DarkskiesOne
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Flieh, wenn du kannst
Donnernd schießt der Zug in den Tunnel, taucht ein in das schwarze Niemandsland zwischen zwei Stationen. Das monotone Rütteln der Wagen schüttelt die Fahrgäste, drängt Körper gegen Körper. Mit leerem Blick stiert sie auf ihre Hände. Schmale, feingliedrige Finger, die ineinander verkrampft in ihrem Schoß liegen, als könne sie dadurch das unbändige Zittern unterdrücken, das ihren gesamten Körper wie Stromschläge durchläuft. Nach einer Ewigkeit hebt sie langsam, wie in Trance, den Kopf und blickt aus dem Wagenfenster. Die reflektierende Scheibe wirft ein leichenblasses Gesicht zurück, umrahmt vom dunklen Nichts des Tunnels jenseits des Glases.
Warum kann es niemand sehen, fragt sie sich voller Verzweiflung, als sie ihr makelloses Äußeres mit der unvoreingenommenen Distanz eines Fremden betrachtet.
Der Schatten eines blauen Auges.
Verkrustetes Blut auf den aufgesprungenen Lippen.
Dunkelrote Kratzer, die sich wie feine Äderchen durch die anmutige Blässe ihrer Wangen zögen.
Irgendein Zeichen, eine stumme Anklage, ein lautloses Flehen um Hilfe und Verständnis.
Doch es gibt nichts zu sehen.
Er hatte es gut verborgen. Die ganzen verfluchten Jahre über. Kein Außenstehender hätte auch nur ahnen können, was er ihr angetan hatte.
Sie wendet den Blick ab und zwingt sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen.
Der Zug verlangsamt seine Fahrt und kommt ächzend und quietschend an der Haltestelle zum Stehen. Zischend öffnen sich die Türen und ergießen einen Strom von Fahrgästen auf den schmutzig-grauen Bahnsteig. Andere Menschen drängen in das Abteil, für die Dauer ihrer Reise zu einer unangenehmen Nähe gezwungen.
Sie späht um sich. Waren sie bereits hinter ihr her?
Ein junger Mann in Anzug und Krawatte lässt sich auf dem freigewordenen Platz neben ihr nieder. Sein eleganter Mantel streift ihren Ärmel und sie zuckt bei der Berührung unwillkürlich zusammen. Er wirft einen flüchtigen, überraschten Blick auf die hübsche junge Frau mit dem bleichen Gesicht, bevor er kaum merklich von ihr abrückt und sich der Lektüre seines abgegriffenen Taschenbuches widmet.
Verdammt noch mal, bleib ruhig, versucht sie ihr aufgewühltes Selbst zur Ordnung zu rufen.
Um Gottes Willen nicht auffallen. Nur wenn sie unsichtbar bleibt, hat sie vielleicht eine Chance.
Sie sinkt in sich zusammen und gibt sich wieder ihren quälenden Gedanken hin.
Geschlagen hatte er sie nie.
"Ich würde dir doch niemals wehtun, Kleines", hörte sie ihn mit sanfter Stimme sagen, während er sie mit diesem kalten Lächeln bedachte, das sein Gesicht zu einer dämonischen Fratze verzerrte und seine Worte Lügen strafte. Die Wunden, die er ihr zugefügt hatte, saßen tief unter der Oberfläche.
Für den arglosen Betrachter nicht zu erkennen.
Die U-Bahn setzt unbeirrbar ihren Weg fort, ratternd und schüttelnd von Station zu Station. Lässt die Distanz zum Ort des Grauens größer und größer werden, doch die schrecklichen Bilder trägt sie in sich, wohin auch immer sie flüchten mag.
Grell gefärbte, schreiende Schnappschüsse, die ihren wehrlosen Geist mit ihrem unheimlichen Eigenleben füllen. Unaufhörlich kreisen ihre Gedanken um diese letzten Sekunden vor ihrer Befreiung, die ihr Leben auf so brutale Weise verändert haben. Das gleißende Neonlicht der nächsten Station verwandelt die Gesichter der Fahrgäste in wächserne Masken. Menschen treten hastig aus der sich öffnenden Tür, streben schnellen Schrittes ihrem wohl geordneten Leben entgegen.
Sie und eine weitere junge Frau bleiben als einzige Fahrgäste zurück.
Die Bahn nähert sich der Stadtgrenze. Der stetig dahinrollende Zug hat das dunkle Gewand des Tunnels gegen den schützenden Schleier der hereinbrechenden Nacht getauscht. Vereinzelt funkeln silberne Sterne verheißungsvoll in der befreienden Weite des Abendhimmels.
