Die Zeit reichte mir in den letzten Monaten nicht, Schritt zu halten mit allen Mails, die mich auf „Werke des Monats“ hinwiesen, und sie angemessen zu kommentieren. Bei diesem reizenden kleinen erotischen Gedicht, einem wahren Juwel in der Truhe der Leselupe, wäre es aber wirklich ein Fehler gewesen, nicht endlich im September das Werk vom Juli doch noch auszupacken. Man hätte was versäumt.
Meiner Ansicht nach könnte dieses Gedicht Bestand haben in solchen Blütenlesen der Weltliteratur aller Zeiten und Völker, die da Titel tragen wie „Erotische Lyrik und lose Lieder“ oder „Komm, zieh dich aus! Lyrische Hoch-Erotik“. Vor allem nimmt der Charme des Beiläufigen, des aus dem Alltäglichen Entwickelten und dieser augenzwinkernde Humor für sich ein.
Wie in der erotische Literatur - und der erotischen Lyrik allemal - schon oft üblich war, setzt Presque Rien die Mahlzeit als Metapher für den Liebesakt ein. Jeder erwähnte Gegenstand und die meisten Tätigkeitswörter haben neben ihrer alltäglichen Bedeutung auch noch eine erotische, die charmanterweise ziemlich leicht zu entschlüsseln ist und ziemlich unverblümt daher kommt. Eine Feier der Lebenslust. Vielleicht weil sie eine Russin ist, gelangt die Autorin zudem zu einer Spielerei mit den unterschiedlichen Bedeutungen fast gleich geschriebener Wörter. Der Leib des Mannes und beim Frühstück der Laib Brot. Das Streichen der Butter und das Streicheln des Körpers.
Dies begonnen, führt so ein Spiel mit Wörtern stracks in eine gewisse Zwangsläufigkeit, wie stimmig die Metaphern in ihrer Gesamtheit möglichst anfallen könnten. Croissant (Banane hätte sich gegen das zweisilbige Versmaß versündigt), Ofen, Butter, Äpfel, Marmelade... Stimmig im Kontext „Frühstück“ und stimmig im Kontext „Bett“. Aber beim Apfelsaft kommen mir gewisse Zweifel. Ist es nicht so, und wohl mit gewissem Grund, dass jener Teil des weiblichen Körpers gemeinhin eher mit Pflaumen als mit Äpfeln verglichen wird?
Die „Eier“ verstehen sich von selbst. Kommen mir aber ein wenig platt bzw. ordinär bzw. zotig vor in einem Sprachambiente, das so gediegen klassisch klingt wie „den Ofen macht’ ich heiß“. An dieser Stelle wäre es wohl praktischer, wenn wir Englisch sprechen und denken würden, dann gäbe es Nüsse zum Frühstück. Warum nicht auch mal diese kosten?
In eine Problemzone der Metaphorik, die Autorin weiß das ganz bestimmt, gerät das Wort „Stückchen“. Selbst vorgeschnittene Toast- oder Sandwichbrote haben eigentlich keine Stücke, Stückchen, sondern Scheiben. In welche Männerleiber aber nur in Horrorfilmen zerfallen. Weiß nicht, ob man hier noch was Genialeres hätte finden können. Na ja, sieht momentan nicht danach aus. („Ja, jeden Zoll des Laibes will ich streichen...“ Besser? Na ja, etwas altertümlich auf jeden Fall.)
Zur Zeichensetzung: Da im Gedicht Satzzeichen verwendet und gemäß den üblichen Regeln eingesetzt werden, müsste nach „schade“ ein Komma stehen.
Den Sinn der Doppelpunkte kann ich nicht erkennen. Es scheint jeweils nicht so, als wären die Sätze danach eine direkte Folge der Sätze davor. Und auch nicht deren nähere Erklärung. Deshalb würde ich statt der Doppelpunkte einfache Punkte verwenden.
Das Versmaß gerät ein wenig ins Straucheln in der ersten Zeile der zweiten Strophe. Der einsilbige Imperativ „tauch!“ trägt so viel Gewicht in sich, dass er eigentlich an der Stelle einer Hebung kommen müsste, gemäß dem Vermaß des Gedichtes wird er hier aber als unbetonte Silbe verwendet. Leider folgt kurz darauf dann noch das französische Wort „Croissant“, das, zumindest meinem Empfinden nach, eher nach zwei Hebungen als, wie hier erforderlich, in der ersten Silbe nach unbetonter, in der zweiten nach betonter Silbe zu klingen hat.
Mein persönlich größtes Problem mit dem Gedicht bilden die abschließenden beiden Zeilen. Freundlicherweise hat die Autorin beschlossen, dass sie nicht nur Aspekte eines Frühstücks und eines Beischlafes in kleinen Beobachtungen, Notizen und Metaphern zu reihen gedenkt, sondern dass sie uns am Ende auch mit einer Quintessenz, einer Summe aus dem Vorigen aufwarten kann. Nur leider verstehe ich diesen Satz auch nach wiederholtem Lesen nicht, der doch die „Lehre“ (blödes Wort) des ganzen Gedichts enthalten soll: Wenn das Vergehen außer Kraft ist, dann sind die Kräfte zu schade zum Gehen.
Was soll das sagen? Weggehen (von der Geliebten, dem Geliebten) benötigt Muskelkraft. Diese Kraft aufzuwenden, wäre Verschleuderung, wenn man kaum noch Kraft hat, da man sie zuvor benutzt hat, um im Liebesspiel zu vergehen. (???) Eine solche Bemerkung wäre doch etwas blöde, nicht wahr?
Nun könnte das „Vergehen“ auch den Sinn „Regelverstoß“ haben. Aber was heißt dann: Das Vergehen ist außer Kraft? Hat das was mit Gesetzen zu tun, die außer Kraft sind? Das, was eigentlich ein Vergehen wäre, ist hier bei uns, hier mit dir, kein Vergehen mehr... (Wobei dann zu fragen wäre, was heutzutage eigentlich noch Vergehen der Sinnlichkeit sind? Dass sie mit dem besten Freund ihres angetrauten Gatten ins Bett steigt? Echt? Nun gut, meinetwegen...) Aber was hat dann das Ganze mit irgendwelchem körperlichen Kraftaufwand zu tun?
Nun, die Sache könnte sich auch viel einfacher lösen, wenn mit dem Vergehen die Ichauflösung beim sexuellen Höhepunkt gemeint wäre. Findet desgleichen oft zu nächtlicher Stunde statt, so passt wunderbar, dass mit der anbrechenden Morgenstunde hier ein Frühstück eingenommen wird. Das Vergehen ist vergangen, ist außer Kraft. Und die Kräfte? Sind nicht mehr das, was sie vor dem Spätstück im Bett einst waren. Aber dann sind sie schwach geworden, nicht schade und nicht schal.
Verbrühend dampft zur Decke der Nespresso,
ist Vergehen unsrer Leiber Beidgericht.
Nun ja, besser ist das nicht. Aber weder bin ich Lyriker, noch nehme ich mir jetzt gerade die Zeit dafür, einer zu werden.