Fliegen........

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B

bluefin

Gast
hallo @retep,

wie @marens bin auch ich der meinung, dass die sternchen mehr stören als nützen: entweder ist der text so verworren, dass man ihn "ohne" nicht verstünde (sei versichert: er ist es nicht!), oder der leser ist zu bequem und zu obeflächlich. es hätte also gar keinen grund gegeben, da etwas zu brandmarken.

felder wie das von dir gewählte sind ziemlich "vermint", weil sie schon von (fast) jedem überquert wurden und deren hinterlassenschaften nun überall herumliegen. du hast es vermieden, in die gröbsten haufen hineinzusteigen, indem du ziemlich sachlich geblieben bist, statt nur auf die gefühlstube zu drücken. allerdings bleiben dadurch die protagonisten ziemlich blass; ein bisschen liest es sich wie ein krankenbericht: fortschritt von ausfallserscheinungen, aus zwei perspektiven geschildert.

was mir ein wenig fehlt, ist der wirkliche beschrieb des verlustes, um den's ja eigentlich geht, oder? der siechende resümiert mehr oder weniger verbittert, und seine begleiterin stürzt ihn den hang hinunter - wovon befreit sie ihn (oder sich)? von der krankheit und vom pflegeelend? oder vom nichts sagenden lenbenslauf, dessen höhepunkte scheinbar die urlaubsreisen waren?

du hast einen guten erzählstil, gute sprache und gute ideen. das verpflichtet, mein lieber. körperlicher verfall und tod allein sind keine echten herausforderungen für einen guten erzähler - du kannst bestimmt viel mehr als nur "knipsen".

lg

bluefin
 

Retep

Mitglied
Hallo Mona,

danke für die Blumen.

Habe gelesen, dass du beim Bewerten Schwierigkeiten hast. Geht mir auch manchmal so. Mehrere Male versuchen.

Gruß

Retep
 

Retep

Mitglied
Hi bluefin,

zunächst einmal vielen Dank, dass du dich so ausführlich mit dem Text beschäftigt hast.

- Wenn jemand die Geschichte besser mit "Sternchen" versteht, setze ich sie gerne hin, hoffe, dass andere dadurch nicht zu stark behindert werden.

-
felder wie das von dir gewählte sind ziemlich "vermint",
Das sehe ich auch so, man kann fast nichts schreiben, was nicht irgendjemand schon vorher geschrieben hat, man kann nur versuchen, es anders zu schreiben, was nicht immer gelingt. (zumindest mir nicht)


-
allerdings bleiben dadurch die protagonisten ziemlich blass; ein bisschen liest es sich wie ein krankenbericht: fortschritt von ausfallserscheinungen, aus zwei perspektiven geschildert.
Ob die Personen blass bleiben, hängt wohl auch vom jeweiligen Leser ab, nicht nur vom Autor.
(Dass man das besser machen könnte, ist mir schon klar)


Ja, es ist ein Krankenbericht, aus zwei Perspektiven ohne Gefühlsduselei geschildert, wie ich hoffe, aber ich dachte, der Leser könnte sich einfühlen, mitfühlen.

-
wovon befreit sie ihn (oder sich)? von der krankheit und vom pflegeelend? oder vom nichts sagenden lenbenslauf, dessen höhepunkte scheinbar die urlaubsreisen waren?
Sie befreit ihn vor einem langsamen Dahinsiechen und endlich
vor einem qualvollen Tod. ( Ersticken ist wohl nicht so angenehm.) Ich nahm an, dass der Leser dies aus dem Text entnehmen könnte.

Wünsche dir einen wunderschönen Tag.

Gruß

Retep
 

Retep

Mitglied
Fliegen........

Fliegen müsste man können, wegfliegen, wohin auch immer, frei sein, wovon und für was auch immer. Dieser Gedanke hat mich schon immer fasziniert.
Aus dem alltäglichen Trott rauskommen, etwas anderes machen, nicht alles so wichtig nehmen.

Es ist Mittag, mein Unterricht ist zu Ende. Kein schlechter Tag heute.
Ich gehe die Treppe aus dem zweiten Stock hinunter, Gedränge, Schüler überholen mich, Frau Willauer will wissen, ob ich sie morgen in der ersten Stunde vertreten kann, sie müsse zum Arzt.
Sie muss immer zum Arzt während ihrer Unterrichtszeit, obwohl sie Privatpatientin ist! Mein Beruf belastet mich in letzter Zeit ziemlich stark, dauernd Vertetungsstunden, zögere, erkläre mich aber dann doch dazu bereit.
Ich gehe etwas langsamer, bin müde, habe Schmerzen in den Beinen. Nachwirkungen der Grippe.

In den Ferien waren meine Frau und ich in unserem Haus am Meer, lange Wanderungen, gutes Essen, Wein, Diskussionen. In der letzten Woche hatte mich dann eine Grippe erwischt, Hals- und Kopfschmerzen, spürte meine Beine.
Joggen konnte ich auch nicht mehr.

