Giulia

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Bo-ehd

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Giulia

„Lassen Sie sie einfach sterben.“
Magnus wusste plötzlich, was für ein Gefühl es sein muss, sich einer Lok in den Weg zu stellen. „Das sagen Sie so, als ginge es um Ihren krebskranken Goldhamster.“
„Ich bitte Sie, Magnus, was soll denn das jetzt? Die Frau ist verbraucht. Sie ist uns allen nicht mehr nützlich, entledigen Sie sich Ihrer.“
„Aber ich kann das nicht. Sie wissen doch, wie sehr ich…“
„Ich weiß, Sie hängen an ihr, aber das ist doch kein Grund, sentimental zu werden. Schreiben Sie fertig, was Sie angefangen haben, und dann ist Schluss. Denken Sie sich was Neues aus. Ihre Phantasie ist doch grenzenlos, wie Sie hundert Mal unter Beweis gestellt haben.“
„Und wie soll ich das machen? Einfach so sterben lassen … Nein, das bringe ich nicht fertig. Was ich alles in sie investiert habe! Und das soll jetzt umsonst gewesen sein? Das geht mir persönlich sehr, sehr nahe, wissen Sie das?“
So ging das Gespräch zwischen Magnus DeWitt und seinem Verleger Amos Wellinger noch eine ganze Weile, dann stand Magnus auf und verabschiedete sich mit einem Handschlag, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen.
Als er das Gebäude verlassen hatte, steuerte er auf einen Park zu, setzte sich auf die erste Bank, die frei war, und wartete, bis kein Passant mehr zu sehen war. Dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn, holte tief Luft und versuchte, sich von dem furchtbaren Gedanken zu befreien. Aber es gelang ihm nicht. Statt von der entsetzlichen Forderung Abstand zu gewinnen, brach alles aus ihm heraus, was sich während des Gesprächs mit seinem Verleger angestaut hatte. In Gedanken fluchte er seine Enttäuschung aus sich heraus. Kaltes Schwein!, hieß er ihn. Drecksau! Gefühlloser Geldsack! „Die Kapitalistensau geht über Leichen“, murmelte er zornig vor sich hin. „Ich kann sie doch nicht einfach so …“
Magnus war den Tränen nahe. Er war ja bereit, vieles zu ertragen, und sein Verständnis und seine Kompromissfähigkeit waren von allen Menschen, die geschäftlich mit ihm zu tun hatten, geschätzt. Aber jetzt war eine Grenze überschritten. Wellinger, sein Verleger, hatte eindeutig überzogen.
Er wischte mit beiden Handrücken über seine feuchten Augen, nahm seine Aktentasche und machte sich auf den Heimweg. Es war Zeit für einen Kaffee, und Magnus überlegte, ob er auch dieses Mal in der Konditorei ein Stück Gebäck mitnehmen sollte, wie er es immer tat, wenn er um diese Uhrzeit hier vorbeikam. Aber nichts in der Welt hätte ihn an diesem Tag ein Stück Kuchen schmackhaft machen können. Die Kröte, die ihm Wellinger verabreicht hatte, steckte wie mit Widerhaken bestückt in seinem Hals, und er wusste verdammt nochmal nicht, wie er das Problem lösen konnte.
