San Martin
Mitglied
Gnadengasse 16
Am Vorabend seines fünfundzwanzigsten Geburtstages erhielt ein Mann vom Lande eine versiegelte Depesche. Die mit einer Schreibmaschine ins Papier geschlagenen Buchstaben besagten, er solle sich in die Gnadengasse 16 begeben, wo eine Gabe auf ihn warte. Beeilen solle er sich, die Zeit sei durchaus knapp, wie Grabsteine auf dem Friedhof aufgefädelt reihten sich die Tage des Jahres aneinander, und sie werde nicht für immer warten, ansonsten verfiele sie. Aufbrechen solle er in eben dieser Stunde, ein Zögern bedeute den sicheren Verlust, niemand könne absehen, was dann geschehe.
Also machte sich der Mann vom Lande unverzüglich auf in die Stadt, schon strebten die Pfade aufeinander zu, die baldige Ankunft in der Stadt verheißend, da holte er einen gebückten Greis ein, der auf einen Stecken gestützt einher humpelte. Ob er wisse, wo die Gnadengasse sich befinde, fragte der junge Mann zögerlich. Das wisse er durchaus, antwortete der Alte, nur könne er es ihm nicht erklären, gar zu viele Windungen vollführe sie auf engstem Raume, keine noch so genaue Beschreibung könne ihm helfen. Eines solle er aber wissen, dass er sie nur über die Steinbachbrücke erreichen könne.
Somit ging er weiter und erblickte bald einen graubärtigen Händler, der an einem Baum lehnte. Jenen fragte er nach der Steinbachbrücke, setzte noch, um die Dringlichkeit der Sache zu unterstreichen, den Inhalt der Depesche hinzu, achtsam, die Gasse nicht zu erwähnen. Nun, sprach der Händler, zu ihr gehe es nur durch die Rathauspassage, doch solle er sich vom Namen nicht täuschen lassen, sie liege gar nicht in der Nähe des Rathauses, sie sei vielmehr am sichersten über die Amalienallee zu erreichen. Alle anderen Wege seien letzten Endes doch nur Sackgassen, die sich zwar spiralförmig um sie herum wänden, doch noch immer vor einer nackten Mauer endeten. Komme er nicht über sie, sollte er lieber gleich aufgeben.
Sich vielmals bedankend setzte der Mann vom Lande seinen Weg fort, doch war ihm kurz darauf der enger werdende Pfad von Zwillingen versperrt, die nur langsam vorankamen und dabei unabsichtlich nebeneinander gingen. Diese grüßte er, doch sprach er weder den einen noch den anderen an. Da fragte der eine, ob der Herr zur Amalienallee wolle, und deutete dorthin, wo die Sonne zum Untergehen Anlauf genommen hatte, zugleich aber zeigte der andere stumm und kopfschüttelnd in die entgegen gesetzte Richtung, wo hinter dem Horizont die Stadt jeden Moment auftauchen musste.
Dies sah ein junger Priester, der unbemerkt am Wegesrand gestanden hatte, und hielt den Mann vom Lande an. Ob der Priester ihm seinen Segen geben wolle, fragte dieser, er sei vom Lande und suche die Amalienallee, worauf der Priester erwiderte, kein Segen werde ihm nutzen, denn nur ein mit zu vielen Eingängen bewehrtes, riesenhaftes Gebäude in der Gnadengasse gewähre Zugang zu ihr, und wie wolle er den rechten Einlass finden? Und darinnen seien Korridore und Türen, und keine Tür gehöre einem Korridor ganz, nur durch reinsten Zufall werde eine Pforte ein zweimaliges Durchschreiten mit dem gleichen Flur beantworten. Und Raum hinter Raum hinter Raum sei unbedingt wie der vorherige und sei es doch ganz gewisslich nicht, kein Faden sei so lang, dass er sich um alle Ecken und durch alle Schlüssellöcher strecken könne.
„Aber“, so fuhr der Priester fort, ungeduldig zum Haus des Mannes nickend, „erreichtest du doch entgegen aller Wahrscheinlichkeit und Vernunft das Zimmer, in das du bestellt bist, wäre die Mitte leer, der Raum verlassen, der Sockel verstaubt, und sie längst von einem anderen davon getragen. Du hättest nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein müssen, nun ist es vergebens. Im Übrigen wäre es mir ganz recht, wenn du dich verliefest und im Gewirr dorthin verloren gingest.“ „Warum erzählst du mir das, wenn du doch willst, dass ich mich verirre?“ „Weil du mir gewiss keinen Glauben schenken wirst“, antwortete da der Priester und blickte gen Osten, wo die Stadt bereits in unruhigem Schlafe liegen musste.
