@flammarion, Parsival, Monfou
Carissimi lectores!
Dear Flammarion,
Danke für die aufmunternde Würdigung der Story.
Dear Monfou,
1) das Tochter-Motiv ist bedenkenswert, das sieht William auch so. Ein paar Anskizzierungen:
a) Blindes Motiv in der Konstruktion des Autors, sagt nichts über den Ich-Erzäher aus
b) das Tochtermotiv - Tochter ist verheiratet mit 20 Jahre älterem psychologen - eröffnet latent, trotz allen Ordnungswillens des erzählenden Ichs - eine eigenmächtige Welt: Bewusstsein, Erinnerungen, Todesnähe (auch die Psychologengattin muss mit einem Witwentum rechnen) und die Offenheit für (oft tröstliche) Erinnerungen aus der individuellen
Vergangenheit.
c) Solche Erinnerungen stehen quer zu der Wissenschaftlichkeit („Nulla scientia de singularibus“) der Naturwissenschaften und durchkreuzen so deren Werthorizont, in dem es - so glaubt man - weit weniger Spekulation zu bedauern gibt als in den ideographischen Wissenschaften.
d) Die Passage öffnet gleichzeitig eine sensitive - das ist jetzt nicht als Klischee zu misverstehen - weibliche Perspektive: Der Junge hat seine tröstlichen Erlebnisse im Umkreis der Großmutter, das zärtliche Wesen in der Burnus-Episode ist offen für weibliche und männliche Züge, die Grabsteininschrift eines Mannes nimmt das Agnostizismus-Motiv der Schläfenlappenpassage auf und dementiert sie in einem individuellen Fall.
2) die Textsortenproblematik sieht William auch, hier ein bisschen eine Skizze dazu:
a) eine lineare, klar strukturierte Erzählung liegt kaum vor, vielmehr/doch wird sie ja als Tagebucheintrag eines alten Mannes ausgewiesen, der sich seiner wissenschaftlichen Attitüde zu vergewissern scheint, ohne sie für das einzig gültige Erfahrungsmittel zu halten. Bis zu einem gewissen Grad tastet er sich aus diesem rationalen Horizont in den mythisch-animistischen Horizont seiner Kindheit, ohne sich dabei in esoterischen Standards zu verfangen oder sie abzuwerten.
b) Bis zu einem gewissen Grad liefert er so einen offenen Schluss und die ganze Geschichte ist doch insgesamt punktuell, tentativ und dient der Aufhellung einer Bewusstseinsphase und einer Mentalität, all dies in einem Tagebucheintrag mit expliziten Deutungsangeboten des erzählenden Ichs, mit Irrititationen und mit einem finalen Deutungsvakuum. Kurz: das muss nicht unbedingt eine „Erzählung“ im engeren Sinne sein.
Dear Parsifal,
1) Das Gottesmodell
a) der fiktive Biologenerzähler liefert mindestens drei Gottesmodelle, ein atheistisches (kein fürsorglicher Gott), ein agnostisches (vgl. die Schläfenlappenepisode) und ein pantheistisch-geheimnisvolles (vgl. die Burnusepisode).
b) Dass er sich nicht so recht entscheidet und dabei seine biologisch-evolutionäre Perspektive nicht aufgibt, aber die Konkurrenzpositionen doch auch offenlässt, ist vielleicht ein wichtiger Reiz seiner Schreibweise und Mentalität.
c) Dass die Welt und die Evolution uns Menschen „ausstattet und verbraucht“ ist gar nicht von der Hand zu weisen. Dann: Warum sollte die Welt eine „Wirkung“ sein. Es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass sie eine Erstursache ist. Wenn sie es nicht ist, dann kann immer noch eine unendliche Kette von Ursache und Wirkung existieren - Verdikt gegen den infiniten Regress hin oder her.
Und wenn es ihn doch gibt, den Erstverursacher jenseits der weltlichen prozesse, was hat es dann mit seiner „Güte“ und seiner „providentia“ im engeren Sinne auf sich? Man mag solche Attribute als naiver Sicht entsprungen bezeichnen, aber was unterscheidet einen Gott jenseits solcher naiven Merkmale von einem Nicht-Gott?
Der naive Rachegott jedenfalls des alten Testamentes ist sicherlich ein strafender und belohnender Gott für seine gehorsamen oder ungehorsamen Kinder. Und er vernichtet, so sie es denn verdienen, die Feinde des auserwählten Volkes. Und ein Hiob kann zumindest teilweise berechtigt das Wohlbefinden einklagen, das ihm aufgrund seines Wohlverhaltens vom Sponsor und Allierten Gott zugebilligt werden müsste, wenn es denn gerecht zugeht.
2) Intertextualität/Anspielungen:
Die „Seelandschaft mit Pocahontas“ spukt hier auf jeden Fall explizit herein: Selbstgewisse Lehrer werden dort ja ein bisschen angepflaumt und dies hat das erzählende Ich im Buch markiert. Statt der glücksspendenden Pocahontas bei Arno Schmidt tauchen hier doch zumindest einige weibliche Instanzen auf und liefern im Erhabenen und im Ungeheuren aggressive (Hexen?) und zärtliche Bilder.
Beim „Nordfriedhof“ war eher an Thomas Mann gedacht. Der Münchner Friedhof taucht in „Gladius Dei“ und im „Tod in Venedig“ auf. Für alle Fans von „Poesie im realen Alltag“ ein gefundenes Fressen. Vielleicht gibt es auch eine Assoziation an den Beginn von Ingmar Bergmanns „Wilder Erdbeeren“, wenn sich im Tagebucheintrag des Isak Borg ein verstörendes Bild meldet.
Puh, das ist jetzt alles ein bisschen lang geworden. Und es mögen auch die Untergliederungen ein wenig dozierend wirken, sind aber eher als Selbstklärungsmittel gemeint.
Aber vielleicht ist das Posting auch jenseits solcher Entschuldigungen als Ausgleich und Dank für die investierte Sorgfalt Eurer Lektüre zu goutieren.
Salute.