Gabi Rütter
Mitglied
Gesprengte Ketten
Sie klemmte ihre Tasche unter den Arm. Nervös blickte sie auf die Uhr: schon Viertel vor acht. Hoffentlich stand ihr Fahrrad noch dort, wo sie es tags zuvor abgestellt hatte. Die Langfinger der Stadt waren Legende.
Das Fahrrad leuchtete ihr pinkfarben entgegen. Gott sei Dank!
Wie war das noch? Hatte sie den Gasherd abgestellt? Und die Tür doppelt verschlossen? Jeden Tag die gleichen nervenden Gedanken. Nein, heute wollte sie nicht zurückgehen und kontrollieren.
Was war mit dem Papagei? Hatte er genügend zu fressen und zu trinken? Sie musste nach der Veranstaltung daran denken, neues Vogelfutter zu besorgen.
Zehn vor acht. Sie dachte an das Humanismus-Seminar. Hoffentlich konnte sie den Studenten ihre Begeisterung für das Thema vermitteln. Die Zeit würde reichen, um noch schnell einen Tageslichtschreiber zu besorgen.
Acht Uhr. Ihr blieb noch eine Viertelstunde Verschnaufpause. Auf dem Weg zum Veranstaltungssaal überflog sie noch einmal ihre Notizen. Studenten strömten von allen Seiten ins Gebäude. Immer wieder erstaunlich, wie viele sich für eine so frühe Veranstaltung entschieden. Auf der Treppe wurde es eng.
„Frau Dr. ...?!“ – Irritiert sah sie zur Seite. Ja, sie war gemeint. Den Mann hatte sie noch nie gesehen. Langes, dunkles, welliges Haar, Bart, beides gepflegt. Sie fühlte sich an ihre eigene Studienzeit erinnert. Männer mit langen Haaren gefielen ihr immer noch.
„Haben Sie einen Moment Zeit?“
„Worum geht es denn?“
„Wir sammeln Unterschriften für „Gesprengte Ketten“. Wir wollen einen chinesischen Journalisten frei bekommen, der nichts Schlimmeres getan hat, als seine Meinung zu äußern zur Gewaltherrschaft der Chinesen in Tibet.“
Sie überlegte keinen Moment. Unterschriften im Sinne von „Gesprengte Ketten“ waren prinzipiell eine gute Sache.
„Haben Sie einen Stift?“ Sie trug ihre Adresse ein und unterschrieb.
In den folgenden Jahren leistete sie noch zahlreiche Unterschriften: für vielerlei Menschen und gegen mancherlei Dinge. Alles, was sie damit erreichte, spielte sich irgendwo auf dieser Welt ab, abseits ihrer Erfahrung. Diese eine Unterschrift jedoch sollte ihr eigenes Leben tangieren.
Lustlos stocherte sie in ihrem Fast Food herum. Der Morgen an der Uni war anstrengend gewesen. Schlecht vorbereitete Studenten hatten ihre Laune gegen Null sinken lassen, und der Bürokratismus des Sekretariats raubte ihr den letzten Nerv. Schade, dass ihr Papagei tot war. Nicht mal einem Tier konnte sie ihr Herz ausschütten. Jetzt half nur noch das Bett und ein ausgedehnter Schlaf.
Es klingelte an der Tür. Auch das noch! Keine Chance auf ihre verdiente Ruhe. Schlecht gelaunt blinzelte sie durch den Spion. Komisch - niemand zu sehen. Vermutlich ein Kinderstreich.
Das Bett zog sie magisch an, aber erst wollte sie herausfinden, welche Kinder sich über sie lustig machten. Leise schob sie den Sicherheitsriegel hoch und riss dann ruckartig die Tür auf. Vor Schreck hätte sie sie fast wieder zugeschlagen.
Es war nicht ihre Art, vor fremdländisch aussehenden Menschen zurückzuschrecken. Der dumpfe Rassismus einiger Zeitgenossen war ihr ein Gräuel. Aber in diesem Fall hatte sie einfach nicht damit gerechnet. Neben dem Türrahmen stand ein unbekannter Mann mit asiatischem Aussehen.
Ein Bettler? Er wirkte nicht auf sie, als ob er sich seinen Lebensunterhalt an fremden Haustüren erbitten musste. Ihr fiel seine schmerzhaft gebückte Haltung auf. Ihre Müdigkeit wich wacher Neugier. „Kann ich Ihnen helfen?“
Der Mann wirkte angespannt, als suche er nach passenden Worten. „Mein Name ist Li Wuang Xi. Ich komme aus China.“
Sie musste innerlich lächeln. Xi hieß so viel wie „Lebenskraft“, das war ihr bekannt. Aber dieser gebückte Mann sah nicht unbedingt nach einem Powerpaket aus.