„Ich kann das nicht. Kein normaler Mensch kann so etwas. Was verlangt der von dir, dieser Unmensch?“, redete er zu sich selber. Er wehrte sich in Gedanken so sehr gegen diese Vorstellung, dass er zeitweise sogar bereit war, mit Wellinger zu brechen, auch wenn die Trennung für ihn existenzbedrohend wäre. „Dann muss es eben ohne ihn gehen“, redete er sich ein. Und während er immer mehr gegen ihn Partei ergriff, wuchs sein Wille, seine Giulia zu retten. Koste es, was es wolle.
Entschlossen stieg er die Treppen hinauf zu seiner Wohnung im 3. Stock. Er öffnete die alte Holztür, die mindestens zwölf Mal überstrichen war, trat ein, ließ sie ins Schloss fallen und stellte seine Aktentasche ab. Mit einem Wurf platzierte er seine Jacke über dem Garderobehaken, und ehe er irgendetwas anderes unternahm, steuerte er die Schreibecke in seinem Wohnzimmer an und fuhr seinen Computer hoch.
Wie bescheiden er doch wohnte, der Schriftsteller Magnus DeWitt. Die Möbel in seiner Zweizimmerwohnung hatte er sich nach und nach von den Mietparteien im Haus zusammengekauft oder vielmehr schenken lassen. Wann immer jemand auszog oder sich ein neues Möbelstück anschaffte, war Magnus zur Stelle und prüfte, ob er das alte Stück gebrauchen konnte. So kam es, dass im Laufe der Jahre Möbelstücke aus verschiedenen Generationen und Trendrichtungen seine karge Wohnung schmückten. Aber ihm genügte das. Er war von Natur aus ein bescheidener Mann, der in seinen fünfzig Lebensjahren gelernt hatte, mit wie wenig man sein Auskommen haben konnte.
Magnus schrieb vor allem erotische Romane, aber nicht irgendwelche. Seine sanfte Ausdrucksweise und die exzellente Herausarbeitung seiner Charaktere waren von seinen Lesern äußerst geschätzt, und wäre in dieser Branche nicht auch der geringste Federstrich anonym, wer weiß, vielleicht wäre aus ihm schon ein berühmter Autor geworden, der auf Messen mit dem Publikum parlierte und in Buchhandlungen aus seinen Werken las. So aber dümpelte er vor sich hin, freute sich jedes Mal, wenn er einen Monat finanziell überstanden hatte oder sich sogar ein paar Euros zurücklegen konnte. Magnus DeWitt lebte in seiner eigenen Welt, einer Umgebung, die er sich selbst geschaffen hatte und die Ausdruck seiner ganzen Bescheidenheit und Einfachheit war.
Ja, er war ein sehr einfacher Mensch. Aber durchaus intelligent, belesen, phantasievoll (wie Wellinger bereits bemerkt hatte), und er hatte gute Manieren, was zweifellos auf seine christliche Erziehung zurückzuführen war. Er grüßte sogar Fremde, die er nur vom Sehen kannte: Frauen, die wie er regelmäßig hier oder da einkauften, den Busschaffner, wenn er ihn auf der Straße traf oder die alte Dame, die in der Parallelstraße wohnte, wenn sie ihren monatlichen Spendenrundgang machte und ihm mit einem charmanten Lächeln die verbeulte Blechdose hinhielt.
Hastig biss er in ein kaltes Wiener Würstchen, das seit Mittag auf der kleinen Arbeitsplatte in der Kochnische zwischen benutzten Tassen und Besteck lag, und schluckte die nur wenig zerkleinerten Brocken hastig hinunter. Er war so aufgewühlt, dass er nicht einmal richtig kaute. Dann endlich war sein PC hochgefahren. Er setzte sich auf den Drehstuhl mit der zerschlissenen Rückenlehne und holte sich sofort den Roman auf den Bildschirm, an dem er nun schon seit gut vierzehn Tagen geschrieben, geändert und gefeilt hatte.
