Sandrina setzte sich an ihren Schreibtisch, schlug das Formelbuch auf und begann die einzelnen Schritte ihres Vorhabens zu notieren. Dreihundert Meter hoch müsste das Gebäude mindestens sein, damit sie genügend Zeit hatte, genügend Zeit zu fühlen. Dreihundert Meter. In Las Vegas gab es einen Turm, der war mehr als dreihundert Meter hoch. Aber Sandrina konnte mit ihren dreizehn Jahren nicht einfach so nach Amerika fliegen. Es musste eine andere Möglichkeit geben. Irgendwo in der Nähe, greifbarer.
Man sagte ihr, dass sie dumm sei. Aber sie würde allen das Gegenteil beweisen. Sie konzentrierte sich, um die Zeit herauszufinden. Die Zeit für den Weg von dreihundert Metern. Freier Fall. Es gab zwei Formeln, die sie benötigte. Freier Fall. Sie musste genau rechnen, denn es gab nur einen Versuch.
„Sandrina!“ Die Worte schlugen durch die hölzerne Tür direkt in ihren Kopf.
„Sandrina!“
Er stieß heftig die Tür zum Kinderzimmer auf, so dass diese gegen den Schrank prallte und ein Stück davon absplittern ließ. Im Laufe der Zeit hatte die Tür eine Art Kunstwerk in den Schrank geschlagen, das sie betrachtete, bevor sie sich Ihm zuwandte. Da stand Er, Er, Sandrinas Vater, mit hochrotem Kopf, breitbeinig, mit genetztem Unterhemd, im Türrahmen und keuchte.
„Was machst du verflucht noch mal den ganzen Tag?“
„Ich lerne.“
„Lass den Mist und kümmere dich um deinen Bruder, der hat sich voll geschissen. Das stinkt hier wie im Bärenarsch.“ Sandrina musterte Ihn. Breitbeinig, wie der Eifelturm. Der ist dreihundert Meter hoch und steht in Paris. Dort könnte sie mit dem Zug hinfahren.
„Wo ist Mama?“
„Die holt was zu fressen. Los beweg dich.“
Er machte ein paar Schritte auf Sandrina zu, die abwehrend die Hände über ihren Kopf hielt.
Eifelturm. Dreihundert Meter hoch. Freier Fall.
Sandrina bog sich an Ihm vorbei. Siegfried schrie in seinem Laufstall. Vielleicht sollte sie den Versuch mit Siegfried zusammen machen. Beschleunigung. Der Weg. Dreihundert Meter. Siegfried schrie. Sie müsste ihn festhalten. Auf den Arm nehmen. Mit Siegfried war die Sache kompliziert. Der Daumen der linken Hand musste den Knopf der Stoppuhr drücken, während sich ihre Fußsohlen von der Aussichtsplattform lösten. In der rechten Hand hielte sie den Zettel mit der Berechnung. Kein Platz für Siegfried.
Die Leute würden staunen, dass die Zahlen von Zettel und Stoppuhr übereinstimmten. Sie war nicht dumm, ganz bestimmt nicht. Nein. Dreihundert Meter. Sie hatte es sich genau überlegt.
Nachdem sie Siegfried gewaschen und neu eingekleidet hatte, ging sie zurück in ihr Zimmer und machte sich erneut über die Formeln her. Sie musste die Zeit ermitteln. Es war schwierig. Die Zeit und ein Vakuum. Ein Vakuum! Ihr Leben war ein Vakuum. Die Wohnung. Die Schule. Ihr Herz. Keine Luft. Kein Atmen. Vakuum.
Dreihundert Meter. Sie musste die Formeln umstellen. V= a mal t. A ist die Beschleunigung und die ist 9,81. Wo ist der Weg? In der anderen Formel. S ist der Weg. Und t ist die Zeit. T ist die Wurzel aus dem zweifachen Weg mal der Beschleunigung und das Ganze wieder durch die Beschleunigung geteilt. Sandrina rechnete. Bei dreihundert Metern waren das 7,82 Sekunden. 7,82. Die Stoppuhr.
In der Turnhalle lagen die Stoppuhren in der Schublade vom Lehrertisch in der Kammer. 7,82 Sekunden. Sie hielt die Luft an und beobachtete den Sekundenzeiger auf ihrer Armbanduhr.
Die Wohnungstür klappte. Ihre Mutter war zurück.
