Fehlschuss eines Goblins (Teil 1)

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Empi

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Der Stein schnellte von der Schleuder und zischte durch die Luft. Anstatt aber den anvisierten alten Tonkrug zu zerdeppern segelte er durch das offene Fenster von Mutters Vorratskammer. Gleich darauf zerriss ein lautes Klirren die Luft.
Limfs große, gelbe Augen schienen vor Entsetzen aus ihren Höhlen zu quellen als er den unheilvollen Lärm berstenden Glases vernahm. Achtlos ließ der kleine Goblin seine Schleuder ins Gras fallen und flitzte los. Während ihn seine kurzen Beine zur Hintertür trugen, hoffte Limf inständig, dass seine Mutter den Krach nicht gehört hatte. Vorsichtig öffnete er die Holztür und spähte in den Wohnraum - niemand zu sehen! Limf atmete erleichtert auf und tappte zur Vorratskammer.
Dann aber schwanden ihm fast die Sinne, als er das Ausmaß der Katastrophe begutachtete: Ein ganzes Regal von Mutters kostbarer, landläufig bekannter Marmelade war durch sein Geschoss abgeräumt worden. Was hatte er da wieder angerichtet! Er musste sich schwer gegen den Türstock lehnen, als sein verzweifelter Blick über ein Meer von Scherben und großzügig verteilten Marmeladebatzen wanderte.
In dieser Position verharrte der arme Limf für einige Sekunden, ehe er den Willen aufbrachte, sich vom Türrahmen zu lösen um Besen und Putzlappen zu holen. Die nächste halbe Stunde verbrachte er damit, die ganze Sauerei aufzuräumen und durch geschicktes Umstellen der anderen Gläser seinen Lapsus zu vertuschen. Als Limf gerade die letzten Marmeladenkleckser vom Boden aufwischte, hielt er plötzlich inne. In der hintersten Ecke der Kammer hatten seine wachsamen Augen einen kleinen Gegenstand ausgemacht. Da Goblins zu den neugierigsten Kreaturen gehörten, die auf dem Erdenrund lustwandelten - und Limf in dieser Hinsicht fast alle seiner Artgenossen ausstach -, befand sich das Objekt der Begierde im Nu in seiner Hand. Sein Herz begann vor Aufregung zu klopfen - er hatte einen alten Schlüssel gefunden. Schnell griff Limf nach dem Lappen und entfernte die klebrige Marmelade.
Der Schlüssel war groß und schwer, aber abgesehen von den zahlreichen Roststellen konnte Limf sonst nichts Auffälliges erkennen. Aber dennoch - allein die Tatsache, dass seine Mutter diesen Schlüssel in einem ihrer geheiligten Einmachgläser versteckt hatte, sprach Bände über dessen Wichtigkeit. Und plötzlich wusste Limf auch, in welches Schloss dieser geheimnisvolle Schlüssel passte! Seine Erregung steigerte sich von Sekunde zu Sekunde, und er musste sich am Riemen reissen, um auch die letzten Spuren seiner Missetat sorgfältig zu entfernen. Wenn seine Mutter herausbekam, was er hier angerichtet hatte...
Aber das Glück war dem kleinen Goblin weiterhin hold, und so stieg er, ohne gesehen zu werden, alsbald die Kellertreppe hinab. Kurz fragte sich Limf, wo denn seine Mutter abgeblieben sein mochte, aber der Gedanke verflüchtigte sich wie Rauch im Wind als er die Tür zu jener engen, dunklen Kammer aufstieß, in der des Schlüssels Bestimmung seiner harrte. Limf entzündete eine Fackel und betrachtete die schwere, mit dicken Eisenriemen beschlagene Truhe seines berühmten Urgroßvaters Marlon Keilerschreck. Wie immer, wenn er vor dieser Truhe stand, ergriff ihn ein Gefühl der Ehrfurcht, denn sein Urgroßvater zählte - zusammen mit seinem einstigen Gefährten Rammbatz Orkentod - zu den berühmtesten Helden der Goblins.
