Hier

4,60 Stern(e) 7 Bewertungen

Tonmaler

Mitglied

Ich habe doch die Stühle gar nicht aus dem Fenster geworfen.
Sie will wissen, warum ich sie hinausgeworfen habe. Aber ich war das nicht. Aus welchem Grund sollte ich die hinauswerfen, frage ich sie zurück. Das weiß sie auch nicht, sagt sie.
Jetzt gehe ich zurück ins Schlafzimmer. Beide schauen zu mir.

»Hast du es nicht?«, fragt Franka. Meine Tochter.
Ich frage: »Was?«
»Du wolltest das Wasser bringen.«
»Nein«, sage ich. »Ich hole es jetzt.«

Ich laufe in die Küche, mache die Schublade auf und nehme ein Messer raus, gleich darauf kommt meine Tochter und nimmt es mir aus der Hand.
»Ich habe Hunger«, sage ich.
Niemand hier macht etwas zu essen. Das wundert mich.
Es ist Marias Aufgabe. Maria. Meine Frau. Sie macht mir das Essen nicht.

Ich gehe ins Schlafzimmer. Da liegt sie faul herum. Warum steht sie nicht auf? Was liegt sie da herum, es ist heller Tag?
Ich bin im Flur. Das Telefon klingelt. Ich gehe ran, sage hallo.
»Ich bin es, Rainer«, sagt die Stimme. »Bist du es, Papa?«
»Ja, hallo Rainer«, sage ich. »Wie geht es dir? Wo bist du?«
»In Kampala«, sagt er.
»Seit wann?«, frage ich.
Er lacht. »Seit sieben Jahren«, sagt er. »Kann ich Mama sprechen? Ist sie wach?«
»Ja, ist sie. Sie steht aber nicht auf. Sie liegt im Bett.«
»Ist gut. Kann ich sie sprechen?«
»Ja. Und wie geht es dir? Was machst du jetzt beruflich?«
»Ich bin Dolmetscher«, sagt er.
»Und wie geht es dir?«
»Danke, ganz gut im Großen und Ganzen. Und wie geht es dir? Schaust du noch Fußball?«
Fußball? Da muss ich überlegen. Ich habe schon lange kein Spiel mehr gesehen. Ich kann es gar nicht sagen.
»Hallo?«, sagt die Stimme.
»Und wo bist du?«, frage ich.
»In Kampala«, sagt er.
»Ah, in Kampala bist du jetzt. Und wann kommst du zurück?«
Meine Tochter kommt aus dem Schlafzimmer. Franka.
»Wer ist dran?«, fragt sie.
»Es ist Rainer«, sage ich. »Mein Sohn.«
Sie nimmt mir das Telefon aus der Hand.
»Hallo Rainer. Es ist schlimm«, sagt sie ins Telefon. »Wann kannst du kommen? Nein. Ich … Er hat gestern die Schläuche aus dem Sauerstoffgerät montiert und sie wäre beinahe erstickt … nein ... Ich kann nicht mehr.«

Ich gehe ins Schlafzimmer; sie soll endlich das Essen machen; ich habe Hunger. Warum macht sie es nicht?
»Steh endlich auf!« Ich stehe vor dem fremden Bett. Sie hat die Augen zu. Maria.
Da ist meine Tochter wieder. Sie heißt Franka. Sie zieht mich am Arm aus dem Zimmer.
»Papa, jetzt lass sie«, sagt sie. »Sie kann nicht aufstehen. Ich mach’ dir gleich was, warte noch kurz.« Dann ins Telefon: »Was? … Nein, das versteht er nicht. Er weiß es nicht.«
Warum telefoniert sie so lange, frage ich mich. Mit wem telefoniert sie?

Ich gehe lieber ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch, die Blumenvase. Ich nehme sie, sie ist groß und grün, hellgrün mit gelben Kreisen.

Hier stehe ich im Garten auf der Wiese und halte eine Vase in den Händen. Ich will sie aber nicht halten, sie ist schwer, und habe keine Ahnung, was ich mit ihr tun soll, also werfe ich sie über den Gartenzaun. Ich könnte die Äste am Baum schneiden. Das ist der Birnbaum. Die Säge hängt in der Garage. An der Wand.

Ich sitze hier auf dem Balkon.
Franka kommt. »Du sollst die Herdplatten nicht anmachen. Das ist gefährlich! Ich habe gesagt, das darfst du nicht! Ich koche dann schon, verstanden?«, schreit sie mich an. Sie schaut zum Tisch. »Was macht die Säge da? Was willst du mit der Säge?«

Ich sehe die Säge. Aber ich will nichts mit ihr. Habe sie da nicht hingelegt. Ich merke mit einem Mal, ich muss pinkeln, sogar dringend.

Ich bin allein im Garten; hier höre ich meine Tochter von oben schreien.
»Papa!«, schreit sie. »Wo bist du?«
Ich rufe: im Garten.
Sie taucht auf dem Balkon auf.
»Der Teppich im Flur!«, schreit sie weiter. »Du hast schon wieder auf den Teppich gepisst!«
Aber das war ich nicht. Ich bin doch gar nicht im Flur. Sondern im Garten hier.

