Kennen sie das andere Leben? Das Leben, welches sie geführt hätten? Das Leben in einer anderen Welt? Nein ? Fahren sie zur Hölle. Denn genau dort bin ich aufgewacht, und ich kenne den Weg in mein altes Leben, in meine alte Welt nicht mehr. Folgen sie mir ein paar Schritte in die Vergangenheit – diese Buchstaben sollen ihr Wegweiser sein.
*
Ich erwachte zum letzten Mal für eine lange Zeit. Mein Kopf schmerzte. Die Gedanken an die Feier im Schauspielhaus Hamburg durchzogen in Fragmenten mein Bewusstsein. Wir hatten nach der Probe getrunken, anschließend war ich mit der U – Bahn bis zur Haltestelle Borgweg gefahren. Von dort waren es nur wenige Meter bis zu meinem Apartment im Paul – Sudeck –Haus, einem Studentenwohnheim. Seine Anwohner nannten es auch den Selbstmord – Turm, denn aus dem dreizehnten und letzten Stock waren schon wiederholt verzweifelte Seelen in den Tod gesprungen. Ein Schleier lag auf meinen Erinnerungen, als ich aufstand und durch den leeren Flur an den Zimmern meiner Mitbewohner vorbei ins Bad ging. Niemand war da und es waren keine Geräusche zu hören. Die Stille umgab mich, und ich fühlte mich einen kurzen Augenblick sehr einsam, obwohl meine Freundin nur wenige Meter und drei Stockwerke entfernt wohnte. Ein Gefühl, fremd und bedrohlich, begleitete mich unter die Dusche. Während ich das Wasser aufdrehte und den Schwall warmen Wassers genoss, versuchte ich meine Gedanken zu ordnen, doch es gelang mir nicht.
*
Die Farben ließen mich taumeln, als ich auf die Straße hinaus trat. Für einen Moment dröhnten die Geräusche der Fahrzeuge genauso laut in meine Ohren wie die Stimmen der Passanten. Ich ging mit gesenktem Blick in Richtung der U – Bahn – Station. Der Lärm in meinem Kopf schwoll zu einem Orkan aus Geräuschen an. Links und rechts von mir glitten die Körper der Anderen vorbei, hin und wieder kam einer von ihnen direkt auf mich zu und wich erst kurz vor einer Kollision aus. All die Menschen hörte ich reden, und sie sprachen anders als sonst. Ich ging die Treppen der Station hinunter und stieg in die U – Bahn ein. Das Gefühl, dabei im Zentrum zu sein, von allen gesehen zu werden, begleitete und verunsicherte mich. Ich schob es beiseite, so gut es ging.
*
Am Abend ging ich mit meinem Kommilitonen Marc auf die Reeperbahn. Wir steuerten den Kaiserkeller an, eine Disco im Keller der Großen Freiheit. Meine Freundin war auf einem Geburtstag eingeladen, und so waren wir allein unter Männern. Zwar war es kalt, doch der Alkohol wärmte mich von innen. Auch war das unwirkliche Gefühl von heute morgen einer weitaus angenehmeren Betrunkenheit gewichen. Ich fühlte mich gut. Im Kaiserkeller zögerten wir auch nicht lange und steuerten die Bar an. Mit einem Getränk in der Hand setzte ich mich an die Theke und ließ meinen Blick über die Tanzfläche gleiten, bis er sich in Augen verlor, die suchten. Ein Lächeln später leerte ich meine Flasche mit einem Zug, stand auf und ging zum Kondomautomaten in der Herrentoilette.
*
Die Lady hörte auf den Namen Jodie. Unter ihrem schulterlangen, schwarzen Haar funkelten blaue Augen in einem schmalen Gesicht. Sie erzählte mir aus ihrem Leben, mal ernst, mal mit einem Lachen, ohne dass ich auch nur ein Wort verstand. Gegen zwei Uhr Nachts – ich war bereits reichlich angetrunken - fragte sie mich, ob ich sie nach Hause begleiten wolle. Ich wollte nicht lallen, also nickte ich nur. Jodie griff mich an der Hand und zog mich hinter sich die Treppe hoch.