Ich steige in mein Auto, mache die Fenster auf, heiß ist es, obwohl der Sommer zu Ende geht.
Gut, dass wir damals umgezogen sind, zur Schule brauche ich nur zehn Minuten, meine Frau Ella zu ihrer Arbeitsstelle etwas länger.
Im Vorgarten müsste man einiges machen, denke ich, als ich vor unserem Reihenhaus aussteige.
Früher habe ich gern im Garten gearbeitet, es war ein Ausgleich zu meiner Arbeit in der Schule; bei dieser Arbeit konnte man den Erfolg schneller sehen.
Bei meiner ersten Arbeitsstelle, auf dem Land, beurteilte man den Lehrer nach dem Zustand seines Gartens.
Der Briefkasten an der Eingangstür quillt über, hauptsächlich Reklame, einige Rechnungen.
Ich esse einen Apfel, habe kaum Hunger, müde bin ich, lege mich dann aufs Sofa, einen Mittagsschlaf brauche ich.

Ich komme von der Arbeit, stressiger Tag heute, alle glauben, dass wir vom Sozialamt alle ihre Probleme lösen können.
Die Küche hat er nicht aufgeräumt, die Wäsche ist immer noch in der Maschine, er wollte sie doch zum Trocknen aufhängen, liegt auf dem Sofa und schläft, obwohl es schon 17.00 Uhr ist.
In letzter Zeit ist er immer müde, wahrscheinlich Nachwirkungen seiner Grippe.
Ich schaue ihn an, er ist erst fünfzig, sieht jetzt aber älter aus, abgespannt, müde, irgendwie resigniert.
Ich mag seine Art, er ist intelligent, feinfühlig, hat Humor. Ich liebe ihn immer noch, obwohl wir jetzt über zwanzig Jahre verheiratet sind.
Ich wecke ihn mit einem Kuss auf, dann arbeiten wir zusammen im Haus.
Wir essen zu Abend, erzählen von unserem Arbeitstag, immer die gleichen Probleme.
Beim Fernsehen trinken wir zusammen Wein, ihm fällt sein Glas aus der Hand, früh gehen wir ins Bett, habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir.

Nach der zweiten Stunde gehe ich zum Arzt, die Schmerzen in meinen Beinen sind stärker geworden, konnte nachts kaum schlafen, fast wäre ich hingefallen, als ich in der Schule die Treppe runterging. Musste mich am Geländer festhalten.
Da sitzen ein paar Leute im Wartezimmer, eine Frau ist schwanger. Warum haben wir eigentlich keine Kinder?
Ella wollte immer noch ein bisschen warten, wollte nicht ihren Beruf aufgeben.
So wurde es „später“ und „später“, die Zeit ist uns davon gelaufen.

Früher bin ich nie zum Arzt gegangen, hatte Glück, war nie krank, konnte Bäume ausreißen.

Dr. Lauer untersucht mich gründlich, erkundigt sich nach Beschwerden, schaut mich merkwürdig an.
„Wie lange soll ich sie krank schreiben?“ fragt er mich. Das fragen die Ärzte immer, ich will gar nicht krank geschrieben werden, will arbeiten, wenn ich kann.
Er schreibt mich eine Woche krank und überweist mich ins Krankenhaus. Da müsste eine Reihe von Untersuchungen stattfinden, sagt er. In einer Woche sollte ich wiederkommen, dann hätte er genaue Ergebnisse.
Auf dem Weg zum Krankenhaus denke ich, dass ich besser nicht zum Arzt gegangen wäre, jahrelang war ich bei keinem.
Der ganze Vormittag vergeht mit allen möglichen neurologischen Untersuchungen, Rückenmarkflüssigkeit wird entnommen. Die probieren wohl alles an mir aus, bin ja Privatpatient, denke ich.

*Er liegt wieder auf dem Sofa, stiert vor sich hin. Wir bereiten zusammen das Abendessen vor, kleinste körperliche Anstrengungen scheinen ihm Mühe zu bereiten. Er sagt, dass er morgen erst zur dritten Stunde Unterricht habe.

*Meiner Frau habe ich nichts von Arztbesuchen erzählt, auch nicht, dass ich krank geschrieben wurde.
Sie geht früh aus dem Haus.
Mir schmerzen fast alle Glieder, auch der Rücken. Ich werde trotzdem heute morgen joggen gehen, unser Haus liegt direkt am Wald.
Vielleicht kann mir das helfen. Ich erinnere mich, dass Joggen mir bei allen möglichen Problemen immer geholfen hat. Glücksgefühle werden dabei freigesetzt, die kann ich jetzt dringend gebrauchen.
Ich ziehe mein Sportzeug an, verlasse das Haus, fange am Waldrand an zu rennen und falle hin.
Mühsam rappele ich mich auf, humple zum Haus zurück.
Als ich mir die Schuhe ausziehe, merke ich, dass es in meinen Händen kribbelt, dass ich kaum etwas fühle.
Gehen kann ich nur mühsam, meine Beine knicken weg.
Im Keller haben wird ein Paar Krücken, Ella hatte sich im letzten Winter beim Skifahren ein Bein gebrochen.
Ich taste mich die Kellertreppe hinunter und hole sie. Ella werde ich erzählen, dass ich mir beim Joggen den Fuß verstaucht habe.