Eigentlich wollte er weiterschreiben und den „Nachtzug“, so der Arbeitstitel, zu Ende bringen, wie es Wellinger ursprünglich gefordert hatte, aber er fühlte, wie der schlimme Gedanke an Giulias Ende ihn blockierte. Trotzdem ließ er das bisher Geschriebene vorlaufen und stoppte eine Seite vor dem Ende. Dann begann er zu lesen, um wieder in seine Romangeschichte hineinzukommen:
Der Zug ratterte durch die Nacht. Noch eine viertel Stunde vielleicht, dann waren die ersten Ausläufer der Alpen erreicht. Für Alex war es kaum auszuhalten. Warum stand sie denn nicht plötzlich in der Tür und fragte mit dieser süßen, rauchigen Stimme, ob sie hereinkommen dürfe. Als sie gemeinsam im Abteil nebenan gesessen waren, war doch alles klar. Nach dem halbstündigen Flirt standen sie – entschlossen, den Abend gemeinsam fortzuführen – auf und zwinkerten sich zum Schluss, von den anderen Fahrgästen unbemerkt, zu, dann verriet er ihr beim Hinausgehen ganz dezent seine Kabinennummer. Worauf wartete sie denn jetzt noch?
Oder war es eine weibliche Taktik, ihn ein wenig an die lange Leine zu nehmen? Machte sie sich vielleicht einen Spaß daraus, ihn ein bisschen zappeln zu lassen? Zuzutrauen wäre es ihr. Mehr als das, es wäre ganz ihr Stil, räumte er ein. Solche Klassefrauen fallen nicht mit der Tür ins Haus. Bei aller Begierde, die sie zuvor erkennen ließ: Eine solch sinnliche Frau konnte warten.
Plötzlich öffnete sich die Tür einen Spalt. Endlich! Wie eine Diva schwebte sie durch die schmale Tür in seine Schlafkabine, und da stand sie, leicht breitbeinig, eine Hand in die Hüfte gestemmt und mit ein wenig geöffneten Lippen vor ihm. Ihre Augen erzählten von der Sehnsucht nach Liebe.
„Giulia!“
Sie sagte nichts, setzte sich wie in Zeitlupe auf die Kante des schmalen Kabinenbettes und neigte sich zu ihm. Ihre Lippen berührten sich, und als sie ihren linken Arm anhob, um ihm mit ihren schlanken Fingern durchs Haar zu streichen, öffnete sich die eine Seite ihres Morgenmantels, und eine ihrer schweren, vollen Brüste fiel heraus.
Alex schluckte, und während er spürte, wie ihre fächelnde Zungenspitze zwischen seine Lippen drang, streichelte er die feste Knospe ihrer Brust. Eine Woge lustvoller Gefühle durchströmte seinen Körper.
Er streifte ihr den Morgenrock von ihren schlanken Schultern und rückte gleichzeitig zur Wand, um ihr soviel Platz zu machen, wie es in diesen untermaßigen Kabinenbetten eben ging. Giulia zögerte nicht, sich ihrer Kleidung nun gänzlich zu entledigen, und als der Morgenrock schließlich zu Boden gefallen war, zog sie die Bettdecke von seinem Körper und ließ sie ebenfalls auf das niedrige Bett gleiten. Sie lagen nun beide nackt nebeneinander, verschmolzen in einem innigen Kuss, ihre Hände damit beschäftigt, den Körper des anderen zu erkunden.