Beide Kämpen hatten zusammen unzählige Abenteuer bestanden, und wie der Name Keilerschreck schon vermuten ließ, hatte Limfs Urgroßvater vor allem das Erlegen einer Unzahl von Wildsäuen zu Ruhm und Ehre gereicht, denn Wildschweine waren seit jeher die Erzfeinde der Goblins. Wann immer eines der borstigen Viecher einen Goblin erspähte, ging es wild grunzend in den Angriff über. Niemand konnte sich dieses sonderbare Verhalten erklären, jedoch waren die alljährlichen Opfer Beweis genug für diese Animosität.
Goblins waren aufgrund ihrer bescheidenen Größe und Körperkraft einfach nicht die geborenen Kämpfer (es gab seltene Ausnahmen), und so stellte selbst ein ausgewachsener Hirtenhund eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar - ganz zu schweigen von einem angriffslustigen Eber!
Die Menschen, mit denen die Goblins zusammenlebten, beschützten die kleinen Kreaturen und hatten im Gegenzug einen leichten Zugriff auf deren die vielfältige handwerkliche Fähigkeiten, die vom Bleichen von Fellen über Schmuckherstellung bis hin zur Fertigung magischer Gegenstände reichten.
Limf mochte die Menschen, obwohl sie sich bisweilen ziemlich prahlerisch gaben, besonders bei Geschichten, in denen Kämpfe und Frauen vorkamen - vielmehr waren es seine eigenen Artgenossen, die ihn oftmals verärgerten. Seiner Meinung nach hatten sie zu schnell ihrer Helden vergessen, die sie, bevor die Menschen kamen, vor jedweder Gefahr tapfer beschützt hatten. Jetzt tauchten die Namen Keilerschreck und Orkentod allenfalls beim Grölen irgendwelcher Sauflieder auf. Limf stimmte es traurig, dass alles so schnell in Vergessenheit geriet. Selbst seine eigene Mutter meinte, dass man heutzutage solch verwegene und draufgängerische Unruhestifter wie Urgroßvater nicht mehr brauche.
Ein Zischen der Fackel riss Limf aus seinen Gedanken und er entsann sich auf den Grund seines Hierseins. Diesmal würde er nicht nur träumen und wieder gehen - nein! - diesmal würde er seinem Urgroßvater so nah sein wie noch nie! Mit zitternden Fingern schob Limf den Schlüssel ins Schloss, schickte ein Stoßgebet gen Himmel und drehte ihn herum. Nach kurzem Widerstand ertönte ein trockenes Klicken. Voll Übereifer drückte Limf den schweren Deckel mit dem rechten Arm hoch, aber er entglitt plötzlich seinen schlanken Fingern und knallte zurück - genau auf seine linke Hand! Mit einem Jaulen schoss Limf in die Höhe und presste die schmerzende Hand zwischen seine Schenkel. Tränen traten ihm in die Augen, und es dauerte Limfs Meinung nach eine halbe Ewigkeit, bis das Pochen endlich soweit nachließ, dass er sich wieder der Truhe zuwenden konnte. Trotz des Schmerzes sah Limf seine gequetschte Hand als gerechte Strafe, die er zu büßen hatte, bevor er einen Blick in das innere der Truhe werfen durfte. Schließlich war sein Urgroßvater der gefürchtetste Steinschleuderer gewesen, der jemals das Licht der Welt erblickt hatte, und er hatte Limfs verunglückten Schuss von vorhin sicherlich mit größtem Missfallen beäugt.
Mit einem gemurmelten „Entschuldige, Urgroßvater“ stemmte Limf den schweren Deckel erneut - und etwas vorsichtiger - in die Höhe. Limf hatte sich oft den Kopf darüber zermartert, was wohl für einmalige Gegenstände in der Truhe nur darauf warteten, von ihm entdeckt zu werden, aber ... so einmalig sahen das zerschlissene Kettenhemd, der eingedellte Helm mit den beiden Hörnern (vielleicht riesige Wildschweinhauer?) und der löchrige Umhang jedenfalls nicht aus. Ein wenig Enttäuschung machte sich in ihm breit. Unschlüssig fasste Limf den Helm an einem Horn und hob ihn an. Es brach mit einem trockenen Knacken ab. Limf verzog seinen schmalen Mund. Zur Enttäuschung gesellte sich nun auch Wut; immer hatte er von diesem Augenblick geträumt - und jetzt das! Ein Haufen vergammelter Schrott!