*Als ich nach Hause komme, liegt er im Bett, den Fuß hat er sich beim Joggen verstaucht, wie er sagt. Er sieht nicht gut aus, scheint Fieber zu haben, redet wenig und ist heiser.
Später kommt sein Freund und Kollege Theo vorbei, fragt, wie es ihm gehe, die Vertretung in seiner Klasse sei geregelt.
Wir sitzen zusammen am Tisch, essen und trinken Wein, Rainer trinkt wenig, isst wenig, redet wenig.
Die Krücken stehen neben ihm.
Ich fange an, mir Gedanken zu machen, wusste nicht, dass er krank geschrieben wurde.

*Ich sitze am Fenster, schaue auf die Straße, Leute hasten vorüber, die alte Frau Michaelis aus dem Nebenhaus humpelt mühsam mit ihrem Gehwagen die Straße entlang, über achtzig ist sie schon, Kinder rennen umher, Autos fahren vorbei, mein Leben läuft vorbei.
Bis hierher ist es eigentlich nicht schlecht gelaufen, aber öfter habe ich mich wie in einer Falle gefühlt, duschen, Frühstück, Schule, Mittagessen, Arbeit im Haus oder für die Schule, Abendessen, schlafen.
Jeden Tag fast der gleiche Rhythmus, der gleiche Ablauf, in den Ferien einige Reisen.
Soll das alles gewesen sein, habe ich öfter gedacht.
Jetzt ist die Falle endgültig zugeschnappt.
Da sitzt ein Krüppel am Fenster, schaut auf eine Welt, die er einmal verändern wollte.

*Ich sehe ihn an Fenster sitzen, er sieht hinaus, sehr nachdenklich, nimmt an allem wenig Anteil.
Wo ist seine Fröhlichkeit geblieben, sein Humor, sein Engagement?
Ich werde wohl bald aufhören müssen zu arbeiten, er kommt alleine nicht mehr zurecht.

*Es wird Herbst, die ersten Blätter fallen vom Ahornbaum vor dem Fenster ab, ich werde ihn wohl im nächsten Frühjahr nicht mehr blühen sehen.
Unser alter Kater wälzt sich auf dem Boden umher, kommt in letzter Zeit nicht mehr zu mir, vielleicht rieche ich anders.


*Seit Tagen liege ich nun im Bett, habe Gefühlstörungen in den Beinen, auch in den Armen, Schmerzen im Rücken und in allen Gliedern. Ich versuche meiner Frau zu erklären, dass das alles Nachwirkungen der Grippe seien.
Mein Fuß sei immer noch verstaucht, vielleicht sei es auch eine Muskelzerrung, deshalb hätte ich Schwierigkeiten beim Gehen.
Bei meinem letzten Arztbesuch erklärte mir Dr. Lauer, dass ich wahrscheinlich eine sehr seltene Krankheit hätte. Es sei eine schwere Lähmungserkrankung des peripheren Nervensystems.
Ich müsse ins Krankenhaus, der Aufenthalt auf einer neurologischen Intensivstation sei notwendig, da auch Störungen der Atem- und Herzkreislauffunktion zu erwarten seien.
Ständige Kontrollen der Kreislaufwerte sowie Verhinderung von Thrombosen und Lungenentzündungen seien erforderlich............................
Ich hörte nicht mehr weiter zu, stand auf, nahm meine Krücken und verließ die Praxis. Mit einem Taxi fuhr ich nach Hause, legte mich hin.

Früher haben wir oft über das Sterben diskutiert, Angst vor dem Tod habe ich nie gehabt, aber Angst vor dem Sterben, vor einem Dahinsiechen, vor Schmerzen.
Eine Tablette müsste man haben, dachte ich oft, eine Tablette, die alles beendet.
Jetzt könnte ich sie wahrscheinlich gebrauchen, habe sie nicht.


*Wenn ich Rainer ansehe, werde ich mutlos, überfällt mich Verzweiflung und Traurigkeit.
Ich weiß inzwischen von seiner Krankheit, habe mit Dr. Lauer lange gesprochen, weiß, was auf ihn zukommt und auch auf mich.
Bisher hatte ich nur von solchen Situationen gelesen, konnte mitfühlen, aber habe sie nicht verstanden.
Alles ist so plötzlich gekommen, alles hat sich bei uns geändert, Rainer arbeitet nicht mehr und ich auch nicht. Ich will bei ihm sein, auch wenn ich kaum helfen kann, keine Minute verlieren von der Zeit, die uns noch gemeinsam bleibt.

*Ich liege da und denke, denke an vieles, was ich getan habe, was ich hätte tun sollen, was ich noch alles tun wollte.
Eigentlich wollte ich Arzt werden, habe auch einige Semester Medizin studiert, als Krankenpfleger gearbeitet, bin dann aber Lehrer geworden, die Ausbildung war viel kürzer.
Ich hatte Ella kennen gelernt, sie ging noch zur Schule, war in einem Mädcheninternat, das von katholischen Nonnen geleitet wurde.
Nachts stieg ich durchs Fenster ein, blieb die ganze Nacht bei ihr.
Als ich morgens wieder aus dem Fenster steigen wollte, sah ich, dass es geschneit hatte.
Rückwärts ging ich über die Grünanlage zur Straße, legte Spuren zu allen Fenstern im ersten Stock.
Die Nonnen waren außer sich, als sie die Fußspuren sahen!