Ob sie hier aussteigen soll? Aber da es kein Ziel gibt, ist es egal, wann und wo die Fahrt endet.
Nächster Halt. Der Bahnsteig wartet still und verlassen. Keine Polizei.
Nur ein einzelner Mann lehnt an einem hell erleuchteten Süßwarenautomaten.
Eifrig in ein Telefongespräch vertieft, schenkt er soeben seinem unsichtbaren Gesprächspartner ein zustimmendes Nicken, bevor er das Handy in seiner Jackentasche verschwinden lässt. Langsam nähert sich der Fremde jetzt der Wagentür und betritt das Abteil am äußersten Ende. Mit einem Ruck setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Sie verspürt eine vage Erleichterung, bevor sich erneut das grauenhafte Geschehen vor ihrem inneren Auge abspielt.
Seine verzerrten Gesichtszüge, die einen Hauch von Überraschung und Unglauben tragen. Weit aufgerissene Augen starren sie hasserfüllt an. Der grobe Körper, seltsam gekrümmt auf dem cremefarbenen Teppichboden. Pulsierendes Rot und glänzendes Metall.
Eiskalt in ihrer Hand. Scharf und ohne Gnade.
Sie beobachtet sich selbst, wie sie in blinder Panik aus dem Appartement stürzt. Im Treppenhaus prallt sie mit einer Nachbarin zusammen, strauchelt, fängt sich und stolpert schluchzend und keuchend die Treppe hinunter. Von weither vernimmt ihr Unterbewusstsein einen gellenden Aufschrei, dann erreicht sie die Straße und läuft um ihr Leben.
Der junge Mann am anderen Ende des Wagens hat sich währenddessen unaufhaltsam näher geschoben. Eben neigt er mit gewinnendem Lächeln den Kopf zu der jungen Frau, ihrer einzigen Reisegenossin. Die beiden wechseln ein paar Worte. Die Frau beginnt, in ihrer Handtasche zu wühlen. Was will er bloß? Gebannt beobachtet sie die Szene. Verfolgt, wie die Frau zunächst ein Schminketui, einen silberfarbenen Taschenspiegel und zu guter Letzt eine schwarze, lederne Brieftasche zu Tage fördert.
Auf dem letzten Wegstück gibt es keine weitere Haltestelle. Bitte, lass´ ihn nur die Fahrscheine kontrollieren. Ihre trockenen Lippen formen ein stummes Stoßgebet. Natürlich hat sie keinen Fahrschein. Aber das ist im Moment ihr geringstes Problem.
Schweiß rinnt ihren Rücken hinab, benetzt ihre Stirn, perlt von der Nasenspitze auf die Oberlippe, den salzigen Geschmack von Angst und Verzweiflung zurücklassend. Kein Ausweg. Die Brieftasche wird geöffnet. Die junge Frau scheint nicht zu finden, was sie sucht. Mit wachsender Hast durchwühlt sie die Brieftasche, der junge Mann trommelt nun bereits ungeduldig mit den Fingerspitzen gegen die Lehne ihres Sitzes, wirft einen prüfenden Blick den Gang hinunter.
Eine geschlechtslose Stimme aus dem knackenden Lautsprecher über ihren Köpfen verkündet die Einfahrt in die Endstation. Noch zwei Minuten.
Zwei unendliche Minuten, die mit jeder ihrer zähflüssig verstreichenden Sekunden zu einem unüberwindlichen Berg von quälender Zeit anwachsen.
Zeit, die gegen sie arbeitet.
Die plötzliche, erdrückende Enge ihres unfreiwilligen Gefängnisses ist kaum noch zu ertragen.
Schließlich hält die junge Frau dem wartenden Mann eine kleine Karte entgegen. Er nimmt sie an sich und mustert das Gesicht seines Gegenübers aufmerksam, bevor er die Karte mit einem flüchtigen Lächeln zurückgibt. Mit schnellen Schritten nähert er sich jetzt ihr, seinem letzten Opfer.
Schwankend erhebt sie sich von ihrem Platz und stolpert der rettenden Tür entgegen.
"Hey, Lady", seine Stimme klingt freundlich und klar durch das Rauschen des Blutes in ihren Ohren. "Dürfte ich ihren Ausweis sehen?" Mit einem triumphierenden kleinen Klacken schnappt die Falle zu. Er tritt jetzt ganz nah an sie heran. Greift ihren Arm und dreht sie behutsam zu sich herum, als sie stocksteif verharrt. Blickt ihr prüfend ins Gesicht. Stutzt. In seiner linken Hand hält er das Handy. Er senkt seine grünen Augen auf das winzige Display und starrt so konzentriert darauf, als wolle er mit seinem Blick ein Loch hineinbrennen. Dann hebt er den Kopf.
