Stefan Sternau
Mitglied
Er geht in die Garage, zu seinem Porsche Turbo, in einer Rennversion, extra für ihn angefertigt. Einmal streichelt seine Hand fast zärtlich über das blaue Metall, die Wölbung des Kotflügels. Er steigt ein. Er schnallt sich an, lächelt dabei kurz über die Ironie dieser Handlung. Der Motor springt röhrend an. Mit einem Satz springt der Porsche auf die Straße. Er zieht ihn sofort hoch. Die erste Kurve nimmt er bereits mit 120. Das Heck bricht hinten aus, aber dann fängt sich der Wagen wieder und rast weiter. ER legt seine Santana-CD ein, stülpt die Kopfhörer über die Ohren. Er hat keine Lust, die quietschenden Bremsen der anderen Autos zu hören, deren Fahrer mit einer Notbremsung versuchen, einen Unfall zu vermeiden. Als er die erste rote Ampel mit 180 überfährt, da hört er auch die erste Polizeisirene im Hintergrund. Eine Zeitlang lauscht er dem vertrauten Geräusch. Dann dreht er den Lautstärkeregler höher. Santana spielen Jungle Strut, einer ihrer besten Titel für ihn. Voller Dynamik. Er tritt das Gaspedal noch etwas weiter runter. Mit 200 jagt der Wagen über die Hauptstraße, Richtung Autobahn. Gesichter wie Fetzen fliegen an ihm vorüber. Erschrocken. Angstvoll. Empört. Sensationsgeil. Blutgeil. Sie werden sich nicht zu beklagen haben. Da passiert es. Ein Audi ging nicht schnell genug von der linken Spur runter. Der Porsche hatte ihn zwar noch nicht mal angetippt. Aber als der Audifahrer ihn im Spiegel auf sich zurasen sieht, verliert er vor Schreck die Gewalt über sein Fahrzeug. Der Fahrer knallt gegen eine Ampel, sein Wagen wird zurückgeschleudert, überschlägt sich. ER sieht kaum, was passiert, ist schon wieder weiter, viel weiter. Er macht sich keine Gedanken. Er empfindet keinen Triumph. Keine aggressive Befriedigung. Aber auch kaum Mitgefühl. Eine kurze Strecke lässt er den Wagen mal langsamer laufen. „Aha, jetzt geht’s los.“ Hinter ihm inzwischen drei Polizeiwagen, und von vorne rechts und links kommt je einer. Eine Straßensperre aufzubauen, hatten sie noch keine Zeit. Er drückt das Gaspedal brutal runter. Mit einem Gebrüll setzt der Turbolader ein, der Wagen katapultiert nach vorne. „Entschuldigung Blauer, aber sie sollen uns nicht kriegen, nicht schon jetzt.“ Doch der Weg zur Autobahn ist ihm versperrt. „Okay, wenn Ihr es so haben wollt. Aber beklagt euch nachher nicht über die Toten, die hier auf der Strecke bleiben werden.“ Mit einem Täuschungsmanöver dreht er an den beiden entgegenkommenden Polizeiwagen vorbei, wobei diese zusammenknallen. Diesmal fühlt er eine leichte Befriedigung, aber sie ist flüchtig, mehr spielerischer Natur. Samba Pa Ti. Sicher, eins der schönsten Stücke von Santana, aber jetzt hätte er doch gerne etwas Härteres gehört. Er rast auf einen Zebrastreifen zu. Eine alte Frau will gerade hinübergehen. Einen Moment guckt sie hoch. Das rettet ihr das Leben. Der Ausdruck in den Augen der Alten, ihre tiefe Traurigkeit, lässt ihn ein riskantes Ausweichmanöver vornehmen. Er bringt den Wagen bewusst durch Bremsen und Gegensteuern ins Schleudern, so dass er an der Greisin vorbeischleudert, und zieht in dann wieder in die Gerade. Der Turbo streift dabei mit der Heckflosse ein Verkehrszeichen, es gibt ein hässliches Geräusch, ein Stück vom Spoiler bricht ab. „Tut mir leid, Renner. Aber ich verspreche dir, das war die letzte, die wir schonen. Meinst du denn, sie werden uns schonen?! Aha, jetzt haben die Grünen also ihre Sperre fertig. Na, ganz ordentlich. Ob es jetzt schon aufs Ganze geht? Wohl noch nicht. Hey Santana, spielt Euern Taboo mal lauter.