Ich kann kaum noch laufen, eine Gesichtshälfte ist gelähmt, kann nicht mehr schreiben und kaum noch lesen. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, und ich bin sehr müde.
Noch kann ich denken.
Warum musste das gerade mir passieren?

Besuch kommt kaum noch. Was sollten Menschen auch mit einem Mann wie mir anfangen, der nur dasitzt, trübsinnig, kaum noch verständlich reden kann.
Ella versucht Zuversicht vorzutäuschen, zeigt sich fröhlich, alles wird wieder gut sein. Aber ich sehe, welche Mühe sie das kostet. Sie umsorgt mich wie ein kleines Kind.

*Heute ging es Rainer etwas besser, er konnte reden, ich konnte ihn verstehen.

„Erinnerst du dich noch, als wir zusammen in Portugal am Meer waren?“, fragte er mich.
„Ja, es war Sommer, eine Bullenhitze.“
„Erinnerst du dich auch an die alte Frau, die da saß, am Strand, im Sand, auf einem Handtuch und auf das Meer schaute?“
„Ja, sie war schon sehr alt und allein.“
„Sie schaute aufs Wasser, als wenn sie etwas finden wollte, was sie verloren hatte oder etwas finden wollte, was sie bisher nicht gefunden hatte. Ich glaube, sie wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Ich möchte auch noch einmal raus, am Meer sein, Vögel fliegen sehen, aufs Wasser schauen und träumen.“

*Ich habe einen Rollstuhl gekauft, kann damit mit Rainer spazieren gehen. Er muss dann nicht immer im Bett liegen, kommt mal aus dem Haus, kann endlich einmal wieder etwas anderes sehen.

*Spazieren werde ich jetzt gefahren, sitze in meinem Rollstuhl wie ein Greis. Wir setzen uns manchmal in ein Café und die Leute starren mich an, sehen meine unkontrollierten Bewegungen, Zuckungen , meine Hände, wie sie zittern.
Ich kann mich kaum noch auf etwas konzentrieren, kaum noch atmen, verliere Erinnerungen und manchmal das Bewusstsein.
Gefangen bin ich, gefangen in meinem Körper, allein, fühle fast nur noch wie ein Tier.

*Es geht ihm schlechter, Schmerzen. Er kann kaum noch schlucken, kaum noch reden. Es gibt Augenblicke, in denen er mich nicht mehr kennt.
Er kann nur noch mühsam atmen, irgendwann wird er ersticken.

Es ist kalt, früh am Morgen, wir gehen aus unserem Haus am Meer, ich schiebe ihn in seinem Rollstuhl.
Vögel fliegen über uns, aber er kann seinen Kopf nicht heben, nicht nach oben schauen, hören kann er sie vielleicht.

*Ich höre Vögel, über mir fliegen sie, ich kann sie nicht sehen. Ich schaue zum Meer hinunter, sehe sie jetzt, sie schweben zum Meer hinunter, mühelos, sie sind frei.
Fliegen müsste ich können, von allem davonfliegen, zurück fliegen, alles von weit oben sehen, klein und unscheinbar, unwichtig. Dann wäre ich frei.
Ich schaue sie an, sie kniet vor mir, schaut mich an.
Ich will ihr sagen, dass es eine schöne Zeit mit ihr war, dass ich sie immer noch so liebe wie am ersten Tag, vielleicht noch viel mehr, dass sie die vielen guten Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit behalten soll, aber meine Lippen bewegen sich nicht, mein Mund gehorcht nicht mehr.
Ihre Augen sehen mich machtlos an, sehen wie ich in Einsamkeit versinke.

*Ich schaue ihn an, knie vor ihm, vor seinem Rollstuhl, umfasse seine Beine, sehe wie er mühsam atmet, mich verzweifelt anschaut, mir etwas sagen will.
Ich stehe auf, streichle sein Gesicht, schiebe ihn an der Rand des Felsens und stoße den Rollstuhl vorwärts.

*Ich kann fliegen...............
 
G

Gelöschtes Mitglied 11475

Gast
Hallo Retep!
Sehr ergreifend!
Anfang und Ende ("Ich kann fliegen"), hervorragend verknüpft.

Gruß, Christoph
 

Retep

Mitglied
Hallo,

wenn ich in nächster Zeit keine Kommentare abgebe, nicht auf Kommentare antworte, keine Texte mehr einstelle, bedeutet das nicht, dass ich kein Interesse mehr hätte. Ich werde für etwa drei Monate in Südamerika sein, in Gegenden, wo es wahrscheinlich keinen Internetzugang gibt.
Wünsche allen eine gute Zeit.

