust ragt, fliegt hoch zu dem zarten Antlitz und bereut jedes Wort des Misstrauens. Für ihn war dieser Pfeil bestimmt.
[ 2]Doch zu spät! Diesmal ist er zu spät!