Am Vorabend seines fünfundzwanzigsten Geburtstages erhielt ein Mann vom Lande eine versiegelte Depesche. Die mit einer Schreibmaschine ins Papier geschlagenen Buchstaben besagten, er solle sich in die Gnadengasse 16 begeben, wo eine Gabe auf ihn warte. Beeilen solle er sich, die Zeit sei durchaus knapp, wie Grabsteine auf dem Friedhof aufgefädelt reihten sich die Tage des Jahres aneinander, und sie werde nicht für immer warten, ansonsten verfiele sie. Aufbrechen solle er in eben dieser Stunde, ein Zögern bedeute den sicheren Verlust, niemand könne absehen, was dann geschehe.
Also machte sich der Mann vom Lande unverzüglich auf in die Stadt, schon strebten die Pfade aufeinander zu, die baldige Ankunft in der Stadt verheißend, da holte er einen gebückten Greis ein, der auf einen Stecken gestützt einher humpelte. Ob er wisse, wo die Gnadengasse sich befinde, fragte der junge Mann zögerlich. Das wisse er durchaus, antwortete der Alte, nur könne er es ihm nicht erklären, gar zu viele Windungen vollführe sie auf engstem Raume, keine noch so genaue Beschreibung könne ihm helfen. Eines solle er aber wissen, dass er sie nur über die Steinbachbrücke erreichen könne.
Somit ging er weiter und erblickte bald einen graubärtigen Händler, der an einem Baum lehnte. Jenen fragte er nach der Steinbachbrücke, setzte noch, um die Dringlichkeit der Sache zu unterstreichen, den Inhalt der Depesche hinzu, achtsam, die Gasse nicht zu erwähnen. Nun, sprach der Händler, zu ihr gehe es nur durch die Rathauspassage, doch solle er sich vom Namen nicht täuschen lassen, sie liege gar nicht in der Nähe des Rathauses, sie sei vielmehr am sichersten über die Amalienallee zu erreichen. Alle anderen Wege seien letzten Endes doch nur Sackgassen, die sich zwar spiralförmig um sie herum wänden, doch noch immer vor einer nackten Mauer endeten. Komme er nicht über sie, sollte er lieber gleich aufgeben.
Sich vielmals bedankend setzte der Mann vom Lande seinen Weg fort, doch war ihm kurz darauf der enger werdende Pfad von Zwillingen versperrt, die nur langsam vorankamen und dabei unabsichtlich nebeneinander gingen. Diese grüßte er, doch sprach er weder den einen noch den anderen an. Da fragte der eine, ob der Herr zur Amalienallee wolle, und deutete dorthin, wo die Sonne zum Untergehen Anlauf genommen hatte, zugleich aber zeigte der andere stumm und kopfschüttelnd in die entgegen gesetzte Richtung, wo hinter dem Horizont die Stadt jeden Moment auftauchen musste.
Dies sah ein junger Priester, der unbemerkt am Wegesrand gestanden hatte, und hielt den Mann vom Lande an. Ob der Priester ihm seinen Segen geben wolle, fragte dieser, er sei vom Lande und suche die Amalienallee, worauf der Priester erwiderte, kein Segen werde ihm nutzen, denn nur ein mit zu vielen Eingängen bewehrtes, riesenhaftes Gebäude in der Gnadengasse gewähre Zugang zu ihr, und wie wolle er den rechten Einlass finden? Und darinnen seien Korridore und Türen, und keine Tür gehöre einem Korridor ganz, nur durch reinsten Zufall werde eine Pforte ein zweimaliges Durchschreiten mit dem gleichen Flur beantworten. Und Raum hinter Raum hinter Raum sei unbedingt wie der vorherige und sei es doch ganz gewisslich nicht, kein Faden sei so lang, dass er sich um alle Ecken und durch alle Schlüssellöcher strecken könne.
„Aber“, so fuhr der Priester fort, ungeduldig zum Haus des Mannes nickend, „erreichtest du doch entgegen aller Wahrscheinlichkeit und Vernunft das Zimmer, in das du bestellt bist, wäre die Mitte leer, der Raum verlassen, der Sockel verstaubt, und sie längst von einem anderen davon getragen. Du hättest nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein müssen, nun ist es vergebens. Im Übrigen wäre es mir ganz recht, wenn du dich verliefest und im Gewirr dorthin verloren gingest.“ „Warum erzählst du mir das, wenn du doch willst, dass ich mich verirre?“ „Weil du mir gewiss keinen Glauben schenken wirst“, antwortete da der Priester und blickte gen Osten, wo die Stadt bereits in unruhigem Schlafe liegen musste.