*
Jodie stöhnte, als ich an ihrem Körper hinab glitt und ihre Brüste mit Küssen bedeckte. Wir trieben es auf dem Fußboden, hart und kalt. Sie stöhnte auf, als es ihr kam, und ich rollte von ihr herunter. Sie gab mir einen Kuss, drehte sich um und schlief nach wenigen Momenten ein. Ich wollte auch schlafen, doch es ging nicht – Wir sehen dich! – und so stand ich auf, ging in die Küche und nahm mir aus dem Kühlschrank ein Bier. Auf dem Küchentisch lagen Zeitschriften. Ich griff mir eine Illustrierte, blätterte darin und langweilte mich. Schließlich beschloss ich, nach Hause zu gehen. Auf Zehenspitzen schlich ich mich aus der Wohnung und ging zur S – Bahn Station. Die nächste Bahn fuhr erst in 30 Minuten, also setzte ich mich auf eine Bank und wartete.
*
Blut klebte unter meinen Fingernägeln und Angst ergriff mich. Während das erste Sonnenlicht des Tages die Nacht verjagte, dachte ich über Geschlechtskrankheiten nach und wie sie übertragen werden. Meine Hand hielt einen Bierdeckel, auf den Jodie ihre Telefonnummer gekritzelt hatte. Ich zögerte, dann holte ich ein Handy aus meiner Jackentasche, wählte die Nummer und wartete, bis Jodies müde Stimme erklang.
„Hallo?“
„Ich bin es. Hast du gut geschlafen?“, fragte ich.
„ Es ist sechs Uhr morgens“, antwortete sie. „Was willst du?“
„Hast du in letzter Zeit einen Aids – Test gemacht?
Schweigen füllte die Leitung, gefolgt von einem lang gezogenen Ton. Ohne ein Wort zu sagen, hatte Jodie aufgelegt.
*
Es waren fast 30 Stunden vergangen, seit ich das letzte Mal geschlafen hatte. Geräusche schienen heute lauter zu sein als sonst, also betäubte ich meine Sinne mit Bier. Gegen Abend fuhr ich mit der U – Bahn zum Schauspielhaus. Wir wollten für die nächste Aufführung proben. Was seht ihr mich so an? Gibt’s hier was zu sehen? An der Haltestelle Hauptbahnhof stieg ich aus und ging die letzten Meter zu Fuß. Alle sehen mich, was ist los? Der Pförtner öffnete die Tür, ich grüßte und ging die Treppe zum kleinen Saal hoch, wo mich zu meiner Überraschung unsere Leiterin Liz vor der Türe erwartete.
„Wir müssen reden“, sagte sie.
„Worüber“, fragte ich.
Sie zeigte mir eine Karte. Es war eine Todesanzeige für eine mir fremde Person.
„Er wurde tot in seiner Wohnung gefunden. Ein Freund von Ann.“ sagte Liz.
Ann war 24 und sollte die Hauptrolle in unserem Stück spielen.
„Im Ernst?“ Ich wusste beim besten Willen nicht, was Liz mir sagen wollte.
„Mit dem Tod scherzt man nicht.“
„Und weiter?“
„Ich will nicht, dass auch du stirbst.“
*
Keiner meiner Freunde hatte Zeit, und so ging ich alleine in den Grünspan, eine Heavy - Disco auf dem Kiez. Auf dem Weg trank ich einen kleinen Flachmann, und so war ich bereits gut bedient, als ich die Disco betrat.
Ich ging durch den Raum und sah mich um, als mich plötzlich eine Hand am Ärmel griff. Es war Jodie und Hass glänzte in ihren Augen.
„Entschuldige dich.“
„Wieso sollte ich?“ fragte ich.
„Das solltest du verdammt gut wissen. Ich wurde vergewaltigt“, brüllte Jodie gegen den Lärm der Musik in mein Gesicht.