Der Schock der Erkenntnis malt eine tiefe Falte zwischen seine dichten, dunklen Augenbrauen. Seine Augen finden die ihren und halten sie fest, als könne er irgendwo in der Tiefe ihres Blickes die Antworten auf die unausgesprochenen Fragen finden, die sich unaufhaltsam in seinem Kopf formen.
Wie in einem offenen Buch vermag sie den Widerstreit der Gefühle in seinem sympathischen Gesicht zu lesen.
Nein, man kann es niemandem ansehen, denkt sie fast schadenfroh. Keiner kann ahnen, wozu ein Mensch fähig sein mag. Nicht einmal der Betreffende selbst. Bis er eines Tages die Grenze überschreitet und schließlich das Unfassbare tut.
Der junge Polizist hat sie identifiziert. Sie haben ihm ein Foto von ihr geschickt. Ganz sicher.
Hier also endet ihr Weg.
Er schüttelt den Kopf, als wolle er seine Gedanken, die sich sicherlich darin überschlagen müssen, gewaltsam wieder an Ort und Stelle rücken.
Wo sind die Handschellen? Wäre dies hier ein Krimi im Fernsehen, hätte er ihr jetzt bereits Handschellen angelegt. Aber im richtigen Leben wird ein Zivilpolizist anscheinend mit einer Frau auch ohne diese albernen Hilfsmittel fertig.
Sogar, wenn sie eine Mörderin ist.
Der Zug hält mit einem scharfen Ruck an der Endstation.
Einladend öffnet sich die Tür, jetzt, da alles verloren ist, mit einem lang anhaltenden, schrillen Quietschen. Es klingt wie ein höhnisches Kichern.
Die junge Frau vom anderen Ende des Wagens ist nirgendwo mehr zu sehen.
Sie sind allein.
Er zögert.
Schaut sie eine Ewigkeit durchdringend an.
"Er wird es verdient haben", sagt er und nichts weiter.
Dann schubst er sie aus der geöffneten Zugtür hinaus in die erlösende Weite eines menschenleeren Bahnsteigs.
Donnernd schießt der Zug in den Tunnel, taucht ein in das schwarze Niemandsland zwischen zwei Stationen. Das monotone Rütteln der Wagen schüttelt die Fahrgäste, drängt Körper gegen Körper. Mit leerem Blick stiert sie auf ihre Hände. Schmale, feingliedrige Finger, die ineinander verkrampft in ihrem Schoß liegen, als könne sie dadurch das unbändige Zittern unterdrücken, das ihren gesamten Körper wie Stromschläge durchläuft. Nach einer Ewigkeit hebt sie langsam, wie in Trance, den Kopf und blickt aus dem Wagenfenster. Die reflektierende Scheibe wirft ein leichenblasses Gesicht zurück, umrahmt vom dunklen Nichts des Tunnels jenseits des Glases.
Warum kann es niemand sehen, fragt sie sich voller Verzweiflung, als sie ihr makelloses Äußeres mit der unvoreingenommenen Distanz eines Fremden betrachtet.
Der Schatten eines blauen Auges.
Verkrustetes Blut auf den aufgesprungenen Lippen.
Dunkelrote Kratzer, die sich wie feine Äderchen durch die anmutige Blässe ihrer Wangen zögen.
Irgendein Zeichen, eine stumme Anklage, ein lautloses Flehen um Hilfe und Verständnis.
Doch es gibt nichts zu sehen.
Er hatte es gut verborgen. Die ganzen verfluchten Jahre über. Kein Außenstehender hätte auch nur ahnen können, was er ihr angetan hatte.
Sie wendet den Blick ab und zwingt sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen.
Der Zug verlangsamt seine Fahrt und kommt ächzend und quietschend an der Haltestelle zum Stehen. Zischend öffnen sich die Türen und ergießen einen Strom von Fahrgästen auf den schmutzig-grauen Bahnsteig. Andere Menschen drängen in das Abteil, für die Dauer ihrer Reise zu einer unangenehmen Nähe gezwungen.
Sie späht um sich. Waren sie bereits hinter ihr her?