7,82 Sekunden waren kurz. Mehr war unmöglich. Es krachte laut hinter der Tür. Siegfried schrie erneut. Dann polterte es.
Irgendwo hatte Er gegen getreten. Es war nicht die Tür vom Küchenschrank. Das wäre ein scheppernder Klang gewesen. Die Wand im Wohnzimmer klang dumpf. Es hatte mit dem Hohlraum dahinter zu tun. Sandrina war nicht dumm. Die Badtür rasselte beim Gegenschlagen mit der Faust. Er schlug öfter dagegen, wenn Sandrina sie von innen verschloss, weil sie ungestört sein wollte beim Rasierklingenmalen auf ihrem Arm.
„Verflucht noch mal, Mistkröte, mach die Tür auf“, hatte er gegrölt.
Dreihundert Meter. Wind. Sandrina lächelte.
Siegfried schrie. Sie schloss die Augen und lauschte.
„Halts Maul“, tobte Er.
Freier Fall. Sie spürte den Wind, der zärtlich ihr Gesicht liebkoste und sie spürte ihre blonden Haare in einer langen Welle hinter sich her fliegen. 7,82 Sekunden Glück. Die Wohnungstür schepperte. Sie atmete tief ein und aus und schlich aus ihrer sicheren Höhle ins Wohnzimmer. Dort lag Siegfried eingebettet in einem Haufen von Glasscherben. Ihre Mutter kniete am Boden und hielt sich das Gesicht. Zwischen ihren Fingern bildeten sich rote Bäche, die am Ende der Hand auf den Teppich tropften.
„Wo ist Er?“, fragte Sandrina leise und schaute sich um.
Er war weg. Raus gerannt. In die Kneipe, in Bruno’s Eck.
Der Eifelturm. Dreihundert Meter hoch. Mit dem Zug nach Paris. Bald waren Ferien. Zwei Wochen. 7,82 Sekunden.
Sandrina ging in die Küche und ließ Wasser über ein Geschirrhandtuch laufen. Das nasse Tuch drückte sie zwischen Gesicht und Hände ihrer Mutter und schob sie aufs Sofa. Dann zog sie ihren Bruder unter den Scherben hervor. Seine dünnen Arme schlangen sich um ihren Hals und sie schaukelte ihn bis sein Weinen in einem Schluchzen mündete. Als sie ihn neben ihre Mutter gesetzt hatte, holte sie den Mülleimer und beseitigte die Glassplitter.
„Mama?“
„Ja?“
„Was kostet eine Fahrkarte nach Paris?“
„Ich weiß nicht.“
„Tut es sehr weh?“
„Ich weiß nicht.“
Wenn sie in zwei Wochen nach Paris fahren würde, wäre ihre Mutter allein mit Siegfried und würde verbluten und Siegfried würde die Glassplitter lutschen und auch verbluten.
Sandrina sinnierte, wie lange verbluten dauern würde. 7,82 Sekunden? Vielleicht länger. Sie verdrängte den Gedanken.
„Ich möchte nach Paris fahren, Mama.“
„Ich weiß nicht. Wenn Papa das merkt …“
Ihre Mutter wimmerte. Das Geschirrtuch färbte sich rot.
Der Eifelturm. Zwei Wochen. Das Geld war in Seiner Brieftasche. Sie könnte es nehmen und in den Zug steigen, ehe Er dahinter kam. Ihre Mutter wird verbluten. Die Stoppuhr. In der Schublade. Am letzten Tag. Dann merkt es keiner. Wind wird ihre kleinen Brüste schweben lassen. Siegfried. Mama. 7,82 Sekunden.
Sandrina nahm das rot gefärbte Geschirrtuch und ging ins Bad.
Sie sah auf ihre Armbanduhr und drehte den Wasserhahn auf.
7,82 Sekunden Wasser schafften es nicht, das Handtuch zu entfärben. 7,82 Sekunden waren wenig Zeit. Genug Zeit, um den schönsten Augenblick ihres Lebens zu genießen? Den Wind, die warmen Strahlen der Sonne. Sie setzte sich aufs Klo, sah auf die Uhr und pinkelte. Der Strahl versiegte, bevor die 7,82 Sekunden vorbei waren. Es war eine lange Zeit. Ausreichend Zeit, den schönsten Augenblick genießen zu können.
