Ich bin...Traurigkeit

Corinna Thiers

Mitglied
„Ich bin… Traurigkeit.“

Laub weht von den Bäumen. Frische Luft, die schon nach Aufbruch riecht und sagt, es wird Zeit zu
gehen. Laub umgibt die Bäume. Bald schon werden sie alle kahl sein. Leer und leblos. Kalt. So wie
sein Herz. Sein trauriges Herz. Der Wind streift seinen Körper. Wie auch den Stamm des Baumes. Wie
auch jedes einzelne Blatt. Wie auch… sein leeres Herz.

Es ist Herbst und Blätter fallen von den Bäumen. Ein Junge tobt auf dem Hof herum. Mit ihm ein
großer Hund. Vergnügt und ausgelassen, fröhlich. Ob Hunde wohl lachen können, fragt er sich
während er seinen tierischen Begleiter beobachtet. Er selbst strahlt. Übermütig rennt der Hund um
ihn herum. Immer im Kreis, fast wie ein Strudel aus Wind, im Kreis, im Kreis – und weht dabei die
Blätter auf, die den Boden bereits weitflächig bedecken. Wie schwere Federn erheben sie sich, um
gleich darauf wieder – unsanft - den Boden zu verzieren. Ein kunterbunter Blättervulkan, der sich
schwallartig in einer grün – braun – rot - gelben Farbenpracht erbricht. Der Hund tollt und springt um
ihn herum. Und er strahlt und denkt und fühlt: „Was für ein wundervolles Tier. Was für ein
wunderbarer Freund.“ Ein Ast knackt, splittert. Der Hund zuckt panisch zusammen. Seine fröhlich -
spielerische Körperhaltung, ausgelassen und heiter, weicht. In Sekundenschnelle: ein angespannter,
verängstigter Hundekörper mit aufgestelltem Fell und fletschenden Zähnen – zum Sprung, ja, zum
Angriff bereit. Der Junge beobachtet den Hund ergriffen. Nicht irgendein Hund. Sein Freund. Der Vater
des Jungen, eben noch weit weg, hört den Hund aus der Entfernung knurren. Auf diesem Hof gibt es
nur einen Hund. Der Vater rennt auf Junge und Hund zu, greift auf dem Weg zu ihnen einen
mittelschweren Ast auf und läuft weiter. Sekundenschnelle. Der Hund knurrt immer noch. Der Junge
strahlt nicht mehr. Und als der Ast mit falschem Zorn den Hundekörper trifft, ertönt ein Jauchzen aus
zwei Kehlen. Zwei Kehlen. Zwei Schreie mischen sich zu einem. Mit weit aufgerissenen Augen sieht der
Junge seinen Freund am Boden. Sekundenschnelle. Er hält sich die Ohren zu. Der Hund wimmert. Und
als der Vater brüllt: „Du bedrohst meinen Sohn nie mehr!“, und den Jungen nach seinem Befinden
fragt, bleiben Worte und Töne in dessen Kehle stecken. Mit weit aufgerissenen Augen und sprachlos,
wortlos, weicht der Schreck einer tiefen Schuld. Und einer tiefen Traurigkeit. Der Vater holt noch
einmal aus und schlägt zu. Noch einmal auf den Hund, der bereits am Boden liegt: „Das war erst der
Anfang!“, droht er. Er dreht sich um und verlässt den Schauplatz. Junge und Hund liegen am Boden.
Die Augen weit geöffnet. Die Blätter fallen von den Bäumen. Waren sie nicht einmal bunt?

Er steht inmitten der Blätter, der kahl werdenden Herbstlandschaft. Die Sonne senkt sich. Die Kälte
macht sich langsam breit. Was schon lang in ihm gegoren, scheint sich auf die Natur zu übertragen,
als könnte sie seine Stimmung spiegeln. Die Kälte in ihm, die sich nach Wärme sehnt. Die Leere in
ihm, die sich nach Fülle sehnt. Die Sehnsucht in ihm, die sich nach Sehnsucht sehnt. Nach Hoffnung.
Nach Freude. Nach Sonne. Nach Nähe. Doch sein Herz fühlt nichts, nichts. Nur Traurigkeit. Bald schon
steht er im Dunkeln. Und er möchte gehen.

Seine kleinen Finger umschließen die Teetasse. Wärme für die eiskalten Hände. Dampf steigt aus der
Tasse empor. Alleine sitzt er in der Küche und starrt an die Wand. Sein Atem geht langsam und
schwer. Sein Herz schlägt schnell, unruhig, angespannt. Kleine Risse in den Wänden lassen in ihm den
Wunsch entstehen, ganz klein und ganz schmal zu werden. So klein und so schmal, dass er sich in
einen der Risse pressen kann. Fest umschlungen vom leblosen Material könnte er zugleich der
Tarnung williger Schüler und dem Tode näher sein. Könnte verschwinden. Aus dem was ist. Aus dem
was kommt. Aus dem was bleiben wird. Und als der Schuss erklingt, zuckt er zusammen. Seine Hände
umklammern die Tasse fester, seine Augen starren benebelt auf die Risse in den Wänden.
Fluchtgedanken. Herzrasen. Ein paar Tränen lösen sich. Schwer und schnell atmend, mit
aufgerissenen Augen nimmt er die Hände von der Tasse. Sie zittern. In seinem Herzen explodiert ein
Schmerz, der sich in Sekundenschnelle über den gesamten Körper ausbreitet. Dann weicht dieser einer
tiefen und endlos schwarzen Leere. Die Traurigkeit umschließt ihn fest und kalt. Hält ihn, wiegt ihn,
tröstet ihn… Und flüstert: „Ab jetzt, bin ich Dein Freund“. Er ist gerade 9 Jahre alt.