“ Seine Ohren dröhnen. Er hört keine Polizeisirenen mehr, schon gar nicht das blödsinnige Rufen aus den Megaphonen und Lautsprechern. Er prescht auf die Grünlinge zu. Sie hechten zur Seite. Sie waren mit ihrer Sperre noch nicht ganz fertig. Eine Lücke war noch geblieben. Da zwängt er sich durch. Das geht nicht ohne Schrammen ab. Aber da vorne ist die Autobahn. Auf der Autobahn schaltet er erst mal zurück, ja zurück. Er streichelt das Gaspedal nur mit dem Fuß, lässt den Wagen locker im Verkehrsstrom mitschwimmen. Da sieht er im Rückspiegel ein Polizeiblinklicht, hört das quäkende Martinshorn. Sie haben einen Porsche auf ihn angesetzt. Das ist das erste und einzige Mal auf dieser Heimfahrt, dass er wirklich lachen muss, lachen kann. „Hey Turbo, was sagst du dazu, sie wollen uns mit einem normalen 911 fangen.“ Der Turbo lässt ein unwilliges Brummen hören. „Ja, ganz meine Meinung, dann mal los.“ Der Wagen schert auf die linke Bahn, zieht raketenartig los. Er macht das Fernlicht an, obwohl es taghell ist. Aber wenn ihn so nur einer schneller sieht, rettet das vielleicht dessen Leben. Für ihn kann es ohnehin nur um einen Aufschub gehen. Der Tacho steigt 150, 200, 220. Noch hält der Polizeiwagen ganz brav mit, in hundert Meter Abstand etwa. Aber auf der Autobahn zu schießen, das trauen sich die Brüder gewiss nicht. Er spielt ein bisschen mit den Bullen, lässt ihnen für kurze Zeit die Hoffnung, sie könnten ihn vielleicht erhaschen. Obwohl sie ja eigentlich an den überdimensional ausgebuchteten hinteren Kotflügeln, den extra breiten Reifen und dem riesigen Heckspoiler sehen müssten, dass sie keinen normalen Porsche vor sich haben, ja nicht einmal einen normalen Turbo. „Nun Blauer, jetzt wollen wir deinem langsamen Bruder mal zeigen, was ein Renn-Turbo kann.“ Aus 220 km heraus beschleunigt der Wagen zügig weiter. 230, 240, 250, 260. Nun bleibt der Polizeiporsche mehr und mehr zurück, wird kleiner und kleiner, ist bald nicht mehr zu sehen. Bisher hat er Glück gehabt. Alle Autos vor ihm sind sofort auf die rechte Bahn geflüchtet. Und außer erbärmlichen Bremsen und Quietschen ist dabei noch nichts passiert. Sicherlich warnt man im Verkehrsfunk bereits vor ihm. Aber er hört nicht Verkehrsfunk. Er ist nicht publicitygeil. Er hört Santanas Everybody’s everything. Der pulsierende Rhythmus geht direkt ins Blut, besser als jeder Aufputscher. Das Solo von Carlos kommt direkt im Gehirn an. Aber da vorne. Jetzt wird es Ärger geben. Ein Mercedes SL. Der Mann fährt seinen Wagen voll aus, aggressiv. Es macht ihm offensichtlich Spaß, die anderen herüberzuscheuchen. Der fährt überheblich, arrogant. Dabei bringt sein Mercedes gerade 240. Er nähert sich ihm langsam, mit 230. Der Mercedes macht keine Anstalten, von der linken Bahn runterzugehen. Der Fahrer kann es offensichtlich nicht verkraften, dass es einen gibt, der ihm überlegen ist. Es würde für ihn eine ungeheure Kränkung bedeuten, auf die rechte Bahn ausweichen zu müssen. ER zieht einmal die Lichthupe. Der Mercedesfahrer tut, als habe nichts gesehen, versucht aber insgeheim, seinen Wagen weiter zu beschleunigen, ohne Erfolg. Der Porsche fährt nun weiter auf, 1 Meter, 1/2 Meter, 30 cm. Dann touchiert er den Mercedes, der kommt ins Schleudern, der Fahrer sieht die Katastrophe kommen, aber in seiner Todesangst und Todeswut will er nicht allein sterben. Er, der nie nach rechts wollte, jetzt zieht er den Wagen mit letzter Kraft rechts rüber, genau