Sandrina öffnete weit die bodentiefen Fenster zum Balkon, um Siegfrieds Geruch, der noch immer im Raum schwebte, in die Welt zu entlassen. Sie beugte sich weit über das Geländer und sah in die Tiefe. Wie hoch mochte der fünfte Stock sein? Auf jeden Fall zu niedrig.
Sie setzte sich neben ihre Mutter und Siegfried auf`s Sofa.
Vakuum. Musste sie den Luftwiderstand nicht doch berücksichtigen? Nein. Wenig Abweichung stand im Buch. Zehntelsekunden. Der Wind blies die Gardine auf und Siegfried klatschte in die Hände.
Im nächsten Moment hörte sie den Schlüssel in der Wohnungstür. Da stand Er wieder, breitbeinig, groß. Die Form vom Eifelturm. Breitbeinig. aber nicht dreihundert Meter hoch. Er wankte auf den Balkon und glotzte nach unten.
„Was für `ne Scheiße. Gibt mir nicht mal `n Bier. Arschloch!“, grölte Er in die graue Landschaft.
„Weil ich kein Geld hatte. Fuffzig Euro schulde ich ihm sagt der. Der spinnt doch oder was sagt ihr dazu. He?“
„Ich weiß nicht“, flüsterte die Mutter.
„Dem hab ich’s gezeigt. Hab mir den Wodka geschnappt und bin auf die Straße. Ehe der draußen war, war die Flasche leer.“ Er lachte und lachte und lachte. Sandrina wurde ganz schwindlig von diesem Geräusch, das lauter und lauter zu werden schien. Sie drückte sich kaum hörbar vom Sofa hoch. Dreihundert Meter, 7,82 Sekunden. Sie stieß sich kraftvoll mit den Fußsohlen vom Teppichboden ab und rannte los. Die Arme nach vorn ausgestreckt. Nur ein Versuch. 7,82 Sekunden. Vielleicht weniger. Nie mehr Vakuum. Scheiß auf den Luftwiderstand. Sie beschleunigte und dann rammte sie mit aller Kraft Seinen Rücken. Sie sah auf die Zeiger ihrer Armbanduhr bis sie das Klatschen auf dem Beton vorm Haus hörte. Etwa zwei Sekunden. Sie schloss die Tür vom Balkon und sah zu ihrer Mutter.
„Soll ich den Krankenwagen rufen, Mama?“
„Ich weiß nicht“, sagte sie und für Sandrina klangen die Worte wie ein zarter Wind, der ihr ins Ohr flüsterte und sie liebkoste. Sie taumelte berauscht in ihr Zimmer und berechnete die genaue Zeit des freien Falls aus dem fünften Stock.
Man sagte ihr, dass sie dumm sei. Aber sie würde allen das Gegenteil beweisen. Sie konzentrierte sich, um die Zeit herauszufinden. Die Zeit für den Weg von dreihundert Metern. Freier Fall. Es gab zwei Formeln, die sie benötigte. Freier Fall. Sie musste genau rechnen, denn es gab nur einen Versuch.
„Sandrina!“ Die Worte schlugen durch die hölzerne Tür direkt in ihren Kopf.
„Sandrina!“
Er stieß heftig die Tür zum Kinderzimmer auf, so dass diese gegen den Schrank prallte und ein Stück davon absplittern ließ. Im Laufe der Zeit hatte die Tür eine Art Kunstwerk in den Schrank geschlagen, das sie betrachtete, bevor sie sich Ihm zuwandte. Da stand Er, Er, Sandrinas Vater, mit hochrotem Kopf, breitbeinig, mit genetztem Unterhemd, im Türrahmen und keuchte.
„Was machst du verflucht noch mal den ganzen Tag?“
„Ich lerne.“
„Lass den Mist und kümmere dich um deinen Bruder, der hat sich voll geschissen. Das stinkt hier wie im Bärenarsch.“ Sandrina musterte Ihn. Breitbeinig, wie der Eifelturm. Der ist dreihundert Meter hoch und steht in Paris. Dort könnte sie mit dem Zug hinfahren.
„Wo ist Mama?“
„Die holt was zu fressen. Los beweg dich.“
Er machte ein paar Schritte auf Sandrina zu, die abwehrend die Hände über ihren Kopf hielt.
Eifelturm. Dreihundert Meter hoch. Freier Fall.