Ich löste ihren Griff von meinem Gelenk und bestellte mir an der Theke ein Bier. Mit dem Glas in der Hand ging ich die Treppe hoch auf eine Empore neben der Tanzfläche. Es war voll im Grünspann und auf der Tanzfläche tanzten die Leute zu der Musik von Slipknot. Plötzlich versetzte mir jemand einen Schlag, so dass ich vorwärts stürzte und auf meinen Händen landete, während mein Glas rechts von mir auf dem Boden zerschellte. Als ich zurück blickte, lächelten mich drei in schwarz gekleidete Männer an. Zwei von Ihnen hatten lange, zu einem Pferdeschwanz frisierte Haare. Sie umrahmten einen Mann mit Glatze. Ich stand auf, ging die Treppe hinunter und lehnte mich gegen die Wand, doch die Männer folgten mir und bauten sich vor mir auf.
„Wir müssen mit dir reden.“ sagte der Glatzköpfige, auf dessen Unterarm eine Tätowierung zu sehen war. „Komm mit.“
Wir gingen in einen stilleren Bereich der Disco nahe beim Ausgang, und der Tätowierte griff mich beim Kragen und presste mich gegen die Wand.
„Du weist, was du zu tun hast“, sagte er, und ging einen Schritt zur Seite. Hinter ihm stand Jodie und wartete auf meine Entschuldigung. Ich regte mich nicht und schwieg. Sie kam näher, bis ich ihr süßliches Parfum riechen konnte.
„Sag es.“
„Ich weis nicht was du...“
Jodie schlug mir ihre Faust unters Kinn, so dass ich mit dem Kopf gegen die Wand schlug, wandte sich ab und ging zurück in den Tanzraum. Die drei Typen brachen in lautes Gelächter aus und folgten ihr.
*
Alle sahen mich an. Die Passagiere der U – Bahn - Du bist schuldig! Wir kriegen dich, wir töten dich! machten mir Angst. Nach drei Stationen stieg ich aus und ging die letzten Meter zu meiner Wohnung zu Fuß. Ich erreichte das Wohnheim und betrat den Fahrstuhl. In Begleitung einer zierlichen Frau fuhr ich in den 3. Stock. Sie musterte mich. Als sie ausstieg Idiot! formten ihre Lippen lautlos Worte. Widerlicher Dummkopf! Die Türe schloss sich hinter ihr, der Fahrstuhl rumpelte ein Stockwerk höher und ich stieg aus. Aus dem Flur drangen laute Stimmen, doch als ich den Wohnraum betrat, verstummten sie. Ich setzte mich auf die Couch. Langsam kamen die Gespräche wieder in Gang; ich lauschte ihnen und versuchte zu verstehen. Es gelang mir nicht. In Gedanken verloren formten meine Finger aus einem Stück Alufolie eine kleine, kaum Fingerdicke Kugel. Während die Stimmen der Anderen aus allen Richtungen erklangen, ergriff mich eine schwere Müdigkeit, aus der mich plötzlich ein harter Schlag an die Schläfe erweckte.
„Bastard. Ich war mit 12 so weit wie du“, brüllte Andrei, der Russe. Benommen erhob ich mich und taumelte aus dem Raum. Wir bringen dich um. Du wirst es sehen! Ich konnte hier nicht bleiben, an diesem Ort, wo mich alle hassten. Meinen Mantel vergessend rannte ich die Treppe hinab in die Eingangshalle des Wohnheims und aus der Tür hinaus in Schnee und Kälte. Was ist passiert? Erklärt es mir? Was habe ich getan?
