Ich, die Wespe

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Ich, die Wespe

Heute ist ein ungewöhnlich warmer Oktobertag. Der Gastwirt hat noch einmal Tische und Stühle auf die Terrasse gestellt.
An einem Ecktisch sitzen zwei Maulhelden und Kraftprotze vor gewaltigen Humpen. Sie qualmen wie die Schlote. Eine sehr unfreundliche Geste mir gegenüber. Mit Rauch kann man mich wild machen. Anflug von links, Anflug von rechts und schon hat einer seinen Stich weg. Wohin? In die Oberlippe natürlich. So trifft man ein Großmaul am besten. Ja fluch du nur! David ist stärker als Goliath.
Wenn die Angeber wenigstens etwas Schmackhaftes bestellt hätten!

Die Dame am Ende der Terrasse gefällt mir schon besser. Sie verspeist gerade einen leckeren Zwetschgenkuchen.
Nun seien Sie doch nicht so nervös, junge Frau. Nehmen Sie sich ein Beispiel an der Bedienung hinter der Kuchentheke. Die lässt sich durch meinesgleichen nicht aus der Ruhe bringen.
Herrje, ich tue Ihnen ja nichts. Gleich schwappt Ihr Kaffee über, und das wäre wirklich schade um Ihre hübsche schwarz-gelb gestreifte Bluse. Übrigens meine Lieblingsfarben.

Und nun hinüber zum Zyniker vom Lokalblättchen. Der Mensch ist mir irgendwie sympathisch; wir sind Seelenverwandte. Er verspritzt Gift in seiner Kolumne, ich mache das auf meine Weise. Eine Wespe tut der anderen nichts. Oder? Mal die Probe aufs Exempel machen.
Zynikus ist ein Kenner. Er hat eine Berliner Weiße mit Schuss bestellt. Auf den Schuss kommt es an: Himbeersüße, genau das Richtige. Ich krieche über den Rand des Glases und nippe. Er spielt lässig mit dem Strohhalm und betrachtet mich wohlwollend. Wir mögen uns halt.

Ach, grüß Gott, Frau Biene! Haben Sie sich verflogen? Denken Sie an Ihren empfindlichen Stachel. Seien Sie nicht todesmutig und überlassen Sie das Stechen in Menschenhäute besser mir.
Ich hätte jetzt gegen einen saftigen Bienenstich nichts einzuwenden.

Aber was sehe ich denn da: ein Tierquäler! Hat in seinem Limoglas eine meiner Schwestern mit einem Pappdeckel eingesperrt. Wenn ich ihr doch helfen könnte! Der Kerl soll es büßen. Er schlägt um sich und – batsch - zerspringt das Glas auf dem Boden. Guten Flug, Schwester und nichts für ungut, Herr Wirt! Die Scherben gehen auf meine Rechnung.

Ich will mich eben mal im Lokalinneren umsehen. Der Filius des Gastwirts erscheint, schaut mich böse an und verschwindet wieder. Vor mir auf dem Boden verkleckerter Himbeersirup. Verdammt, das Zeug klebt, meine Flügel hängen fest. Wenn der Bengel zurück kommt , braucht er nur noch drauf zu treten . Er kommt zurück – mit einer Schere! Er hat’s auf meine Taille abgesehen!!

Das nächste Mal komm ich als Adler auf die Welt. Da kann mir keiner. Oder?
 

multimind

Mitglied
köstlich

diesen Text finde ich einfach köstlich - einmal, weil er sehr viel Sinneseindrücke liefert, vor allem geschmackliche und zweimal, weil er wirklich Humor hat!
 
K

KaGeb

Gast
Einfach köstlich - vor allem die angedachte Wiedergeburt als Adler :)

LG
 



 
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