@ gareth
Du schriebst:
Er ward von Nachbarn angeschmiert
als Kinderschänder denunziert.
Unabhängig vom historischen Sinn des Wortes denunzieren, wird es in unserer Zeit so verwendet, dass man jemanden dann denunziert, wenn man seine, an sich ehrenwerten Handlungen, aus niedrigen Beweggründen an eine interessierte Stelle verrät, um ihm zu schaden. So wurden und werden z.B. unabhängige Denker in totalitären Regimen gerne von systemtreuen Untertanen denunziert.
Nun könnte man einwenden (diese Tür will ich dir gerne öffnen), dass der Begriff stimmig ist, wenn man ihn aus Theos Sicht begreift. Nur ist das ganze Gedicht geschlossen eine Beschreibung Theos von außen. Dieser wesentliche Teil des Gedichtes ist also zumindest in hohem Maße missverständlich und von daher bedenklich. Es ist mir auch völlig unklar, dies zur inneren Logik, auf welcher Basis die Nachbarn zu ihrer Einschätzung kommen können, Theo sei ein Kinderschänder, wenn er alles absolut heimlich macht (...Mit Tempobox bei Kerzenschein...).
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Ich verstehe genau, wie Du das meinst, und Dein Aspekt der Sache ist ebenfalls möglich.
Ich habe diesen Reim so interpretiert, dass gerade das Büttenrednerische daran, das Wort "anschmieren" ("schmierig sein") statt "anzeigen", sowie das scheinbar deplazierte Wort "denunzieren" etwas Subtiles ausdrücken sollen:
Und zwar, dass es den Nachbarn bzgl. der Sache "auch nicht so Ernst ist", wie man voraussetzen sollte. Wäre zB möglich, dass diese Nachbarn mit Herrn Theo wegen einer unbezahlten Rechnung in Fehde liegen, und ihn daher -mal so eben nebenbei-wegen der Kindersache "angeschwärzt" haben, wobei sie schon lange in der Realität zu den Wissenden, den Weg-guckern, den nicht-wissen-Wollenden gehören, denn sie sind immerhin Theos "Nachbarn", und das bedeutet ja was, damit sagt der Text ja etwas Spezifisches aus.
Theo könnte halbwegs mit Recht über das "Anschmieren" der Nachbarn erstaunt sein, falls diese bisher per Wegschauen und Duldung praktisch ihr Einverständnis zu Theos "Hobby" erklärten.
Gerade "anschmieren" drückt ja im Kriminellenmilieu aus, dass alle Beteiligten ein gemeinsames (geheimes) Wissen teilen (hier: Theos "Hobby"), und dass dann einer von ihnen aus irgendwelchen Gründen aussteigt und es öffentlich macht.
Dazu passt dann das Wort "denunzieren" sehr, denn der Text schwenkt damit absichtlich zur Ansicht Theos um, die er quasi zur Ansicht auch von Theos Umfeld verallgemeinert. Ich halte gerade dieses Stilelement für sensibel-gekonnt.
Solche "Theos" haben immer ihren sozialen Kontext, auf dem sie wachsen und gedeihen wie Schimmel auf Abfall. Und ich rechnete -gerade wegen der Ausdrucksweise im Text- diese Nachbarn zu demjenigen sozialen Kontext, der diese Theos durchaus duldet, so wie man etwa einen Verschrobenen mit seltsamen Hobbies dulden mag.
So betrachtet, stimmt die Ausdrucksweise des Textes sehr, und ist vielleicht lediglich zu knapp um die enthaltene, schlimme Botschaft, dass Theo nämlich ein ihm letztlich solidarisches Umfeld hat, und er auch darum weiß, "rüberzubringen".
Die Textaussage an dieser Stelle wäre dann: Kinderschändung ist allermeist kein persönliches, individuelles Verbrechen, sondern eines, das ohne einverständlichen oder duldenden sozialen Kontext gar nicht möglich wäre. Und da ist ja durchaus was dran. Ein Text, der aber solches (mit) aufzeigt, ist durchaus hochwertig.
PS: Wenn Du Dir mal die Geschichte des Kinderschänders (und Serienkillers) Haarmann durchliest, erkennst Du, wie dieser Haarmann ohne sein spezifisches Milieu, sein psycho-soziales und polit-ökonomisches Umfeld, das ihn über Jahre förmlich "züchtete" und gegen Einbrüche von Korrektiven abstützte, gar nicht möglich gewesen wäre.
Eine gute Darstellung: Theodor Lessing, "Haarmann", dtv
Generell greift die Beurteilung von Verbrechen viel zu kurz, wenn man sie auf den individuellen, den Tatausführenden beschränkt, denn alle Verbrechen haben enorme soziale Komponenten.
In dem Zusammenhang bekommt dann auch die "wie auf Abruf" wirkende und allermeist auffallend undifferenzierte
"Empörung" der Öffentlichkeit zu solchen Anlässen einen sehr merkwürdigen Beigeschmack.
Verstehst? Ich sage: "Kinderschändung", und alle Zuhörer antworten: "PfuiDeibel, das ist das Schlimmste!" Statistisch aber steht fest, dass einige Prozent genau dieser Zuhörer mit diesem Delikt in irgendeiner Form selbst befasst sind.
Darum sind auch erfolgreiche Verbrecher nie "asozial" im üblichen Wortsinn, sondern im Gegenteil höchst sozial, denn längerfristige Verbrechenserfolge stellen sich nur dann ein, wenn es dem Täter gelingt, seine Taten quasi-unauffällig intersozial einfließen zu lassen (siehe: "Weiße-Kragen-Kriminalität"), oder wenn er infolge seiner Machtposition den intersozialen Kontext, in dem seine Taten stattfinden, selbst bestimmen kann, zB Korruptionskriminalität (dies war bei Gilles-de-Rais zB der Fall, ist heute im Rotlicht weitgehend der Fall, wie auch bei den diversen MAFIAs, die eben gerade aus intersozialen Subkulturen bestehen)
"Herr Theo" ist genau einer dieser erfolgreichen Verbrecher.