China – In Sekundenschnelle lief ein Film vor ihrem geistigen Auge mit allem, was sie jemals über dieses ferne Land gelesen, gehört und gesehen hatte.
Aber dieser Mann ... Li Wuang Xi ... Nie gehört.
„Sie kommen aus China, sprechen aber fließend Deutsch?!“
„Bevor ich anfing, für die Shanghai Times zu schreiben, habe ich in Ost-Berlin Germanistik und Journalismus studiert.“
China …Journalist ... Ihr fiel es wie Schuppen von den Augen: Sie hatte sich vor Jahren per Unterschrift für die Freilassung eines solchen Mannes eingesetzt. Hatte er nicht im Gefängnis gesessen, weil er das chinesische Regime in Tibet kritisiert hatte? Wieder fiel ihr seine gebückte Haltung auf.
„Kommen Sie herein. Sie müssen mir Ihre Geschichte erzählen.“
Was Li Wuang Xi ihr erzählte, erschütterte sie zutiefst:
„Sie kamen nachts, holten mich aus dem Bett, verbanden mir die Augen und fuhren stundenlang mit mir durch die Gegend. Irgendwann kamen wir an einem Ort an, wo sie mich in einen 5 mal 4 Schritte großen Raum warfen.“
„Was hat man Ihnen vorgeworfen?“
Ein Anflug von Trauer, aber auch großer Entschlossenheit huschte über sein Gesicht. Sie hatten zwar seinen Rücken beugen können, aber offensichtlich nicht seine innere Kraft. Vielleicht war sein Name doch nicht ganz unpassend?!
„Man hat mir meine Parteinahme für Tibet vorgeworfen. Einen Prozess habe ich nie bekommen.“
„Wie sind Sie zu meiner Adresse gekommen, und was führt Sie zu mir?“
„Ihre Adresse stand auf der Petition von ´´Gesprengte Ketten´´. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken für Ihre Hilfe.“
Das ehrte ihn. Sie betrachtete ihn noch einmal bewusst: klein und noch zusätzlich gebeugt. Sie ahnte, was man ihm angetan hatte.
Plötzlich ergriff ihn eine Unruhe, die sie zuvor nicht an ihm wahrgenommen hatte.
Er nestelte an der Unterschenkel-Tasche seiner Khaki-Hose herum. Sie sah, wie er sich mühte, den Knopf am Überschlag zu lösen.
Was sie nicht sah, war das Messer, nach dem er griff - entschlossen.
Sie klemmte ihre Tasche unter den Arm. Nervös blickte sie auf die Uhr: schon Viertel vor acht. Hoffentlich stand ihr Fahrrad noch dort, wo sie es tags zuvor abgestellt hatte. Die Langfinger der Stadt waren Legende.
Das Fahrrad leuchtete ihr pinkfarben entgegen. Gott sei Dank!
Wie war das noch? Hatte sie den Gasherd abgestellt? Und die Tür doppelt verschlossen? Jeden Tag die gleichen nervenden Gedanken. Nein, heute wollte sie nicht zurückgehen und kontrollieren.
Was war mit dem Papagei? Hatte er genügend zu fressen und zu trinken? Sie musste nach der Veranstaltung daran denken, neues Vogelfutter zu besorgen.
Zehn vor acht. Sie dachte an das Humanismus-Seminar. Hoffentlich konnte sie den Studenten ihre Begeisterung für das Thema vermitteln. Die Zeit würde reichen, um noch schnell einen Tageslichtschreiber zu besorgen.
Acht Uhr. Ihr blieb noch eine Viertelstunde Verschnaufpause. Auf dem Weg zum Veranstaltungssaal überflog sie noch einmal ihre Notizen. Studenten strömten von allen Seiten ins Gebäude. Immer wieder erstaunlich, wie viele sich für eine so frühe Veranstaltung entschieden. Auf der Treppe wurde es eng.
„Frau Dr. ...?!“ – Irritiert sah sie zur Seite. Ja, sie war gemeint. Den Mann hatte sie noch nie gesehen. Langes, dunkles, welliges Haar, Bart, beides gepflegt. Sie fühlte sich an ihre eigene Studienzeit erinnert. Männer mit langen Haaren gefielen ihr immer noch.
„Haben Sie einen Moment Zeit?“
„Worum geht es denn?“
„Wir sammeln Unterschriften für „Gesprengte Ketten“. Wir wollen einen chinesischen Journalisten frei bekommen, der nichts Schlimmeres getan hat, als seine Meinung zu äußern zur Gewaltherrschaft der Chinesen in Tibet.“
Sie überlegte keinen Moment. Unterschriften im Sinne von „Gesprengte Ketten“ waren prinzipiell eine gute Sache.
„Haben Sie einen Stift?“ Sie trug ihre Adresse ein und unterschrieb.