„Giulia!“
Magnus hielt inne. Während er diesen Text las, spürte er, wie die Konzentration ihn verließ. Wie automatisch konsumierte er seine eigenen Worte, die etwas in ihm auslösten, das er nicht zu definieren wusste. Die Leere, die ihn gerade befiel, schien ihn in einen Zustand der Meditation zu befördern, so als würde man versuchen, an nichts zu denken. Ganz transzendental, als würde er entschweben. Aber gleichzeitig merkte er, wie es in seinem Unterbewusstsein arbeitete. Er beschäftigte sich, scheinbar ganz entfernt, mit Gedanken, die er gar nicht herbeigerufen hatte, die sich ihm aufzwangen, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Es waren Gedanken schicksalhafter Schwere, und sie drehten sich, das spürte er jetzt immer deutlicher, natürlich um Giulia, seine geliebte Verführerin.
Giulia!
Er wehrte sich nicht gegen das Entschweben, im Gegenteil. In fiebriger Erwartung stellte er sich den Dingen, die er nicht mehr kontrollieren konnte. Und dann trat ein, was er sich in den letzten zwei Jahren, seit sie bei ihm war, Tag für Tag erhofft hatte: dass sie ihm einmal, nur ein einziges Mal, gegenübertrat und mit ihm redete.
Er starrte immer noch auf seinen eigenen Text, las Zeile für Zeile, ohne zu merken, dass die Wörter in seinem Kopf nicht mehr ankamen, und vergaß darüber das Zwinkern, dass ihm schließlich die Augen zu brennen begannen. Da erkannte er hinter den Buchstaben einen roten Schatten, der in jeder Sekunde intensiver zu werden schien, bis sich die Kontur eines Menschen herausbildete und weibliche Formen annahm. Und während Magnus ungläubig, aber auf das Wunder hoffend, sich mit dem Kopf immer mehr dem Bildschirm näherte, kam sie tatsächlich auf ihn zu: In einem roten Kleid, mit haselnussbraunem Haar, dessen Ende sich zu Locken verwand, und in sündhaft hohen Schuhen, ganz passend zu den Netzstrümpfen.
Ihre Lippen waren dunkelrot geschminkt, die Haut im Gesicht und auf ihrem Körper, soweit nicht von dem Seidenkleid verdeckt, war sonnengebräunt, fast wie bei einer Latina. Und ihre Augen: scheinbar schwarz, unter gepflegten Brauen, nur mit ein paar winzigen Lachfältchen versehen. Die Augen einer Verführerin.
„Genau so, wie ich sie erschaffen habe“, murmelte er vor sich hin, ohne zu verstehen, was er sagte.
„Magnus!“, hauchte sie ihm zu und lächelte auf so charmante Weise, wie es nur eine Frau tun kann, die grenzenlos verliebt ist.
„Giulia“, antwortete er, ohne dass sich seine Lippen bewegten.
“Du machst dir Sorgen um mich?“
„Ja, gewiss, das tue ich“, gestand er und schaute nach unten, als würde er sich schämen, das zu sagen. „Wellinger, mein – unser – Verleger, will, dass ich dich … ich wage es nicht zu sagen.“
„Nun komm, Magnus, heraus mit der Sprache“, drängte sie.
„Er will, dass ich dich sterben lasse!“ Endlich war es heraus, und wieder spürte er diesen Kloß in seinem Hals. „Ja, genau so hat er sich ausgedrückt. Ich soll dich sterben lassen wie … wie … wie ein lästiges Insekt. Nicht einmal wie einen räudigen Hund, denn dem bringt man mehr Würde entgegen.“
Giulia schwieg. Dann hob sie ihren Kopf, lächelte wie eine Mutter, die ihrem Kind eine schlimme Nachricht vermitteln muss, und versuchte, ihn zu trösten: „Magnus, mein Liebling, das ist der Lauf der Dinge …“
„Das ist er nicht!“, wehrte er ihren Trost voller Emotionen ab. „Genau das ist er nicht! Ich habe dich nicht aus einer Laune heraus erschaffen, Giulia. Du bist mein Werk. Ich habe Gott gespielt und dich zu einer Frau gemacht, die es nie wieder so geben wird. Du bist grandios in jeder Hinsicht, ein liebevoller, wunderbarer Mensch voller Leidenschaft, das Wunschbild eines jeden Mannes – und die größte Verführerin, über die jemals ein Mann geschrieben hat. Verstehst du das?“