Sandrina bog sich an Ihm vorbei. Siegfried schrie in seinem Laufstall. Vielleicht sollte sie den Versuch mit Siegfried zusammen machen. Beschleunigung. Der Weg. Dreihundert Meter. Siegfried schrie. Sie müsste ihn festhalten. Auf den Arm nehmen. Mit Siegfried war die Sache kompliziert. Der Daumen der linken Hand musste den Knopf der Stoppuhr drücken, während sich ihre Fußsohlen von der Aussichtsplattform lösten. In der rechten Hand hielte sie den Zettel mit der Berechnung. Kein Platz für Siegfried.
Die Leute würden staunen, dass die Zahlen von Zettel und Stoppuhr übereinstimmten. Sie war nicht dumm, ganz bestimmt nicht. Nein. Dreihundert Meter. Sie hatte es sich genau überlegt.
Nachdem sie Siegfried gewaschen und neu eingekleidet hatte, ging sie zurück in ihr Zimmer und machte sich erneut über die Formeln her. Sie musste die Zeit ermitteln. Es war schwierig. Die Zeit und ein Vakuum. Ein Vakuum! Ihr Leben war ein Vakuum. Die Wohnung. Die Schule. Ihr Herz. Keine Luft. Kein Atmen. Vakuum.
Dreihundert Meter. Sie musste die Formeln umstellen. V= a mal t. A ist die Beschleunigung und die ist 9,81. Wo ist der Weg? In der anderen Formel. S ist der Weg. Und t ist die Zeit. T ist die Wurzel aus dem zweifachen Weg mal der Beschleunigung und das Ganze wieder durch die Beschleunigung geteilt. Sandrina rechnete. Bei dreihundert Metern waren das 7,82 Sekunden. 7,82. Die Stoppuhr.
In der Turnhalle lagen die Stoppuhren in der Schublade vom Lehrertisch in der Kammer. 7,82 Sekunden. Sie hielt die Luft an und beobachtete den Sekundenzeiger auf ihrer Armbanduhr.
Die Wohnungstür klappte. Ihre Mutter war zurück.
7,82 Sekunden waren kurz. Mehr war unmöglich. Es krachte laut hinter der Tür. Siegfried schrie erneut. Dann polterte es.
Irgendwo hatte Er gegen getreten. Es war nicht die Tür vom Küchenschrank. Das wäre ein scheppernder Klang gewesen. Die Wand im Wohnzimmer klang dumpf. Es hatte mit dem Hohlraum dahinter zu tun. Sandrina war nicht dumm. Die Badtür rasselte beim Gegenschlagen mit der Faust. Er schlug öfter dagegen, wenn Sandrina sie von innen verschloss, weil sie ungestört sein wollte beim Rasierklingenmalen auf ihrem Arm.
„Verflucht noch mal, Mistkröte, mach die Tür auf“, hatte er gegrölt.
Dreihundert Meter. Wind. Sandrina lächelte.
Siegfried schrie. Sie schloss die Augen und lauschte.
„Halts Maul“, tobte Er.
Freier Fall. Sie spürte den Wind, der zärtlich ihr Gesicht liebkoste und sie spürte ihre blonden Haare in einer langen Welle hinter sich her fliegen. 7,82 Sekunden Glück. Die Wohnungstür schepperte. Sie atmete tief ein und aus und schlich aus ihrer sicheren Höhle ins Wohnzimmer. Dort lag Siegfried eingebettet in einem Haufen von Glasscherben. Ihre Mutter kniete am Boden und hielt sich das Gesicht. Zwischen ihren Fingern bildeten sich rote Bäche, die am Ende der Hand auf den Teppich tropften.
„Wo ist Er?“, fragte Sandrina leise und schaute sich um.
Er war weg. Raus gerannt. In die Kneipe, in Bruno’s Eck.
Der Eifelturm. Dreihundert Meter hoch. Mit dem Zug nach Paris. Bald waren Ferien. Zwei Wochen. 7,82 Sekunden.
Sandrina ging in die Küche und ließ Wasser über ein Geschirrhandtuch laufen. Das nasse Tuch drückte sie zwischen Gesicht und Hände ihrer Mutter und schob sie aufs Sofa. Dann zog sie ihren Bruder unter den Scherben hervor. Seine dünnen Arme schlangen sich um ihren Hals und sie schaukelte ihn bis sein Weinen in einem Schluchzen mündete. Als sie ihn neben ihre Mutter gesetzt hatte, holte sie den Mülleimer und beseitigte die Glassplitter.