in einen voll besetzten VW-Bus. Ein infernalisches Knallen, Krachen, Zerstören. Autowrackteile fliegen durch die Luft. Und da fährt der erste voll in die beiden Unfallwagen hinein, erneutes donnerndes Krachen. Und der zweite fährt rein ... ER ist aber schon weiter. Auf einmal spürt er Hass. Dieser verdammte Mercedesfahrer. Konnte er nicht allein sterben, dieser Dreckskerl. Und ihm und seinem Porsche wird man es anhängen. Plötzlich durchzuckt ihn eine panikartige Angst. Ist es nicht Wahnsinn, was er tut? Kann es denn nicht noch eine andere Lösung für ihn geben? Aber er braucht nur in den Rückspiegel zu sehen, wo eine riesige schwarze Rauchwolke aufsteigt. Wer weiß, wie viele Tote und Verletzte es dort inzwischen gibt. Ja, vor diesem Unfall, da hätte er vielleicht noch zurückgekonnt. Aber jetzt nicht mehr. Er hat den Point of no Return überschritten. Es ärgert ihn, dass ihm der Mercedesfahrer diese Entscheidung aufgezwungen bzw. ihm die Entscheidung abgenommen hat. Er hasst Fremdbestimmung. Er drückt den Gashebel wieder stärker runter. Aber was solls? Hat er diese Welt nicht gerade über, weil sie nur von solchen Idioten wimmelt? Ja, auch deswegen. Und wegen ihrer Absurdität, Verlogenheit, Ungerechtigkeit und Grausamkeit. Aber es gibt andere Gründe. Tiefere. Die unbenennbaren Schrecken einer traumatischen Kindheit, die seine Seele unheilbar verletzten. Hässliche, stinkende, brutale Männer, die im Kinderheim nachts zu seinem Bettchen kamen und ihn zu sich holten. Er presst die Lippen zusammen. Durch die Musik in seinen Kopfhörern hört er jetzt das Rattern eines Hubschraubers. Erst denkt er, ein Rettungshubschrauber. Aber dann wird ihm klar. Sie jagen ihn jetzt auch aus der Luft. Die Autobahn wird leerer und leerer. Er begreift schnell. Sie holen die andern Fahrer mit Verkehrsfunk von der Bahn herunter, denn sie haben sicher eine schöne Sperre für ihn aufgebaut. Er muss lächeln, ohne zu wissen warum. Jetzt ist das Knattern des Hubschraubers knapp über ihm. ER dreht kurz die Lautstärke seines Radios runter. Tatsächlich, er kann die Stimme des Piloten gerade verstehen. „Mann, geben Sie doch auf, Sie haben keine Chance. Seien Sie doch vernünftig.“ Seine Augen brennen plötzlich. „Ich hatte nie eine Chance. Ich war noch nie so vernünftig wie in diesem Augenblick, in dem ich das endlich akzeptiere.“ Da, in der Ferne kann er undeutlich auf der Strecke etwas sehen. Wird das schon die Falle sein? Santana spielen Toussaint L’Overture, sein Lieblingslied von der Gruppe. Ein gutes Lied zum sterben. „Hallo Blauer, ich glaube, wir müssen uns langsam voneinander verabschieden. Du warst mein bester Freund in diesem Leben.“ Seine Stimme zittert etwas. „Was wir machen, machen wir ganz. Ich will nicht lebenslänglich im Rollstuhl durchs Gefängnis fahren. Und Du wirst keinen anderen Fahrer nach mir mehr haben.“ Sanft drückt er das Gaspedal immer weiter runter. 250, 260, 280, 290, 300. In atemberaubender Geschwindigkeit jagt der Wagen über die Bahn. Die Landschaft fliegt verzerrt an ihm vorüber. Und wie ein Film läuft sein Leben vor ihm ab, wie in Zeitraffer. Die immer wieder neuen Hoffnungen, und die immer wieder darauf folgenden Enttäuschungen. Bis die Hoffnungslosigkeit kam und ihn mehr und mehr ausfüllte. Da ist die Sperre. Flüchtig erkennt er ein schweres Maschinengewehr. „Na Blauer, viel Ehre für uns.“ 310, 320, 323, Maximum. Ein gewaltiger Aufschlag, der Wagen hebt ab. Dann eine ungeheure Explosion, Feuer, Rauch. Schwärze. Er war heimgekehrt.