„Natürlich verstehe ich dich, aber ich bin eben kein Mensch, wie du gerade gesagt hast. Ich bin eine Figur, eine Romanfigur, ein Character. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.“
„Für mich bist du alles auf der Welt. Du bist mein ganzes Leben. Das einzige wirklich Perfekte, das ich je in meinem Leben zustande gebracht habe, bist du.“
„Magnus, bitte, es hat keinen Sinn. Du steigerst dich da in etwas hinein, das ein anderer Mensch nicht versteht. Warum will Wellinger denn, dass du mich sterben lässt?“
„Du seist eine Romanfigur, die sich abgenutzt habe. Sechzehn Buchausgaben seien genug. Die Leser wollen Abwechslung.“
„Das ist alles?“
„In einem Erotikroman könne man keine Heldin aufbauen wie in einer Krimiserie. Eine Kommissarin werde immer wieder mit neuen Fällen konfrontiert und setze auf eine gewisse Methodik bei der Aufklärung. Das könne man ewig lang durchhalten.“
„Und warum geht das bei einem Erotikroman nicht?“, wollte sie wissen.
„“Weil du immer wieder neue Affären und Abenteuer hast, und das macht dich irgendwann zu einem Flittchen. Und so etwas will er auf keinen Fall als Hauptfigur haben. Du kannst als promiskuitive Frau keine Leser an dich binden. Das ist das Problem.“
„Du lässt mich niemals als Flittchen auftreten, nicht wahr? Meine Stärken liegen in der Verführung, dem raffinierten Flirt, in meiner Ausstrahlung, meinem Temperament, meinen … all diese guten Eigenschaften, die du mir verliehen hast.“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Und das alles willst du jetzt aufgeben? Was wird jetzt aus mir? Willst du, mein Schöpfer, mich verlassen, abschreiben, untergehen …?“
„Ich werde dich nie aufgeben, Giulia. Entweder wir überleben beide oder wir … oder wir …“ Er brachte es nicht übers Herz, es auszusprechen. „Wir bleiben zusammen, immer und ewig zusammen.“
„Wie lange ist ‚ewig‘?“, fragte sie, wohl ahnend, dass etwas anderes dahintersteckte als eine unbegrenzte Zeitdauer.
Magnus reagierte nicht, starrte weiter auf den Bildschirm, öffnete ohne hinzuschauen die Schublade zu seiner Linken und entnahm ihr eine seiner Tabakspfeifen und ein Päckchen Tabak. Mit gespielter Ruhe stopfte er sie, ohne hinzusehen, und zündete sie an. Giulia schaute ihm ungläubig zu.
„Hast du in dieser Situation nichts anderes zu tun, als dir eine Pfeife anzuzünden?“, kam es in einem Tonfall, der ihre ganze Enttäuschung zum Ausdruck brachte.
„Ich stecke mir in solchen Momenten immer eine Pfeife an“, versuchte er, sie zu beruhigen, und schaute ihr tief in die Augen. Sie erwiderte seine sehnsuchtsvollen Blicke.
„Liebling“, begann er. Er hatte den Mut, sie ein weiteres Mal Liebling zu nennen. Seine Stimme zitterte, und natürlich spürte Giulia die Anstrengung, die ihn das Aussprechen dieses Wortes gekostet hatte. „Liebling, ich weiß nicht, wie es mit uns weitergehen wird“, fuhr er fort. „Aber egal, was später mit uns passieren wird, ich möchte, dass wir uns lieben, nur ein einziges Mal. So lieben, wie ich es für dich immer erdacht habe, wie ich dich immer in Szene gesetzt habe. Es ist mein sehnlichster Wunsch. Dort, hinter mir, auf der Couch. Willst du mir diesen Wunsch erfüllen?“
„Es ist auch mein innigster Wunsch. Du bist mein Schöpfer, wie könnte ich dir das abschlagen?“, hauchte sie ihm zu.