Gruß

Retep
 

Retep

Mitglied
Bin wieder hier, freue mich über Kritik.Habe die Geschichte in spanischer Sprache geschrieben, erntete meistens Zustimmung.

Retep
 
S

suzah

Gast
Fliegen

hallo retep,
die geschichte ist gut geschrieben und hat mich sehr angerührt.

allerdings habe ich den eindruck, dass hier ungefähr drei mögliche nervenkrankheiten, die ich zum teil bei bekannten miterlebe, vermischt sind, da m.e. die symptome nicht ganz zusammenpassen bzw auch nicht in dieser reihenfolge. du sagtest, du hättest das krankheitsbild recherchiert...

liebe grüße suzah
 

Retep

Mitglied
Hallo suzah,

entschuldige, dass ich erst jetzt auf deinen Kommentar antworte, er war mir irgendwie entgangen.

Dass dir der Text gefallen hat, freut mich.

Der Verlauf der Krankheit kann so sein, wie ich ihn geschildert habe. Ich habe den Mann gekannt!
Es ging mir aber in der Geschichte nicht darum, genau den medizinischen Verlauf der Krankheit zu schildern.

Gruß

Retep
 

Retep

Mitglied
Hallo suzah,

entschuldige, dass ich erst jetzt auf deinen Kommentar antworte, er war mir irgendwie entgangen.

Dass dir der Text gefallen hat, freut mich.

Der Verlauf der Krankheit kann so sein, wie ich ihn geschildert habe. Ich habe den Mann gekannt!
Es ging mir aber in der Geschichte nicht darum, genau den medizinischen Verlauf der Krankheit zu schildern.

Gruß

Retep
 
Hallo Retep,

wow! Der Titel Fliegen verführte mich, diese Erzählung zu lesen, sie hat mich mitgerissen. Ich bin ergriffen. Dieses sich gegenseitig schonen wolllen, die Wahrheit zu verschweigen, den Partner nicht unnötig belasten, das hängt wohl mit Liebe zusammen.

Dein Erzählstil - beide kommen zu Wort - gefällt mir sehr. Der Schluss war unerwartet und wurde dem Titel gerecht. Gänsehautfaktor!

Anerkennenden Gruß,
Karin
 

Dirk Paulsen

Mitglied
Hallo Retep,

heute ist Anfang Oktober 2010 und ich habe die letzte Version gelesen (mit *). Wo fang ich an ...
Am besten wird sein, ich schildere mal genau meine Leseerfahrung:

im ersten Moment haben mich die Sternchen verwirrt und es hat ein paar Wechsel gebraucht, bis ich aufgrund der Perspektiven begriff, was abgeht. Dann habe ich die Story bis zu Ende gelesen und war ergriffen.
Dann kam das Ende. Brutal und mörderisch. Spontan der Gedanke: hätte ihr der Rollstuhl nicht entgleiten können? Er wäre geflogen und sie hätte es wissen können.
Das emotionale Ende wurde durch diesen letzten Satz kaltgestellt, was ich schade finde.

Dann habe ich alle Kommentare gelesen und mir kam der Gedanke, dass immer wieder Gedanken kursiv dargestellt werden. Vielleicht hätte man SEINE Gedanken kursiv und ihre in Normalschrift darstellen können. Ist nur so eine Idee.

Insgesamt hat mich Dein Text aber gefesselt. Warum würde man sonst wohl einen Kommentar abgeben :)
 

Retep

Mitglied
Hallo Dirk,

ich freue mich sehr, dass du den alten Text ausgegraben hast, darüber, dass er bei dir angekommen ist, noch mehr.

Meine Absicht war zu zeigen, dass sie ihn erlösen will, retten vor dem Erstickungstod.

Das mit "der Schrift" werde ich ändern.

Vielen Dank für deine Rückmeldung.

Einen schönen Tag wünsche ich dir.

Gruß

Retep
 

Dirk Paulsen

Mitglied
Hallo Retep,

nu ma langsam mit die jungen Pferde :)

Ich habe mich vielleicht etwas missverständlich ausgedrückt, deshalb etwas ausführlicher:

natürlich will sie ihn erlösen und das soll auch rüberkommen. Mir kam etwa sowas in den Sinn (nur ein Beispiel):

Das Gelände war leicht abschüssig. Sie hatte die Hände locker auf die Griffe des Rollstuhles gelegt. Plötzlich gab der steinige Untergrund nach und der Rollstuhl rollte los. (Sie hätte auch stolpern können; andere Ursachen für das Sich-In-Bewegung-Setzen des Rollstuhls sind denkbar) Sie hätte ihn festhalten können, aber sie tat es nicht. Er kippte über den Rand der Klippe ...

Ich sags mal anders. Hätte sie ihn hinterücks erschossen oder geköpft, wäre der emotionale Schluss nicht härter gewesen

Ich denke, wir können die Diskussion über das Ende aber auch an diesem Punkt abbrechen - schließlich hat jeder von uns andere Vorlieben und Ideen - und Deine ist gut. Punkt.

Ebenfalls ein schönes Wochenende.
 

Retep

Mitglied
Fliegen...