Zitternd überquerte ich eine Straße, hinterließ Spuren im Schnee, durchquerte eine zweite Strasse, dann eine dritte, bis ich schließlich völlig die Orientierung verloren hatte. Links und rechts Bäume. Plötzlich drang der Klang eines Martinhorns in mein Bewusstsein. Wir kriegen dich Du kannst dich nicht verstecken! Der Krankenwagen kam näher und ich rannte tiefer in den Wald hinein, bis ich an einer Weggabelung auf einen Straßenplan stieß. In der Dunkelheit versuchte ich zu erkennen, wo ich war, doch es war mir unmöglich, den Plan zu lesen, da tiefe Kratzer auf seiner Oberfläche und fehlendes Licht es nicht erlaubten. Ich ging weiter, durch Strassen, an Häusern vorbei, und endlich, ein Fleck in dieser Stadt, der mir vertraut war; links der ruhende See und rechts eine feuchte Wiese: der Stadtpark. Ich durchquerte den Park, kam wieder auf die Strasse, in der mein Wohnheim lag, passierte das Polizeipräsidium, und da, ein Bild, mein Bild, mein Gesicht, darüber in Druckbuchstaben:
Gesucht wegen Vergewaltigung. Bei sachdienlichen Hinweisen....
Ich verlor die Fassung und verstand, ich war ein Vergewaltiger, ich musste mich stellen, und so betrat ich das Präsidium.
Was kann ich für sie tun? fragte ein Beamter?
Ich habe vergewaltigt, stammelte ich.
Der Beamte musterte mich einen Moment, lachte dann.
„Sicher“, sagte er.
Ich wartete, von Unsicherheit ergriffen, und verlies dann das Präsidium, als ich verstand, dass selbst ein Platz in einer Zelle für mich zu gut war. Du musst sterben. Wir wollen dich nicht mehr. Stirb!
Nun wusste ich, was ich zu tun hatte. Es gab nur einen Platz für mich. Ich betrat ein letztes Mal das Wohnheim, schlich an den Zimmern der Schlafenden vorbei zu meinem offenen Apartment und verlies das Wohnheim mit meinem Schlafsack. Auf meinem Weg in den Stadtpark fielen dicke Schneeflocken vom dunklen Himmel, Sterne strahlten. Ich ging hinunter zum Steg direkt am See und legte mich in meinem Schlafsack zur Ruhe, versuchte zu sterben. In der Ferne sah ich sie kommen; eine Prozession. Menschen mit Laternen gingen durch die Strassen, sangen, lachten, feierten meinen Tod.
*
Krebs. Aids . Zwar wucherten Metastasen in meinem Körper und mein Immunsystem kollabierte, doch ich konnte nicht sterben in dieser Nacht am See, so sehr ich auch wollte. Die Kälte durchströmte meinen Körper. Nach einer unschätzbaren Zeit stand ich auf und verließ den Steg. Meine Füße trugen mich wieder etwas zuverlässiger und so ging ich, vorbei an Autos, an Häusern, an allem. Bis ich mich schließlich in einer mir fremden Umgebung wieder fand. Meine Beine hatten mich aus der Stadt heraus in eine andere Stadt, eine andere Welt getragen, doch meine Furcht war geblieben. Mein Körper wurde nur sehr spärlich durch ein ärmelloses Hemd, eine Hose ohne Knopf und ein Paar Schuhe gewärmt. Die Schneeflocken fielen auf meinen Kopf und durchweichten mein Haar. Wir sehen dich! Wir kriegen dich! Wir töten dich!Diese Blicke der Anderen, die Kälte und der Lärm ließen mich in eine Telefonzelle flüchten. Mit klappernden Zähnen lehnte ich mich an das Glas der Zelle, schaute mich um, sah keinen Ausweg und wählte schließlich 110. Nach ein paar Sekunden erklang eine männliche Stimme.
„Polizei. Wie kann ich ihnen helfen?“, fragte der Beamte.
„Holen sie mich ab, sonst sterbe ich“, flüsterte ich.
*
Die Polizei brachte mich nach Ochsenzoll, eine Klinik am Rande von Hamburg. Die nächsten 8 Wochen verbrachte ich im Delirium, verirrte mich in meiner mir eigenen kranken Welt. Ärzte kamen und gingen, genau wie meine Ängste. Ich lag in einem Bett und fiel in einen tiefen Schlaf, dessen Dauer ich heute nicht abzuschätzen vermag. Als ich erwachte, reichte mir eine Hand eine Pille. Ich schluckte sie, und die Hand verschwand.