„Mama?“
„Ja?“
„Was kostet eine Fahrkarte nach Paris?“
„Ich weiß nicht.“
„Tut es sehr weh?“
„Ich weiß nicht.“
Wenn sie in zwei Wochen nach Paris fahren würde, wäre ihre Mutter allein mit Siegfried und würde verbluten und Siegfried würde die Glassplitter lutschen und auch verbluten.
Sandrina sinnierte, wie lange verbluten dauern würde. 7,82 Sekunden? Vielleicht länger. Sie verdrängte den Gedanken.
„Ich möchte nach Paris fahren, Mama.“
„Ich weiß nicht. Wenn Papa das merkt …“
Ihre Mutter wimmerte. Das Geschirrtuch färbte sich rot.
Der Eifelturm. Zwei Wochen. Das Geld war in Seiner Brieftasche. Sie könnte es nehmen und in den Zug steigen, ehe Er dahinter kam. Ihre Mutter wird verbluten. Die Stoppuhr. In der Schublade. Am letzten Tag. Dann merkt es keiner. Wind wird ihre kleinen Brüste schweben lassen. Siegfried. Mama. 7,82 Sekunden.
Sandrina nahm das rot gefärbte Geschirrtuch und ging ins Bad.
Sie sah auf ihre Armbanduhr und drehte den Wasserhahn auf.
7,82 Sekunden Wasser schafften es nicht, das Handtuch zu entfärben. 7,82 Sekunden waren wenig Zeit. Genug Zeit, um den schönsten Augenblick ihres Lebens zu genießen? Den Wind, die warmen Strahlen der Sonne. Sie setzte sich aufs Klo, sah auf die Uhr und pinkelte. Der Strahl versiegte, bevor die 7,82 Sekunden vorbei waren. Es war eine lange Zeit. Ausreichend Zeit, den schönsten Augenblick genießen zu können.
Sandrina öffnete weit die bodentiefen Fenster zum Balkon, um Siegfrieds Geruch, der noch immer im Raum schwebte, in die Welt zu entlassen. Sie beugte sich weit über das Geländer und sah in die Tiefe. Wie hoch mochte der fünfte Stock sein? Auf jeden Fall zu niedrig.
Sie setzte sich neben ihre Mutter und Siegfried auf`s Sofa.
Vakuum. Musste sie den Luftwiderstand nicht doch berücksichtigen? Nein. Wenig Abweichung stand im Buch. Zehntelsekunden. Der Wind blies die Gardine auf und Siegfried klatschte in die Hände.
Im nächsten Moment hörte sie den Schlüssel in der Wohnungstür. Da stand Er wieder, breitbeinig, groß. Die Form vom Eifelturm. Breitbeinig. aber nicht dreihundert Meter hoch. Er wankte auf den Balkon und glotzte nach unten.
„Was für `ne Scheiße. Gibt mir nicht mal `n Bier. Arschloch!“, grölte Er in die graue Landschaft.
„Weil ich kein Geld hatte. Fuffzig Euro schulde ich ihm sagt der. Der spinnt doch oder was sagt ihr dazu. He?“
„Ich weiß nicht“, flüsterte die Mutter.
„Dem hab ich’s gezeigt. Hab mir den Wodka geschnappt und bin auf die Straße. Ehe der draußen war, war die Flasche leer.“ Er lachte und lachte und lachte. Sandrina wurde ganz schwindlig von diesem Geräusch, das lauter und lauter zu werden schien. Sie drückte sich kaum hörbar vom Sofa hoch. Dreihundert Meter, 7,82 Sekunden. Sie stieß sich kraftvoll mit den Fußsohlen vom Teppichboden ab und rannte los. Die Arme nach vorn ausgestreckt. Nur ein Versuch. 7,82 Sekunden. Vielleicht weniger. Nie mehr Vakuum. Scheiß auf den Luftwiderstand. Sie beschleunigte und dann rammte sie mit aller Kraft Seinen Rücken. Sie sah auf die Zeiger ihrer Armbanduhr bis sie das Klatschen auf dem Beton vorm Haus hörte. Etwa zwei Sekunden. Sie schloss die Tür vom Balkon und sah zu ihrer Mutter.
„Soll ich den Krankenwagen rufen, Mama?“
„Ich weiß nicht“, sagte sie und für Sandrina klangen die Worte wie ein zarter Wind, der ihr ins Ohr flüsterte und sie liebkoste. Sie taumelte berauscht in ihr Zimmer und berechnete die genaue Zeit des freien Falls aus dem fünften Stock.