Lieber Ralf,
die Sprache scheint hier nach einem ungewohnten Schema, anderen Regeln als den üblichen folgend zu funktionieren; so als seinen die Bedeutungsebenen und Wortfunktionen kaleidoskopartig zu neuen Bildern "verworfen"/durchmischt worden. Sie klingen dadurch zum Teil absurd. Es erinnert mich an das auf den Kopf gestellte Werte- und Bezugssystem psychisch Erkrankter.
In der ersten Strophe ist eine solche (vermutlich erlittene) Zwangslage einfach aber differenziert ins Reich der Fauna projeziert dargestellt:
Die Libelle landet
im Maul der Katze
nicht von allein
fliegt sie los
fehlt ein Flügel
Die Bedrohtheit liegt in der Natur des Spieltriebes der Katze, ihrem Beuteschema, der Unterlegenheit und Filigranität der Libelle begründet. Im übertragenen Sinne: Gefühl absoluter Machtlosigkeit und Lebensbedrohung.
"Nicht von allein" betont die eigene Nicht-Verantwortlichkeit für die Notlage. Dieser für Außenstehende selbstverständliche Aspekt ist Indiz für eine Neigung zu übersteigerten Schuldgefühlen.
"Fliegt sie los fehlt ein Flügel" ist Erklärung für eigene Handlungsunfähigkeit. So bleibt nur das Aushalten und Hoffen auf die Chance, im geeigneten Moment entkommen zu können - und zwar heil.
In der zweiten Strophe (Identitätszerfall) hat das Ich die klaren abgrenzenden Konturen verloren und lebt scheinbar harmonisch
zwischen sich
und seinen Bewohnern
Gespenster in Laken
mit Rosenblättern
Strophe drei thematisiert die Überlagerung/Zerstreuung des (traumatisch anmutenden) Gewesenen.
auch das noch passt
unter die Strähnen
zerdrückt vielleicht was war
"Auch das noch" ist Ausdruck dafür, dass es eigentlich schon genug war, bevor "auch das noch" dazukam. "Unter die Strähnen" eine typische Handbewegung des Streichens von Haaren aus dem Gesicht von weiblicher Hand.
Was ist
steht nicht verborgen
wer weiß denn schon
ob Tote starben
Dies mag ein Hinweis sein, dass zwischen den Zeilen des (im Gedicht durch die Bettlägerige) Gelesenen Lebenszeichen/Lesezeichen gefunden werden. Zeichen der Toten?
Das scheint nach meinem Dafürhalten in ähnlichen Zügen (oder doch ganz anders?) hinter diesen Zeilen zu stecken oder zu ihnen inspiriert zu haben. Ich bin nicht der Meinung, dass eine andere Sprache gerade das komplex Verworrene und doch schlüssige Eigenbezugssystem der Figur so greifbar wiedergegeben hätte (@ bluefin).
Grüße von Elke