Für Magnus öffnete sich das Tor zum Paradies. Seit Jahren hatte er nicht mehr mit einer Frau geschlafen. Nur darüber geschrieben. Immer wieder darüber nur geschrieben und Szene um Szene erfunden, wie seine Protagonisten von einem Liebesabenteuer ins nächste stürzten und dabei alle Facetten des Glücks genossen, liebesvolles und sündhaftes, leidenschaftliches und verdorbenes Glück. Er hatte alles niedergeschrieben, was seine Phantasie hervorbrachte. Und das war genug, um ihn zum Star unter den Erotikautoren bei Wellinger zu machen.
Magnus war kein Mensch, der etwas unbedacht tat, und wenn etwas Großes, Wichtiges anstand, entwickelte er dafür einen Plan. Das entsprach der Logik seiner Arbeiten. Er konnte nicht anders. Alles, was aus seiner Feder kam, alles, was er selbst tat, war Teil eines Musters, eines Systems oder, romantechnisch gesehen, Teil eines vorher festgelegten Handlungsstranges.
Er öffnete die Schublade unter derjenigen, in dem seine Pfeifen deponiert waren, und kramte eine unansehnliche Rolle von etwa fünfzehn Zentimeter Länge und zwei Zentimeter Durchmesser hervor, die von einer Banderole umgeben war. Auf ihr stand in chinesischer Pinselstrich-Schrift das Word ‚Moxa“, darunter befand sich ein weiterer Text in chinesischen Lettern. Moxa, eine Mischung chinesischer Heilkräuter, bestand aus getrockneten Blättern und Blüten, die, wenn sie angezündet waren und glimmten, einen wohltuenden, vielleicht sogar heilenden Rauch entwickelten. Die Mischung war stark, und es wurde empfohlen, den Rauch nicht direkt zu inhalieren. Früher, als Magnus noch etwas mehr Geld verdiente, hatte er sich hin und wieder einen Joint besorgt, weil er glaubte, damit seine Kreativität steigern zu können. Seit einigen Jahren aber nahm er mit diesem Ersatz Vorlieb.
Er öffnete ein Taschenmesser und schabte etwa einen Löffel voll Kräuterkrümel von der Moxa-Rolle, die er direkt in den Kopf seiner Pfeife fallen ließ. Dann entzündete er das Kraut, machte drei lange Züge, bis die Glut das Nachgestopfte erreicht hatte. Sofort erfüllte ein strenger, fast penetranter Geruch den Raum. Doch bevor Magnus den ersten Zug auf Lunge machte, kramte er aus einer anderen Schublade eine Schachtel Schlaftabletten hervor, zählte zwanzig Stück ab, stopfte sie sich in den Mund, spülte mit Mineralwasser nach und zählte weitere zwanzig Pillen ab. Dann erst machte er hastig drei tiefe Lungenzüge. Sie brachten ihn in wenigen Sekunden an den Rand einer Ohnmacht.
„Bist du bereit, Giulia?“, fragte er mit belegter Stimme.
„Ja“, kam es knapp.
Magnus schlüpfte aus seiner Kleidung und legte sich, immer noch hektisch, aber nun in größeren Abständen an seiner Pfeife ziehend, auf die Couch, und plötzlich sah er Giulia noch deutlicher als zuvor auf dem Bildschirm. Sie hatte ihr Kleid abgestreift und war aus ihrem Slip gestiegen, und als sie sich zu ihm legte und er ihre harten Knospen an seiner Brust wahrnahm, ihre Lippen schmeckte und die Wärme ihres Schoßes spürte, da war es ihm, als wäre er kurz davor wegzutreten.
„Die hier sind für dich, Liebling“, sagte er und öffnete seine linke Hand, in der sich die zweite Überdosis Tabletten befand. „Wir werden gemeinsam gehen. Aber vorher möchte ich das Geheimnis deiner Liebe kennenlernen. Ich möchte dich spüren, mit Fleisch und Blut.“
Er streichelte ihren Rücken, spielte mit ihren schweren Brüsten, fuhr ihr durchs offene Haar, kehrte zu den Brüsten zurück, berührte ihren Bauch, ihre feuchte Scham, genoss ihre Zunge in seinem Mund und war bereit, den entscheidenden Schritt zu gehen.
Magnus wälzte seinen ungelenken Körper auf den ihren, genoss, wie sie ein Bein um seine Hüften legte, und dann …
Ein Schrei, den Giulia nicht hören konnte, fuhr durch seinen Körper, gefolgt von einem schmerzenden Krampf, dann senkten sich seine Augenlider, schlossen sich aber nicht. Magnus DeWitts Herz schlug nicht mehr.