Ein junger Mann in Anzug und Krawatte lässt sich auf dem freigewordenen Platz neben ihr nieder. Sein eleganter Mantel streift ihren Ärmel und sie zuckt bei der Berührung unwillkürlich zusammen. Er wirft einen flüchtigen, überraschten Blick auf die hübsche junge Frau mit dem bleichen Gesicht, bevor er kaum merklich von ihr abrückt und sich der Lektüre seines abgegriffenen Taschenbuches widmet.
Verdammt noch mal, bleib ruhig, versucht sie ihr aufgewühltes Selbst zur Ordnung zu rufen.
Um Gottes Willen nicht auffallen. Nur wenn sie unsichtbar bleibt, hat sie vielleicht eine Chance.
Sie sinkt in sich zusammen und gibt sich wieder ihren quälenden Gedanken hin.
Geschlagen hatte er sie nie.
"Ich würde dir doch niemals wehtun, Kleines", hörte sie ihn mit sanfter Stimme sagen, während er sie mit diesem kalten Lächeln bedachte, das sein Gesicht zu einer dämonischen Fratze verzerrte und seine Worte Lügen strafte. Die Wunden, die er ihr zugefügt hatte, saßen tief unter der Oberfläche.
Für den arglosen Betrachter nicht zu erkennen.
Die U-Bahn setzt unbeirrbar ihren Weg fort, ratternd und schüttelnd von Station zu Station. Lässt die Distanz zum Ort des Grauens größer und größer werden, doch die schrecklichen Bilder trägt sie in sich, wohin auch immer sie flüchten mag.
Grell gefärbte, schreiende Schnappschüsse, die ihren wehrlosen Geist mit ihrem unheimlichen Eigenleben füllen. Unaufhörlich kreisen ihre Gedanken um diese letzten Sekunden vor ihrer Befreiung, die ihr Leben auf so brutale Weise verändert haben. Das gleißende Neonlicht der nächsten Station verwandelt die Gesichter der Fahrgäste in wächserne Masken. Menschen treten hastig aus der sich öffnenden Tür, streben schnellen Schrittes ihrem wohl geordneten Leben entgegen.
Sie und eine weitere junge Frau bleiben als einzige Fahrgäste zurück.
Die Bahn nähert sich der Stadtgrenze. Der stetig dahinrollende Zug hat das dunkle Gewand des Tunnels gegen den schützenden Schleier der hereinbrechenden Nacht getauscht. Vereinzelt funkeln silberne Sterne verheißungsvoll in der befreienden Weite des Abendhimmels.
Ob sie hier aussteigen soll? Aber da es kein Ziel gibt, ist es egal, wann und wo die Fahrt endet.
Nächster Halt. Der Bahnsteig wartet still und verlassen. Keine Polizei.
Nur ein einzelner Mann lehnt an einem hell erleuchteten Süßwarenautomaten.
Eifrig in ein Telefongespräch vertieft, schenkt er soeben seinem unsichtbaren Gesprächspartner ein zustimmendes Nicken, bevor er das Handy in seiner Jackentasche verschwinden lässt. Langsam nähert sich der Fremde jetzt der Wagentür und betritt das Abteil am äußersten Ende. Mit einem Ruck setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Sie verspürt eine vage Erleichterung, bevor sich erneut das grauenhafte Geschehen vor ihrem inneren Auge abspielt.
Seine verzerrten Gesichtszüge, die einen Hauch von Überraschung und Unglauben tragen. Weit aufgerissene Augen starren sie hasserfüllt an. Der grobe Körper, seltsam gekrümmt auf dem cremefarbenen Teppichboden. Pulsierendes Rot und glänzendes Metall.
Eiskalt in ihrer Hand. Scharf und ohne Gnade.
Sie beobachtet sich selbst, wie sie in blinder Panik aus dem Appartement stürzt. Im Treppenhaus prallt sie mit einer Nachbarin zusammen, strauchelt, fängt sich und stolpert schluchzend und keuchend die Treppe hinunter. Von weither vernimmt ihr Unterbewusstsein einen gellenden Aufschrei, dann erreicht sie die Straße und läuft um ihr Leben.
Der junge Mann am anderen Ende des Wagens hat sich währenddessen unaufhaltsam näher geschoben. Eben neigt er mit gewinnendem Lächeln den Kopf zu der jungen Frau, ihrer einzigen Reisegenossin. Die beiden wechseln ein paar Worte. Die Frau beginnt, in ihrer Handtasche zu wühlen. Was will er bloß? Gebannt beobachtet sie die Szene. Verfolgt, wie die Frau zunächst ein Schminketui, einen silberfarbenen Taschenspiegel und zu guter Letzt eine schwarze, lederne Brieftasche zu Tage fördert.