Fliegen müsste man können, wegfliegen, frei sein, wovon und für was auch immer. Dieser Gedanke hat mich schon immer fasziniert.
Aus dem alltäglichen Trott rauskommen, etwas anderes machen, nicht alles so wichtig nehmen.

Es ist Mittag, mein Unterricht ist zu Ende. Kein schlechter Tag heute.
Ich gehe die Treppe aus dem zweiten Stock hinunter, Gedränge, Schüler überholen mich. Eine Kollegin will wissen, ob ich sie morgen in der ersten Stunde vertreten kann, sie müsse zum Arzt.
Sie muss immer zum Arzt während ihrer Unterrichtszeit, obwohl sie Privatpatientin ist! Mein Beruf belastet mich in letzter Zeit ziemlich stark, dauernd Vertetungsstunden; ich zögere, erkläre mich aber dann doch dazu bereit.
Ich gehe etwas langsamer, bin müde, habe Schmerzen in den Beinen. Nachwirkungen der Grippe.

In den Ferien waren meine Frau und ich in unserem Haus am Meer, lange Wanderungen, gutes Essen, Wein, Diskussionen. In der letzten Woche hatte mich dann eine Grippe erwischt, Hals- und Kopfschmerzen; ich spürte meine Beine.
Joggen konnte ich auch nicht mehr.

Ich steige in mein Auto, mache die Fenster auf, heiß ist es, obwohl der Sommer zu Ende geht.
Gut, dass wir damals umgezogen sind. Zur Schule brauche ich nur zehn Minuten, meine Frau Ella zu ihrer Arbeitsstelle etwas länger.
Im Vorgarten müsste man einiges machen, denke ich, als ich vor unserem Reihenhaus aussteige.
Früher habe ich gern im Garten gearbeitet, es war ein Ausgleich zu meiner Arbeit in der Schule; bei dieser Arbeit konnte man den Erfolg schneller sehen.
Bei meiner ersten Arbeitsstelle, auf dem Land, beurteilte man den Lehrer nach dem Zustand seines Gartens.
Der Briefkasten an der Eingangstür quillt über, hauptsächlich Reklame, einige Rechnungen.
Ich esse einen Apfel, habe kaum Hunger, müde bin ich. Ich lege mich dann aufs Sofa, einen Mittagsschlaf brauche ich.

Ich komme von der Arbeit, stressiger Tag heute, alle glauben, dass wir vom Sozialamt ihre Probleme lösen können.
Die Küche hat er nicht aufgeräumt, die Wäsche ist immer noch in der Maschine; er wollte sie doch zum Trocknen aufhängen, liegt auf dem Sofa und schläft, obwohl es schon 17.00 Uhr ist.
In letzter Zeit ist er immer müde, wahrscheinlich Nachwirkungen seiner Grippe.
Ich schaue ihn an, er ist erst fünfzig, sieht jetzt aber älter aus, abgespannt, müde, irgendwie resigniert.
Ich mag seine Art, er ist intelligent, feinfühlig, hat Humor. Ich liebe ihn immer noch, obwohl wir jetzt über zwanzig Jahre verheiratet sind.
Ich wecke ihn mit einem Kuss auf, dann arbeiten wir zusammen im Haus.
Wir essen zu Abend, erzählen von unserem Arbeitstag, immer die gleichen Probleme.
Beim Fernsehen trinken wir zusammen Wein. Ihm fällt sein Glas aus der Hand. Früh gehen wir ins Bett, ich habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir.


Nach der zweiten Stunde fahre ich zum Arzt, die Schmerzen in meinen Beinen sind stärker geworden. Ich konnte nachts kaum schlafen, fast wäre ich hingefallen, als ich in der Schule die Treppe runterging. Musste mich am Geländer festhalten.
Da sitzen ein paar Leute im Wartezimmer, eine Frau ist schwanger. Warum haben wir eigentlich keine Kinder?
Ella wollte immer noch ein bisschen warten, wollte nicht ihren Beruf aufgeben.
So wurde es „später“ und „später“, die Zeit ist uns davon gelaufen.
Früher bin ich nie zum Arzt gegangen, hatte Glück, war nie krank, konnte Bäume ausreißen.

Dr. Lauer untersucht mich gründlich, erkundigt sich nach Beschwerden, schaut mich ernst an.
„Wie lange soll ich sie krank schreiben?“ ,fragt er mich. Das fragen die Ärzte immer, ich will gar nicht krank geschrieben werden, will arbeiten, wenn ich kann.
Er schreibt mich eine Woche krank und überweist mich ins Krankenhaus. Da müsste eine Reihe von Untersuchungen stattfinden, sagt er. In einer Woche sollte ich wiederkommen, dann hätte er genaue Ergebnisse.
Auf dem Weg zum Krankenhaus denke ich, dass ich besser nicht zum Arzt gegangen wäre, jahrelang war ich bei keinem.
Der ganze Vormittag vergeht mit allen möglichen neurologischen Untersuchungen, Rückenmarkflüssigkeit wird entnommen. Die probieren wohl alles an mir aus, bin ja Privatpatient, denke ich.