Der Zaun. Ich muss den Zaun streichen.



.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Idee ist originell, Demenz aus der Perspektive der betroffenen Person darzustellen. Sprachlich ist es dir gut gelungen, die Rastlosigkeit und geringe Halbwertszeit der Gedanken darzustellen, indem die meisten Sätze kurz sind, und die auf einen begrenzten Wahrnehmungsausschnitt beschränkte Welt, in der die Person fast nur noch sich selbst sieht, stellst du z.B. dar, indem sehr viele Sätze mit "ich" beginnen. Ich war ziemlich atemlos dabei beim Lesen.
 

petrasmiles

Mitglied
Ich finde den Titel beklemmend: Hier.
Das ist so 'konkret', nicht theoretisch oder gar fiktional, sondern im Hier und Jetzt. So sieht das aus, wenn jemand nicht mehr weiß, was er tun wollte, getan hat, nicht mehr begreift, dass er etwas tut geschweige denn, welche Konsequenzen das hat. Und wie schwer das für Angehörige ist - und nicht zu stemmen.
Eine Katastrophe, die weitere nach sich ziehen wird. Hier!

Liebe Grüße
Petra
 

Tonmaler

Mitglied
Hallo ihr, ich bedanke mich herzlich für die Reaktionen. Vorher weiß man ja nie, ob es gelingt, was man vorhat.
Und der Text ist recht spontan entstanden. Der Versuch, einen dementen Menschen von innen zu beschreiben, den Scheinwerfer seines Bewusstseins, der in der Dunkelheit schwach nur einen kleinen Ausschnitt beleuchtet.


Gut eingefangen.
Schwer vorstellbar, vielleicht einmal selbst so verwirrt zu sein. Nicht schön.
Ja, das ist schwer; jeder Versuch es zu tun ist letztlich keine Erfahrung. Mir ging es um Verständnis.


Die Idee ist originell, Demenz aus der Perspektive der betroffenen Person darzustellen. Sprachlich ist es dir gut gelungen, die Rastlosigkeit und geringe Halbwertszeit der Gedanken darzustellen, indem die meisten Sätze kurz sind, und die auf einen begrenzten Wahrnehmungsausschnitt beschränkte Welt, in der die Person fast nur noch sich selbst sieht, stellst du z.B. dar, indem sehr viele Sätze mit "ich" beginnen. Ich war ziemlich atemlos dabei beim Lesen.
Ja, das war der Versuch, eine demente Person nicht von außen zu zeigen, sondern von innen.
Die Fragmentierung des Erlebens in beständiges Erwachen und wieder weg sein.
Danke dir!



Ist Doletscher Absicht?

Sehr überzeugend!
Béla
Ja, war es. Vorher war es 'Dolmetscher'; dann kam mir in den Sinn, möglicherweise (er)kennt er das Wort nicht mehr, ist das aber gewöhnt. Phonetisch kommt es ihm bekannt vor.
Allerdings bin ich mir mit dem Ganzen nicht sicher. Vielleicht ändere ich das wieder, weil es den Lesefluss vermutlich stört (jeder fragt sich, ob das ein Fehler oder Absicht des Schreibers ist).



Ich finde den Titel beklemmend: Hier.
Das ist so 'konkret', nicht theoretisch oder gar fiktional, sondern im Hier und Jetzt. So sieht das aus, wenn jemand nicht mehr weiß, was er tun wollte, getan hat, nicht mehr begreift, dass er etwas tut geschweige denn, welche Konsequenzen das hat. Und wie schwer das für Angehörige ist - und nicht zu stemmen.
Eine Katastrophe, die weitere nach sich ziehen wird. Hier!
Ja. Zuerst stand da 'nun', also die zeitliche Dimension. 'Jetzt' wollte ich als Titel nicht verwenden, da es mit dem Tolle-Buch nichts zu tun hat (oder doch?). Die örtliche Dimension 'hier' stellt jedoch gleichermaßen den Großteil des Bewusstseins dar.
Wenn du sagst: beklemmend -- denke ich an ein Gefangensein.

Viele Grüße
T.


(Ich wollte übrigens auf euren Profilen nach Texten von euch schauen. Die Beiträge habe ich entdeckt, aber nirgends eine Liste der eigenen Texte. Vielleicht könnte mir wer sagen, wie das geht. Danke!
 

Tonmaler

Mitglied
Das funktioniert glaube ich nur, indem man unter einem Text einer Person auf diesen Button klickt: Dieses Werk hat Ihnen gefallen? Dann lesen Sie andere Werke von Tonmaler

Wie wäre es übrigens mit "Domletscher"?

Deine andere Geschichte hab ich übrigens auch gelesen und war fasziniert. Habe das sehr gesellschaftskritisch verstanden. wie die Menschen mit weit offenen Augen wegschauen.
Ich hab schon einen Hinweis, so funktioniert das: Über Profil - finden - Thema; kann aber jeder für sich auf eigenem Profil abstellen, wenn ich das richtig verstanden habe, dann sieht das niemand.