Auf dem letzten Wegstück gibt es keine weitere Haltestelle. Bitte, lass´ ihn nur die Fahrscheine kontrollieren. Ihre trockenen Lippen formen ein stummes Stoßgebet. Natürlich hat sie keinen Fahrschein. Aber das ist im Moment ihr geringstes Problem.
Schweiß rinnt ihren Rücken hinab, benetzt ihre Stirn, perlt von der Nasenspitze auf die Oberlippe, den salzigen Geschmack von Angst und Verzweiflung zurücklassend. Kein Ausweg. Die Brieftasche wird geöffnet. Die junge Frau scheint nicht zu finden, was sie sucht. Mit wachsender Hast durchwühlt sie die Brieftasche, der junge Mann trommelt nun bereits ungeduldig mit den Fingerspitzen gegen die Lehne ihres Sitzes, wirft einen prüfenden Blick den Gang hinunter.
Eine geschlechtslose Stimme aus dem knackenden Lautsprecher über ihren Köpfen verkündet die Einfahrt in die Endstation. Noch zwei Minuten.
Zwei unendliche Minuten, die mit jeder ihrer zähflüssig verstreichenden Sekunden zu einem unüberwindlichen Berg von quälender Zeit anwachsen.
Zeit, die gegen sie arbeitet.
Die plötzliche, erdrückende Enge ihres unfreiwilligen Gefängnisses ist kaum noch zu ertragen.
Schließlich hält die junge Frau dem wartenden Mann eine kleine Karte entgegen. Er nimmt sie an sich und mustert das Gesicht seines Gegenübers aufmerksam, bevor er die Karte mit einem flüchtigen Lächeln zurückgibt. Mit schnellen Schritten nähert er sich jetzt ihr, seinem letzten Opfer.
Schwankend erhebt sie sich von ihrem Platz und stolpert der rettenden Tür entgegen.
"Hey, Lady", seine Stimme klingt freundlich und klar durch das Rauschen des Blutes in ihren Ohren. "Dürfte ich ihren Ausweis sehen?" Mit einem triumphierenden kleinen Klacken schnappt die Falle zu. Er tritt jetzt ganz nah an sie heran. Greift ihren Arm und dreht sie behutsam zu sich herum, als sie stocksteif verharrt. Blickt ihr prüfend ins Gesicht. Stutzt. In seiner linken Hand hält er das Handy. Er senkt seine grünen Augen auf das winzige Display und starrt so konzentriert darauf, als wolle er mit seinem Blick ein Loch hineinbrennen. Dann hebt er den Kopf.
Der Schock der Erkenntnis malt eine tiefe Falte zwischen seine dichten, dunklen Augenbrauen. Seine Augen finden die ihren und halten sie fest, als könne er irgendwo in der Tiefe ihres Blickes die Antworten auf die unausgesprochenen Fragen finden, die sich unaufhaltsam in seinem Kopf formen.
Wie in einem offenen Buch vermag sie den Widerstreit der Gefühle in seinem sympathischen Gesicht zu lesen.
Nein, man kann es niemandem ansehen, denkt sie fast schadenfroh. Keiner kann ahnen, wozu ein Mensch fähig sein mag. Nicht einmal der Betreffende selbst. Bis er eines Tages die Grenze überschreitet und schließlich das Unfassbare tut.
Der junge Polizist hat sie identifiziert. Sie haben ihm ein Foto von ihr geschickt. Ganz sicher.
Hier also endet ihr Weg.
Er schüttelt den Kopf, als wolle er seine Gedanken, die sich sicherlich darin überschlagen müssen, gewaltsam wieder an Ort und Stelle rücken.
Wo sind die Handschellen? Wäre dies hier ein Krimi im Fernsehen, hätte er ihr jetzt bereits Handschellen angelegt. Aber im richtigen Leben wird ein Zivilpolizist anscheinend mit einer Frau auch ohne diese albernen Hilfsmittel fertig.
Sogar, wenn sie eine Mörderin ist.
Der Zug hält mit einem scharfen Ruck an der Endstation.
Einladend öffnet sich die Tür, jetzt, da alles verloren ist, mit einem lang anhaltenden, schrillen Quietschen. Es klingt wie ein höhnisches Kichern.
Die junge Frau vom anderen Ende des Wagens ist nirgendwo mehr zu sehen.
Sie sind allein.
Er zögert.
Schaut sie eine Ewigkeit durchdringend an.
"Er wird es verdient haben", sagt er und nichts weiter.
Dann schubst er sie aus der geöffneten Zugtür hinaus in die erlösende Weite eines menschenleeren Bahnsteigs.