Hotel Fernblick

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Matula

Mitglied
Auf der Straße hinauf zum Hotel Fernblick kam mir eine kleine Gruppe von Menschen entgegen. Sie machten keine Anstalten, die Fahrbahn zu verlassen, sondern bildeten eine Kette, als sie mich kommen sahen. Ich hupte mehrmals, musste langsamer werden und schließlich anhalten. Sie blieben in einiger Entfernung stehen und riefen: "Sie können sich den Weg sparen! Dort oben gibt es nichts mehr zu sehen! Wir waren die letzten Gäste!"
"Würden Sie bitte den Weg freimachen!" rief ich zurück. "Ich möchte die Aussicht genießen!"
"Die Aussicht ist verschwunden! Jeder Gast hat sich ein Stück mitgenommen. Das Hotel hat geschlossen und sich dann den Abhang hinuntergestürzt. Das Gipfelkreuz ist in den Himmel aufgestiegen. Kehren Sie um, hier gibt es nichts mehr zu tun!"
Sie kamen näher und ich sah, dass sie Stöcke und Messer hinter ihren Rücken versteckten.
"Seid ihr die letzten Menschen?" rief ich besorgt.
Da lachten sie: "Wir haben zwar ein Lüstchen für den Tag und ein Lüstchen für die Nacht, aber das Glück haben wir nicht erfunden!"
Als sie vor meiner Windschutzscheibe standen, sah ich ihre sonnenverbrannten Gesichter. Sie hatten bis zuletzt gesungen, gebetet und Tiere geopfert. Ein heißer Windstoß drang durch das Seitenfenster.
 
Kurzprosa, die ihrem Namen alle Ehre macht.
In erstaunlich wenigen Sätzen eine Geschichte erzählen, beklemmende Stimmung erzeugen: Das ist hier gelungen.
Glückwunsch!

Liebe Grüße,
Erdling
 

Rachel

Mitglied
Da schließ ich mich gern an. Nachdenkenswerte Begebenheiten (mit oder ohne Zarathustra) im Fernblick. Der letzte Satz - Ein heißer Windstoß drang durch das Seitenfenster - hat es für mich auch klimatisch in sich. Grüße, Rachel.
 



 
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