Er war nahe dran, die Truhe wieder zu verschließen und den Schlüssel vor lauter Frust fortzuschleudern, aber aus Respekt vor seinen Urgroßvater nahm er die Truhe doch noch genauer in Augenschein - er wurde nicht enttäuscht: unter dem unscheinbaren Umhang fand er etwas, das ihn seinen Gram schlagartig vergessen ließ: Marlons Schleuder!
Limf blieb beinahe die Luft weg als er die schöne, aus teurem Leder gearbeitete Schleuder sah. Aber ihre brillante Verarbeitung allein war nicht das einzig Besondere. Zu Marlons Lebzeiten hatte man gemunkelt, dass die unheimlich hohe Zielgenauigkeit seines Urgroßvaters nicht nur an seinem eigenen Können gelegen hatte. Mit der Zeit hatte man angefangen, von Marlons magischer Schleuder zu sprechen.
Bevor Limf aber Zeit hatte sich ausgiebig über seinen kostbaren Fund zu freuen, hörte er ein Poltern von oben. Die Haustür!, schoss es ihm durch den Kopf. Eilig legte er die Schleuder zurück, verschloss die Truhe und hastete nach oben.
Seine Mutter erblickte Limf, als dieser gerade die Kellertreppe heraufkam. „Wo warst Du denn?“
Limf schluckte, zwang sich aber dann zur Ruhe. „Ich hab ein wenig hinterm Haus geübt und bin dann zu Urgroßvaters Truhe gegangen.“
Ein steiles V teilte plötzlich die Stirn seiner Mutter. „Immer diese Flausen! Limf“, sagte sie und hob den rechten Zeigefinger belehrend in die Höhe, „du bist 22 Jahre alt, und noch immer verträumst und vertrödelst du den Tag!“
„Wo bist du denn eigentlich gewesen, Mutter?“ Limf wollte das Gespräch schleunigst in eine andere Richtung lenken.
„Dort wo jeder war - außer Limf natürlich. Hast wieder nichts mitbekommen, hm?“ Sie schüttelte den Kopf. „Alle Leute waren auf der Straße und haben nordwärts zum Himmel geblickt. Ein schwarzer Drache ist in einiger Entfernung gekreist und hat das nahe Dorf Grobingen in Schutt und Asche gelegt!“
Limf riss erstaunt die Augen auf. Ein schwarzer Drache! Das kam wahrlich selten vor; und noch dazu ein schwarzer Drache! Wie schwarze Ritter waren auch schwarze Drachen die fiesesten Vertreter ihrer Zunft!
Limf flitzte auf die Straße, aber obgleich noch etliche Menschen und Goblins die Gassen füllten und ein aufgeregtes Stimmengewirr erklang, war vom Drachen nichts mehr zu sehen. Dafür teilte sich aber plötzlich die Menge, und ein Herold des Herzogs schritt durch die Gasse, wobei er lauthals folgendes verkündete: „Der Herzog ruft auf zur Drachenjagd; alle, die den Mut haben, die Bestie zu verfolgen, sollen sich heute zur vierten Stunde nach Mittag auf dem großen Platz vor der Burg des Herzogs einfinden. Wird das Ungeheuer vertrieben oder getötet, so winkt den tapferen Recken eine erkleckliche Belohnung.“ Damit zog er weiter um die Botschaft in der ganzen Stadt zu verbreiten.
Allmählich verschwanden die Leute aus der Gasse, um ihrem Tagwerk nachzugehen. Allein Limf bewegte sich nicht vom Fleck und wirkte wie versteinert. Sein ganzer Verstand kreiste seit der Botschaft des Herolds nur um einen Gedanken: Die Ereignisse des heutigen Tages waren ein Zeichen! Limf war sich mit einem Mal absolut sicher, dass er - wie es einem Urenkel des berühmten Marlon Keilerschreck auch gebührte - dazu auserkoren war, die Ehre der Goblins durch das Besiegen des Drachens wiederherzustellen.
Die Zeit bis zur besagten vierten Stunde verbrachte Limf Drachentöter im Dämmerzustand, sich ständig ausmalend, wie ihm die Massen bei seiner Rückkehr zujubeln und alle Zweifler auf ewig verstummen würden...

ENDE TEIL 1
 



 
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