*
Ich erwachte zum letzten Mal für eine lange Zeit. Mein Kopf schmerzte. Die Gedanken an die Feier im Schauspielhaus Hamburg durchzogen in Fragmenten mein Bewusstsein. Wir hatten nach der Probe getrunken, anschließend war ich mit der U – Bahn bis zur Haltestelle Borgweg gefahren. Von dort waren es nur wenige Meter bis zu meinem Apartment im Paul – Sudeck –Haus, einem Studentenwohnheim. Seine Anwohner nannten es auch den Selbstmord – Turm, denn aus dem dreizehnten und letzten Stock waren schon wiederholt verzweifelte Seelen in den Tod gesprungen. Ein Schleier lag auf meinen Erinnerungen, als ich aufstand und durch den leeren Flur an den Zimmern meiner Mitbewohner vorbei ins Bad ging. Niemand war da und es waren keine Geräusche zu hören. Die Stille umgab mich, und ich fühlte mich einen kurzen Augenblick sehr einsam, obwohl meine Freundin nur wenige Meter und drei Stockwerke entfernt wohnte. Ein Gefühl, fremd und bedrohlich, begleitete mich unter die Dusche. Während ich das Wasser aufdrehte und den Schwall warmen Wassers genoss, versuchte ich meine Gedanken zu ordnen, doch es gelang mir nicht.
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Die Farben ließen mich taumeln, als ich auf die Straße hinaus trat. Für einen Moment dröhnten die Geräusche der Fahrzeuge genauso laut in meine Ohren wie die Stimmen der Passanten. Ich ging mit gesenktem Blick in Richtung der U – Bahn – Station. Der Lärm in meinem Kopf schwoll zu einem Orkan aus Geräuschen an. Links und rechts von mir glitten die Körper der Anderen vorbei, hin und wieder kam einer von ihnen direkt auf mich zu und wich erst kurz vor einer Kollision aus. All die Menschen hörte ich reden, und sie sprachen anders als sonst. Ich ging die Treppen der Station hinunter und stieg in die U – Bahn ein. Das Gefühl, dabei im Zentrum zu sein, von allen gesehen zu werden, begleitete und verunsicherte mich. Ich schob es beiseite, so gut es ging.
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Am Abend ging ich mit meinem Kommilitonen Marc auf die Reeperbahn. Wir steuerten den Kaiserkeller an, eine Disco im Keller der Großen Freiheit. Meine Freundin war auf einem Geburtstag eingeladen, und so waren wir allein unter Männern. Zwar war es kalt, doch der Alkohol wärmte mich von innen. Auch war das unwirkliche Gefühl von heute morgen einer weitaus angenehmeren Betrunkenheit gewichen. Ich fühlte mich gut. Im Kaiserkeller zögerten wir auch nicht lange und steuerten die Bar an. Mit einem Getränk in der Hand setzte ich mich an die Theke und ließ meinen Blick über die Tanzfläche gleiten, bis er sich in Augen verlor, die suchten. Ein Lächeln später leerte ich meine Flasche mit einem Zug, stand auf und ging zum Kondomautomaten in der Herrentoilette.
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Die Lady hörte auf den Namen Jodie. Unter ihrem schulterlangen, schwarzen Haar funkelten blaue Augen in einem schmalen Gesicht. Sie erzählte mir aus ihrem Leben, mal ernst, mal mit einem Lachen, ohne dass ich auch nur ein Wort verstand. Gegen zwei Uhr Nachts – ich war bereits reichlich angetrunken - fragte sie mich, ob ich sie nach Hause begleiten wolle. Ich wollte nicht lallen, also nickte ich nur. Jodie griff mich an der Hand und zog mich hinter sich die Treppe hoch.