Er liegt wieder auf dem Sofa, stiert vor sich hin. Wir bereiten zusammen das Abendessen vor, kleinste körperliche Anstrengungen scheinen ihm Mühe zu bereiten. Er sagt, dass er morgen erst zur dritten Stunde Unterricht habe.

Meiner Frau habe ich nichts von Arztbesuchen erzählt, auch nicht, dass ich krank geschrieben wurde.
Sie geht früh aus dem Haus.
Mir schmerzen fast alle Glieder, auch der Rücken. Ich werde trotzdem heute morgen joggen gehen. Unser Haus liegt direkt am Wald.
Vielleicht kann mir das helfen. Ich erinnere mich, dass Joggen mir bei allen möglichen Problemen immer geholfen hat. Glücksgefühle werden dabei freigesetzt, die kann ich jetzt dringend gebrauchen.
Ich ziehe mein Sportzeug an und verlasse das Haus.Ich fange am Waldrand an, zu rennen und falle hin.
Mühsam rappele ich mich auf, humple zum Haus zurück.
Als ich mir die Schuhe ausziehe, merke ich, dass es in meinen Händen kribbelt, dass ich kaum etwas fühle.
Gehen kann ich nur mühsam, meine Beine knicken weg.
Im Keller haben wird ein Paar Krücken; Ella hatte sich im letzten Winter beim Skifahren ein Bein gebrochen.
Ich taste mich die Kellertreppe hinunter und hole sie. Ella werde ich erzählen, dass ich mir beim Joggen den Fuß verstaucht habe.

Als ich nach Hause komme, liegt er im Bett. Den Fuß hat er sich beim Joggen verstaucht, wie er sagt. Er sieht nicht gut aus, scheint Fieber zu haben, redet wenig und ist heiser.
Später kommt sein Freund und Kollege Theo vorbei, fragt, wie es ihm gehe, die Vertretung in seiner Klasse sei geregelt.
Wir sitzen zusammen am Tisch, essen und trinken Wein, Rainer trinkt wenig, isst wenig, redet wenig.
Die Krücken stehen neben ihm.
Ich fange an, mir Gedanken zu machen, wusste nicht, dass er krank geschrieben wurde.


Ich sitze am Fenster, schaue auf die Straße. Leute hasten vorüber, die alte Frau Michaelis aus dem Nebenhaus humpelt mühsam mit ihrem Gehwagen die Straße entlang. Über achtzig ist sie schon; Kinder rennen umher, Autos fahren vorbei. Mein Leben läuft vorbei.
Bis hierher ist es eigentlich nicht schlecht gelaufen, aber öfter habe ich mich wie in einer Falle gefühlt. Duschen, Frühstück, Schule, Mittagessen, Arbeit im Haus oder für die Schule, Abendessen, schlafen.
Jeden Tag fast der gleiche Rhythmus, der gleiche Ablauf, in den Ferien einige Reisen.
Soll das alles gewesen sein, habe ich öfter gedacht.
Jetzt ist die Falle endgültig zugeschnappt.
Da sitzt ein Krüppel am Fenster, schaut auf eine Welt, die er einmal verändern wollte.

Ich sehe ihn an Fenster sitzen, er sieht hinaus, sehr nachdenklich, nimmt an allem wenig Anteil.
Wo ist seine Fröhlichkeit geblieben, sein Humor, sein Engagement?
Ich werde wohl bald aufhören müssen zu arbeiten, er kommt alleine nicht mehr zurecht.


Es wird Herbst, die ersten Blätter fallen vom Ahornbaum vor dem Fenster ab, ich werde ihn wohl im nächsten Frühjahr nicht mehr blühen sehen.
Unser alter Kater wälzt sich auf dem Boden umher, kommt in letzter Zeit nicht mehr zu mir. Vielleicht rieche ich anders.


Seit Tagen liege ich nun im Bett, habe Gefühlstörungen in den Beinen, auch in den Armen, Schmerzen im Rücken und in allen Gliedern. Ich versuche meiner Frau zu erklären, dass das alles Nachwirkungen der Grippe seien.
Mein Fuß sei immer noch verstaucht, vielleicht sei es auch eine Muskelzerrung, deshalb hätte ich Schwierigkeiten beim Gehen.
Bei meinem letzten Arztbesuch erklärte mir Dr. Lauer, dass ich wahrscheinlich eine sehr seltene Krankheit hätte. Es sei eine schwere Lähmungserkrankung des peripheren Nervensystems.
Ich müsse ins Krankenhaus, der Aufenthalt auf einer neurologischen Intensivstation sei notwendig, da auch Störungen der Atem- und Herzkreislauffunktion zu erwarten seien.
Ständige Kontrollen der Kreislaufwerte sowie Verhinderung von Thrombosen und Lungenentzündungen seien erforderlich...
Ich hörte nicht mehr weiter zu, stand auf, nahm meine Krücken und verließ die Praxis. Mit einem Taxi fuhr ich nach Hause und legte mich hin.