Domletscher ... finde ich gut und werde ich übernehmen, das klingt besser.

Zu dem anderen Text, die Dämonin Rosemarie: Genau so war das auch gedacht. Die unfasslichsten Dinge können geschehen, und keiner reagiert datauf; entweder weil man ihm gesagt hat, dass es schon normal oder in Ordnung sei oder weil er damit nichts zu tun haben will.Schreib doch deinen Kommentar unter den entsprechenden Text -- dort steht nämlich noch gar nichts -- und vielleicht kommt ja dort doch noch eine Diskussion auf.

Gruß
T.
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ja, das war der Versuch, eine demente Person nicht von außen zu zeigen, sondern von innen.
Die Fragmentierung des Erlebens in beständiges Erwachen und wieder weg sein.
Danke dir!
Genau da werden sich die Geister scheiden, wir wissen nicht, wie es im Innern einer dementen Person aussieht, sind es natürlich aber gewohnt von äußeren Verhaltensmustern auf innere Vorgänge zu schließen. Das klappt auch ganz gut, solange eine Person sich im Spektrum des "Normalen" bewegt, aber Demenz ist ein Extremzustand. Also können wir höchstens vermuten, was im Innern einer solchen Person vorgeht - und das hast du mE. sehr gut gemacht. Hier gehen auch Stil und Verwirrung des Protagonisten in eines über - der abgehackte Stil, die kurzen Säze, die ständig von neuen Ideen durchbrochen werden, geben das gut wieder. Mir hats gefallen!

LG
Patrick

PS: ich sehe gerade, die kurzen Sätze wurden schon angemerkt. Pardon.
 

Johnson

Mitglied
Hmmm…das ist tatsächlich gut geschrieben. Man weiß hier, wer etwas sagt und denkt. Die Wörtliche Rede ist gut. Die grosse Schrift mache das Lesen einfach.
Gewissermaßen könnte der Erzähler auch ein unzuverlässiger Erzähler sein………………
 

wirena

Mitglied
...hmmm, was in einem dementen Menschen vorgeht wissen wir wirklich nicht. Doch als ich als Schwesterhilfe in einer Geriatrie arbeitete, hörte ich von einer Patienten, die einen Hochschulabschluss hatte, in einem klaren Augenblick, folgende Aussage: „Wissen sie Schwester, ich muss nun alles vergessen, was ich gelernt habe, um Platz dafür zu haben, was ich nun erlebe.“ ja, wir wissen es wirklich nicht...

LG wirena
 

Tonmaler

Mitglied
Hmmm…das ist tatsächlich gut geschrieben. Man weiß hier, wer etwas sagt und denkt. Die Wörtliche Rede ist gut. Die grosse Schrift mache das Lesen einfach.
Gewissermaßen könnte der Erzähler auch ein unzuverlässiger Erzähler sein………………
Danke! Das Problem mit der Perspektive ist gewesen, dass ich nicht allzu subjektiv Gedanken präsentieren konnte, das war mir zu spekulativ, siehe unten. Daher ist die Kamera sehr reflexiv und beschreibend, wenig interpretierend.


...hmmm, was in einem dementen Menschen vorgeht wissen wir wirklich nicht. Doch als ich als Schwesterhilfe in einer Geriatrie arbeitete, hörte ich von einer Patienten, die einen Hochschulabschluss hatte, in einem klaren Augenblick, folgende Aussage: „Wissen sie Schwester, ich muss nun alles vergessen, was ich gelernt habe, um Platz dafür zu haben, was ich nun erlebe.“ ja, wir wissen es wirklich nicht...
LG wirena
Ja, wir wissen es nicht. Daher ist meine Sicht auch fokussiert auf das Phänomen des Verlusts der unmittelbaren Vergangenheit; das ist vorstellbar, und so erlebe ich es von außen und erfahre es von Beteiligten. Manchen war der Text anderorten zu brav und wenig konfus; aber wie gesagt, ich wollte nicht weit weg von dem, was relativ -- betone: relativ -- gut nachvollziehbar erscheint.

Sehr intereressanter Satz, den du zitierst (von jener Patientin)!

Danke für eure Gedanken zum Text!

Gruß
T.
 

Tonmaler

Mitglied
Gratuliere zur – meiner Meinung nach: verdienten – Empfehlung.
Ich danke dir! Dank deiner Nachricht habe ich es überhaupt gemerkt ...

Ich frage mich, ob dies sie, in: frage ich sie zurück, nicht nur unnötig ist und für meine Ohren ungelenk daherkommt, oder sogar falsch ist? Man kann zurückfragen. Aber geht auch sie zurückfragen?
Ja, das geht; in meinem Ohr klingt es auch richtig. Danke für die Nachfrage, manche Fehler schleichen sich ja ein und befinden sich im toten Winkel.

zu·rück·fra·gen
/zurǘckfragen/

schwaches Verb
1.1.
eine Gegenfrage stellen, mit einer Gegenfrage antworten
"»Und was machst du?«, fragte sie zurück"
1.2.
seltener
rückfragen
 



 
Oben Unten