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Jodie stöhnte, als ich an ihrem Körper hinab glitt und ihre Brüste mit Küssen bedeckte. Wir trieben es auf dem Fußboden, hart und kalt. Sie stöhnte auf, als es ihr kam, und ich rollte von ihr herunter. Sie gab mir einen Kuss, drehte sich um und schlief nach wenigen Momenten ein. Ich wollte auch schlafen, doch es ging nicht – Wir sehen dich! – und so stand ich auf, ging in die Küche und nahm mir aus dem Kühlschrank ein Bier. Auf dem Küchentisch lagen Zeitschriften. Ich griff mir eine Illustrierte, blätterte darin und langweilte mich. Schließlich beschloss ich, nach Hause zu gehen. Auf Zehenspitzen schlich ich mich aus der Wohnung und ging zur S – Bahn Station. Die nächste Bahn fuhr erst in 30 Minuten, also setzte ich mich auf eine Bank und wartete.
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Blut klebte unter meinen Fingernägeln und Angst ergriff mich. Während das erste Sonnenlicht des Tages die Nacht verjagte, dachte ich über Geschlechtskrankheiten nach und wie sie übertragen werden. Meine Hand hielt einen Bierdeckel, auf den Jodie ihre Telefonnummer gekritzelt hatte. Ich zögerte, dann holte ich ein Handy aus meiner Jackentasche, wählte die Nummer und wartete, bis Jodies müde Stimme erklang.
„Hallo?“
„Ich bin es. Hast du gut geschlafen?“, fragte ich.
„ Es ist sechs Uhr morgens“, antwortete sie. „Was willst du?“
„Hast du in letzter Zeit einen Aids – Test gemacht?
Schweigen füllte die Leitung, gefolgt von einem lang gezogenen Ton. Ohne ein Wort zu sagen, hatte Jodie aufgelegt.
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Es waren fast 30 Stunden vergangen, seit ich das letzte Mal geschlafen hatte. Geräusche schienen heute lauter zu sein als sonst, also betäubte ich meine Sinne mit Bier. Gegen Abend fuhr ich mit der U – Bahn zum Schauspielhaus. Wir wollten für die nächste Aufführung proben. Was seht ihr mich so an? Gibt’s hier was zu sehen? An der Haltestelle Hauptbahnhof stieg ich aus und ging die letzten Meter zu Fuß. Alle sehen mich, was ist los? Der Pförtner öffnete die Tür, ich grüßte und ging die Treppe zum kleinen Saal hoch, wo mich zu meiner Überraschung unsere Leiterin Liz vor der Türe erwartete.
„Wir müssen reden“, sagte sie.
„Worüber“, fragte ich.
Sie zeigte mir eine Karte. Es war eine Todesanzeige für eine mir fremde Person.
„Er wurde tot in seiner Wohnung gefunden. Ein Freund von Ann.“ sagte Liz.
Ann war 24 und sollte die Hauptrolle in unserem Stück spielen.
„Im Ernst?“ Ich wusste beim besten Willen nicht, was Liz mir sagen wollte.
„Mit dem Tod scherzt man nicht.“
„Und weiter?“
„Ich will nicht, dass auch du stirbst.“
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Keiner meiner Freunde hatte Zeit, und so ging ich alleine in den Grünspan, eine Heavy - Disco auf dem Kiez. Auf dem Weg trank ich einen kleinen Flachmann, und so war ich bereits gut bedient, als ich die Disco betrat.
Ich ging durch den Raum und sah mich um, als mich plötzlich eine Hand am Ärmel griff. Es war Jodie und Hass glänzte in ihren Augen.
„Entschuldige dich.“
„Wieso sollte ich?“ fragte ich.
„Das solltest du verdammt gut wissen. Ich wurde vergewaltigt“, brüllte Jodie gegen den Lärm der Musik in mein Gesicht.