In den folgenden Jahren leistete sie noch zahlreiche Unterschriften: für vielerlei Menschen und gegen mancherlei Dinge. Alles, was sie damit erreichte, spielte sich irgendwo auf dieser Welt ab, abseits ihrer Erfahrung. Diese eine Unterschrift jedoch sollte ihr eigenes Leben tangieren.
Lustlos stocherte sie in ihrem Fast Food herum. Der Morgen an der Uni war anstrengend gewesen. Schlecht vorbereitete Studenten hatten ihre Laune gegen Null sinken lassen, und der Bürokratismus des Sekretariats raubte ihr den letzten Nerv. Schade, dass ihr Papagei tot war. Nicht mal einem Tier konnte sie ihr Herz ausschütten. Jetzt half nur noch das Bett und ein ausgedehnter Schlaf.
Es klingelte an der Tür. Auch das noch! Keine Chance auf ihre verdiente Ruhe. Schlecht gelaunt blinzelte sie durch den Spion. Komisch - niemand zu sehen. Vermutlich ein Kinderstreich.
Das Bett zog sie magisch an, aber erst wollte sie herausfinden, welche Kinder sich über sie lustig machten. Leise schob sie den Sicherheitsriegel hoch und riss dann ruckartig die Tür auf. Vor Schreck hätte sie sie fast wieder zugeschlagen.
Es war nicht ihre Art, vor fremdländisch aussehenden Menschen zurückzuschrecken. Der dumpfe Rassismus einiger Zeitgenossen war ihr ein Gräuel. Aber in diesem Fall hatte sie einfach nicht damit gerechnet. Neben dem Türrahmen stand ein unbekannter Mann mit asiatischem Aussehen.
Ein Bettler? Er wirkte nicht auf sie, als ob er sich seinen Lebensunterhalt an fremden Haustüren erbitten musste. Ihr fiel seine schmerzhaft gebückte Haltung auf. Ihre Müdigkeit wich wacher Neugier. „Kann ich Ihnen helfen?“
Der Mann wirkte angespannt, als suche er nach passenden Worten. „Mein Name ist Li Wuang Xi. Ich komme aus China.“
Sie musste innerlich lächeln. Xi hieß so viel wie „Lebenskraft“, das war ihr bekannt. Aber dieser gebückte Mann sah nicht unbedingt nach einem Powerpaket aus.
China – In Sekundenschnelle lief ein Film vor ihrem geistigen Auge mit allem, was sie jemals über dieses ferne Land gelesen, gehört und gesehen hatte.
Aber dieser Mann ... Li Wuang Xi ... Nie gehört.
„Sie kommen aus China, sprechen aber fließend Deutsch?!“
„Bevor ich anfing, für die Shanghai Times zu schreiben, habe ich in Ost-Berlin Germanistik und Journalismus studiert.“
China …Journalist ... Ihr fiel es wie Schuppen von den Augen: Sie hatte sich vor Jahren per Unterschrift für die Freilassung eines solchen Mannes eingesetzt. Hatte er nicht im Gefängnis gesessen, weil er das chinesische Regime in Tibet kritisiert hatte? Wieder fiel ihr seine gebückte Haltung auf.
„Kommen Sie herein. Sie müssen mir Ihre Geschichte erzählen.“
Was Li Wuang Xi ihr erzählte, erschütterte sie zutiefst:
„Sie kamen nachts, holten mich aus dem Bett, verbanden mir die Augen und fuhren stundenlang mit mir durch die Gegend. Irgendwann kamen wir an einem Ort an, wo sie mich in einen 5 mal 4 Schritte großen Raum warfen.“
„Was hat man Ihnen vorgeworfen?“
Ein Anflug von Trauer, aber auch großer Entschlossenheit huschte über sein Gesicht. Sie hatten zwar seinen Rücken beugen können, aber offensichtlich nicht seine innere Kraft. Vielleicht war sein Name doch nicht ganz unpassend?!
„Man hat mir meine Parteinahme für Tibet vorgeworfen. Einen Prozess habe ich nie bekommen.“
„Wie sind Sie zu meiner Adresse gekommen, und was führt Sie zu mir?“
„Ihre Adresse stand auf der Petition von ´´Gesprengte Ketten´´. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken für Ihre Hilfe.“
Das ehrte ihn. Sie betrachtete ihn noch einmal bewusst: klein und noch zusätzlich gebeugt. Sie ahnte, was man ihm angetan hatte.
Plötzlich ergriff ihn eine Unruhe, die sie zuvor nicht an ihm wahrgenommen hatte.
Er nestelte an der Unterschenkel-Tasche seiner Khaki-Hose herum. Sie sah, wie er sich mühte, den Knopf am Überschlag zu lösen.
Was sie nicht sah, war das Messer, nach dem er griff - entschlossen.