*

Weil er sein Telefon nicht abnahm und die Tür nicht öffnete, obwohl Licht in seiner Wohnung brannte, brach die Polizei zwei Tage später gewaltsam seine Tür auf. Sie fand Magnus auf der Couch, splitternackt und mit Schaum vor dem Mund. Es roch furchtbar in der Wohnung.
Seine linke Hand war geschlossen. Als die Polizei sie öffnete, fand sie zwanzig Schlaftabletten. Zur gleichen Zeit saß Amos Wellinger in seinem Büro und starrte auf seinen Bildschirm, wo sich eine Schönheit in einem bordeauxroten Kleid und langen, lockigen, haselnussbraunen Haaren in lasziven Bewegungen präsentierte.
 

Blue Sky

Mitglied
Hallo Bo-ehd,

das ist eine gute Story, wie ich finde. Der Autor, der eine speziell innige Bindung zu seiner Serienheldin aufbaut und damit nicht klar kommt, dass diese Figur auf dem Markt nicht mehr gewünscht ist. Ich könnte mir vorstellen, dass sowas gar nicht so selten passiert. Ich glaube, ich wäre nicht mit ihr gestorben, sondern hätte für mich allein mit ihr weiter gelebt und geschaut, was noch so geht.
Deine Geschichte ist auch gut geschrieben, wie ich finde. Manchmal aber auch schon etwas zu viel Beschreibung, die sowol für den Verlauf noch für die Figur des Magnus nötig gewesen wöre.

Ein paar Kleinigkeiten vieleicht zum beheben:

Jacke über dem Garderobehaken,
...Garderobenhaken, ...

Fahrgästen unbemerkt, zu, dann verriet
Kein Komma.
diesen untermaßigen
Klingt irgendwie Komisch technisch ... "beengt" fäne ich besser!?
liebesvolles und sündhaftes
und vergaß darüber das Zwinkern,
Das sollt ehrer "blinzeln" heißen...!?
fast wie bei einer Latina.
...kannste weglassen ...

Ich meine auch noch einige übeflüssige Kommas überlesen zu haben.

Aber, was so ein Tritt vor den Kopf bewirken kann wenn sich jemand in eine Sache so derartig reingesteigert hat und dann abgesägt wird. Da machen sich die Tretenden kaum Gedanken ...
Von mir gern gelesen und dafür gibts vier von fünf ...

LG
BS
 

Bo-ehd

Mitglied
Hallo BS,
die Geschichte liegt schon ein paar Tage zurück. Danke fürs Nachblättern, lesen und korrigieren. Ich habe diesen "Tritt vor den Kopf" bei einigen Autoren erlebt, und kaum einer wollte einsehen, dass sich gerade seine Figur abgenutzt haben soll. Dieses Phänomen ist bei Autoren, die Serien schreiben, fast an der Tagesordnung. Ja, der Main Stream hat so seine Gesetze, und eines der schlimmsten ist, dass man zu viel Neues produzieren muss. Manche kommen damit nicht klar. Serien wie Perry Rhodan mit tausend Ausgaben - heute undenkbar.
Gruß Bo-ehd
 

Blue Sky

Mitglied
Ich habe diesen "Tritt vor den Kopf" bei einigen Autoren erlebt, und kaum einer wollte einsehen, dass sich gerade seine Figur abgenutzt haben soll.
Die führen aber wahrscheinlich nicht alle gleich in den Freitod.


der Main Stream hat so seine Gesetze, und eines der schlimmsten ist, dass man zu viel Neues produzieren muss. Manche kommen damit nicht klar. Serien wie Perry Rhodan mit tausend Ausgaben
Perry Rhodan ist natürlich auch kein erträumtes Supergirl, mit dem dein Autor immer neue Geschichten erlebt. Dazu kommt das, wie es in deiner Geschichte schon gesagt wird, dass eine Frau, die ihre Lust und Reize auslebt, sofort als Flittchen abgestempelt ist, wärend ein Mann sich als Superhecht feiert, wenn er so oft wie möglich punktet. Deswegen finde ich es erstaunlich, dass die Serie deines Autors schon einige Folgen lebt. Ich bin am Überlegen, ob es daran liegt, dass solche Geschichten hauptsächlich von Männern konsumiert werden, die immer schnell eine "neue Kuh" (da gibt es einen Film mit Ashley Judd) für ihr Sex-Ego brauchen? Wahrscheinlich, ansonsten würde es doch mehr Geschichten geben über Frauen, die Männer abchecken, testen und mit den besten Exemplaren ihren maximalen Spaß ausleben.;)
 



 
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