Ich löste ihren Griff von meinem Gelenk und bestellte mir an der Theke ein Bier. Mit dem Glas in der Hand ging ich die Treppe hoch auf eine Empore neben der Tanzfläche. Es war voll im Grünspann und auf der Tanzfläche tanzten die Leute zu der Musik von Slipknot. Plötzlich versetzte mir jemand einen Schlag, so dass ich vorwärts stürzte und auf meinen Händen landete, während mein Glas rechts von mir auf dem Boden zerschellte. Als ich zurück blickte, lächelten mich drei in schwarz gekleidete Männer an. Zwei von Ihnen hatten lange, zu einem Pferdeschwanz frisierte Haare. Sie umrahmten einen Mann mit Glatze. Ich stand auf, ging die Treppe hinunter und lehnte mich gegen die Wand, doch die Männer folgten mir und bauten sich vor mir auf.
„Wir müssen mit dir reden.“ sagte der Glatzköpfige, auf dessen Unterarm eine Tätowierung zu sehen war. „Komm mit.“
Wir gingen in einen stilleren Bereich der Disco nahe beim Ausgang, und der Tätowierte griff mich beim Kragen und presste mich gegen die Wand.
„Du weist, was du zu tun hast“, sagte er, und ging einen Schritt zur Seite. Hinter ihm stand Jodie und wartete auf meine Entschuldigung. Ich regte mich nicht und schwieg. Sie kam näher, bis ich ihr süßliches Parfum riechen konnte.
„Sag es.“
„Ich weis nicht was du...“
Jodie schlug mir ihre Faust unters Kinn, so dass ich mit dem Kopf gegen die Wand schlug, wandte sich ab und ging zurück in den Tanzraum. Die drei Typen brachen in lautes Gelächter aus und folgten ihr.
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Alle sahen mich an. Die Passagiere der U – Bahn - Du bist schuldig! Wir kriegen dich, wir töten dich! machten mir Angst. Nach drei Stationen stieg ich aus und ging die letzten Meter zu meiner Wohnung zu Fuß. Ich erreichte das Wohnheim und betrat den Fahrstuhl. In Begleitung einer zierlichen Frau fuhr ich in den 3. Stock. Sie musterte mich. Als sie ausstieg Idiot! formten ihre Lippen lautlos Worte. Widerlicher Dummkopf! Die Türe schloss sich hinter ihr, der Fahrstuhl rumpelte ein Stockwerk höher und ich stieg aus. Aus dem Flur drangen laute Stimmen, doch als ich den Wohnraum betrat, verstummten sie. Ich setzte mich auf die Couch. Langsam kamen die Gespräche wieder in Gang; ich lauschte ihnen und versuchte zu verstehen. Es gelang mir nicht. In Gedanken verloren formten meine Finger aus einem Stück Alufolie eine kleine, kaum Fingerdicke Kugel. Während die Stimmen der Anderen aus allen Richtungen erklangen, ergriff mich eine schwere Müdigkeit, aus der mich plötzlich ein harter Schlag an die Schläfe erweckte.
„Bastard. Ich war mit 12 so weit wie du“, brüllte Andrei, der Russe. Benommen erhob ich mich und taumelte aus dem Raum. Wir bringen dich um. Du wirst es sehen! Ich konnte hier nicht bleiben, an diesem Ort, wo mich alle hassten. Meinen Mantel vergessend rannte ich die Treppe hinab in die Eingangshalle des Wohnheims und aus der Tür hinaus in Schnee und Kälte. Was ist passiert? Erklärt es mir? Was habe ich getan?