Nicht weit von hier sein Lieblingsbaum. Ein Baum, der wohl zwei Wurzelpaare besitzt. Ist er dann ein
Baum oder zwei? ...Als er erfuhr, dass seine Liebste gestorben ist? Ein Unfall. Sekundenschnelle. Ein
Zusammenstoß und ein lauter Knall. ...Da hielt er sich die Ohren zu als wäre er dabei gewesen und
hätte den Aufprall gehört. Und fragte sich, ob er und sie eine oder zwei Personen waren. Und fragte
sich, wer von beiden tatsächlich gestorben war. Und fragte sich, warum. Und die Traurigkeit
umarmte ihn fester. Hielt ihn, wiegte ihn wie ein Baby, tröstete ihn und flüsterte: „Ab jetzt bin ich
Du.“ Er war gerade 28.
Jetzt, viele Jahre später, weiß er, dass er noch lebt. Weiß, dass sie starb und nicht er. Sehnt sich nach
anderen Gefühlen als der Traurigkeit, die ihn umschlingt und findet nichts als Traurigkeit. Mehr
davon, mehr. Besteht aus ihr. Ist sie. Atmet sie. Lebt sie. Und hat genug. Stapft durch die Dunkelheit
in die Arme des Todes, um etwas anderes sein zu können als die Traurigkeit.

Lachend greift sie seine Hand: „Schau doch, schau! So viele bunte Blätter!“ Ihre Hand ist so warm und
ihr Lachen so ausgelassen. Freudig. Total berauscht vom Augenblick, in dem nichts ist außer ihm und
ihr im Wechselspiel mit der Schönheit der Natur. Und der Augenblick. Es regnet. Er wäre lieber
drinnen geblieben. Trübes Wetter, nass und kalt. Es ist ihm schleierhaft wie sie dabei warme Hände
haben kann. Er schüttelt amüsiert mit dem Kopf, als er sie beobachtet, als sie – wie ein Kind vom Spiel
beglückt – nasse, frische Kastanien vom Boden aufklaubt. Strahlend reibt sie sie an ihrer ohnehin
schon feuchten Hose trocken und steckt sie in ihre Jackentasche. Jedes Jahr sammelt sie Kastanien
und verteilt sie im ganzen Haus. Deko nennt sie das. Deko. Er lächelt in sich hinein, während er sie
weiter beobachtet. Was daran wohl Deko ist? Unbeirrt sammelt sie bis ihre Taschen voll sind. Und als
sie damit fertig ist, steht sie auf, geht auf ihn zu, drückt ihm strahlend einen Kuss auf die Nasenspitze,
nimmt seine Hand und legt eine einzige Kastanie hinein. „Damit Du sagen kannst, Du hast mir
geholfen.“, sagt sie und zwinkert ihn an. Und als er sie noch gerührt und verdutzt betrachtet, dreht sie
sich schon wieder um und läuft voraus. Er bleibt stehen und schaut ihr nach. Nach einer Weile dreht
sie sich um und ruft beherzt und lächelnd: „Willst Du dort Wurzeln schlagen?“ Er spürt den Wind um
seinen Körper tanzen, streicht über die glatte, einfache Schönheit der Kastanie und fühlt ein kurzes
wiegen, ja, wirbeln der Gefühle in seinem Inneren, das weit weg, ja, unendlich weit entfernt liegt von
seinem Freund, der Traurigkeit. Langsam geht er auf sie zu.

Weit weg nun, steht sein Lieblingsbaum und weit entfernt auch alles andere Leben. Kein Baum. Nur
verdorrtes Gras und Weite. Kein Baum. Und als er die Tabletten aus der Jackentasche nimmt und
noch einen letzten Schritt tut, spürt er etwas unter seinen Füßen. Er zuckt zusammen. Der Wind
kommt in Bewegung, weht. Er setzt den Fuß ein Stück daneben und blickt hinab. Zu dunkel. Hebt auf,
was am Boden lag und streicht über die glatte, sehr einfache Schönheit des Gegenstands. Der Wind
tanzt um seinen Körper. Bei der Berührung der glatten Geschmeidigkeit des Dinges mit beiden
Daumen fallen die Tabletten zu Boden. Der Wind tanzt sanft um seinen Körper. So glatt. So weich.
Mit beiden Daumen. Eine Kastanie.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Corinna Thiers,

die Geschichte wirkt verwirrend. Zuerst geht es um einen Hund und einen Jungen und eine Szene, die tiefe Traurigkeit beim Protagonisten auslöst.

Dann geht es um den Tod seiner Liebsten, zuletzt um Suizid.

Vielleicht wäre es besser, du konzentrierst dich auf einen Ausschnitt zum Thema Traurigkeit.

Gruß DS
 



 
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