Früher haben wir oft über das Sterben diskutiert. Angst vor dem Tod habe ich nie gehabt, aber Angst vor dem Sterben, vor einem Dahinsiechen, vor Schmerzen.
Eine Tablette müsste man haben, dachte ich oft, eine Tablette, die alles beendet.
Jetzt könnte ich sie wahrscheinlich gebrauchen, habe sie nicht.

Ich liege da und denke, denke an vieles, was ich getan habe, was ich hätte tun sollen, was ich noch alles tun wollte.
Eigentlich wollte ich Arzt werden, habe auch einige Semester Medizin studiert, als Krankenpfleger gearbeitet, bin dann aber Lehrer geworden; die Ausbildung war viel kürzer.
Ich hatte Ella kennen gelernt, sie ging noch zur Schule, war in einem Mädcheninternat, das von katholischen Nonnen geleitet wurde.
Nachts stieg ich durchs Fenster ein, blieb die ganze Nacht bei ihr.
Als ich morgens wieder aus dem Fenster steigen wollte, sah ich, dass es geschneit hatte.
Rückwärts ging ich über die Grünanlage zur Straße, legte Spuren zu allen Fenstern im ersten Stock.
Die Nonnen waren außer sich, als sie die Fußspuren sahen!

Ich kann kaum noch laufen, eine Gesichtshälfte ist gelähmt, kann nicht mehr schreiben und kaum noch lesen. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, und ich bin sehr müde.
Noch kann ich denken.
Warum musste das gerade mir passieren?

Besuch kommt kaum noch. Was sollten Menschen auch mit einem Mann wie mir anfangen, der nur dasitzt, trübsinnig, kaum noch verständlich reden kann.
Ella versucht Zuversicht vorzutäuschen, zeigt sich fröhlich, alles wird wieder gut sein. Aber ich sehe, welche Mühe sie das kostet. Sie umsorgt mich wie ein kleines Kind.

Heute ging es Rainer etwas besser, er konnte reden, ich konnte ihn verstehen.

„Erinnerst du dich noch, als wir zusammen in Portugal am Meer waren?“, fragte er mich.
„Ja, es war Sommer, eine Bullenhitze.“
„Erinnerst du dich auch an die alte Frau, die da saß, am Strand, im Sand, auf einem Handtuch und auf das Meer schaute?“
„Ja, sie war schon sehr alt und allein.“
„Sie schaute aufs Wasser, als wenn sie etwas finden wollte, was sie verloren hatte oder etwas finden wollte, was sie bisher nicht gefunden hatte. Ich glaube, sie wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Ich möchte auch noch einmal raus, am Meer sein, Vögel fliegen sehen, aufs Wasser schauen und träumen.“

Ich habe einen Rollstuhl gekauft, kann damit mit Rainer spazieren gehen. Er muss dann nicht immer im Bett liegen, kommt mal aus dem Haus, kann endlich einmal wieder etwas anderes sehen.

Spazieren werde ich jetzt gefahren, sitze in meinem Rollstuhl wie ein Greis. Wir setzen uns manchmal in ein Café und die Leute starren mich an, sehen meine unkontrollierten Bewegungen, Zuckungen , meine Hände, wie sie zittern.
Ich kann mich kaum noch auf etwas konzentrieren, kaum noch atmen, verliere Erinnerungen und manchmal das Bewusstsein.
Gefangen bin ich, gefangen in meinem Körper, allein, fühle fast nur noch wie ein Tier.

Es geht ihm schlechter, Schmerzen. Er kann kaum noch schlucken, kaum noch reden. Es gibt Augenblicke, in denen er mich nicht mehr kennt.
Er kann nur noch mühsam atmen, irgendwann wird er ersticken.


Es ist kalt, früh am Morgen, wir verlassen unser Haus am Meer. Ich schiebe ihn in seinem Rollstuhl.
Vögel fliegen über uns, aber er kann seinen Kopf nicht heben, nicht nach oben schauen, hören kann er sie vielleicht.


Ich höre Vögel, über mir fliegen sie, ich kann sie nicht sehen. Ich schaue zum Meer hinunter, sehe sie jetzt, sie schweben zum Meer hinunter, mühelos, sie sind frei.
Fliegen müsste ich können, von allem davonfliegen, zurück fliegen, alles von weit oben sehen, klein und unscheinbar, unwichtig. Dann wäre ich frei.
Ich schaue sie an, sie kniet vor mir, schaut mich an.
Ich will ihr sagen, dass es eine schöne Zeit mit ihr war, dass ich sie immer noch so liebe wie am ersten Tag, vielleicht noch viel mehr, dass sie die vielen guten Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit behalten soll, aber meine Lippen bewegen sich nicht, mein Mund gehorcht nicht mehr.
Ihre Augen sehen mich machtlos an, sehen wie ich in Einsamkeit versinke.

Ich schaue ihn an, knie vor ihm, vor seinem Rollstuhl, umfasse seine Beine, sehe wie er mühsam atmet, mich verzweifelt anschaut, mir etwas sagen will.
Ich stehe auf, streichle sein Gesicht, schiebe ihn an der Rand des Felsens und stoße den Rollstuhl vorwärts.


Ich kann fliegen...
 



 
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