Zitternd überquerte ich eine Straße, hinterließ Spuren im Schnee, durchquerte eine zweite Strasse, dann eine dritte, bis ich schließlich völlig die Orientierung verloren hatte. Links und rechts Bäume. Plötzlich drang der Klang eines Martinhorns in mein Bewusstsein. Wir kriegen dich Du kannst dich nicht verstecken! Der Krankenwagen kam näher und ich rannte tiefer in den Wald hinein, bis ich an einer Weggabelung auf einen Straßenplan stieß. In der Dunkelheit versuchte ich zu erkennen, wo ich war, doch es war mir unmöglich, den Plan zu lesen, da tiefe Kratzer auf seiner Oberfläche und fehlendes Licht es nicht erlaubten. Ich ging weiter, durch Strassen, an Häusern vorbei, und endlich, ein Fleck in dieser Stadt, der mir vertraut war; links der ruhende See und rechts eine feuchte Wiese: der Stadtpark. Ich durchquerte den Park, kam wieder auf die Strasse, in der mein Wohnheim lag, passierte das Polizeipräsidium, und da, ein Bild, mein Bild, mein Gesicht, darüber in Druckbuchstaben:
Gesucht wegen Vergewaltigung. Bei sachdienlichen Hinweisen....
Ich verlor die Fassung und verstand, ich war ein Vergewaltiger, ich musste mich stellen, und so betrat ich das Präsidium.
Was kann ich für sie tun? fragte ein Beamter?
Ich habe vergewaltigt, stammelte ich.
Der Beamte musterte mich einen Moment, lachte dann.
„Sicher“, sagte er.
Ich wartete, von Unsicherheit ergriffen, und verlies dann das Präsidium, als ich verstand, dass selbst ein Platz in einer Zelle für mich zu gut war. Du musst sterben. Wir wollen dich nicht mehr. Stirb!
Nun wusste ich, was ich zu tun hatte. Es gab nur einen Platz für mich. Ich betrat ein letztes Mal das Wohnheim, schlich an den Zimmern der Schlafenden vorbei zu meinem offenen Apartment und verlies das Wohnheim mit meinem Schlafsack. Auf meinem Weg in den Stadtpark fielen dicke Schneeflocken vom dunklen Himmel, Sterne strahlten. Ich ging hinunter zum Steg direkt am See und legte mich in meinem Schlafsack zur Ruhe, versuchte zu sterben. In der Ferne sah ich sie kommen; eine Prozession. Menschen mit Laternen gingen durch die Strassen, sangen, lachten, feierten meinen Tod.
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Krebs. Aids . Zwar wucherten Metastasen in meinem Körper und mein Immunsystem kollabierte, doch ich konnte nicht sterben in dieser Nacht am See, so sehr ich auch wollte. Die Kälte durchströmte meinen Körper. Nach einer unschätzbaren Zeit stand ich auf und verließ den Steg. Meine Füße trugen mich wieder etwas zuverlässiger und so ging ich, vorbei an Autos, an Häusern, an allem. Bis ich mich schließlich in einer mir fremden Umgebung wieder fand. Meine Beine hatten mich aus der Stadt heraus in eine andere Stadt, eine andere Welt getragen, doch meine Furcht war geblieben. Mein Körper wurde nur sehr spärlich durch ein ärmelloses Hemd, eine Hose ohne Knopf und ein Paar Schuhe gewärmt. Die Schneeflocken fielen auf meinen Kopf und durchweichten mein Haar. Wir sehen dich! Wir kriegen dich! Wir töten dich!Diese Blicke der Anderen, die Kälte und der Lärm ließen mich in eine Telefonzelle flüchten. Mit klappernden Zähnen lehnte ich mich an das Glas der Zelle, schaute mich um, sah keinen Ausweg und wählte schließlich 110. Nach ein paar Sekunden erklang eine männliche Stimme.
„Polizei. Wie kann ich ihnen helfen?“, fragte der Beamte.
„Holen sie mich ab, sonst sterbe ich“, flüsterte ich.
*
Die Polizei brachte mich nach Ochsenzoll, eine Klinik am Rande von Hamburg. Die nächsten 8 Wochen verbrachte ich im Delirium, verirrte mich in meiner mir eigenen kranken Welt. Ärzte kamen und gingen, genau wie meine Ängste. Ich lag in einem Bett und fiel in einen tiefen Schlaf, dessen Dauer ich heute nicht abzuschätzen vermag. Als ich erwachte, reichte mir eine Hand eine Pille. Ich schluckte sie, und die Hand verschwand.