Im Schachspiel ist Wahrheit

Haselblatt

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Als Regent über die weißen Figuren, verschiebt er, das Kinn auf die Faust und den linken Unterarm auf die Stuhllehne gestützt, mit der Rechten die Dame von D3 nach B5.
»Schach«
Der Blick streift seinen Gegner mit einem triumphierenden Ausdruck von Überlegenheit.
»Sie scheinen heute ein wenig unkonzentriert zu sein, lieber Herr Kollege« setzt er fort, begleitet von einem unüberhörbaren Hauch von Arroganz im Tonfall seiner Stimme.
»Nach Ihrer Nimzo-Indischen Eröffnung zu schließen, hatten Sie eigentlich etwas anderes vor als das, was sich jetzt auf dem Brett abzeichnet.«
Ludger Kowalski, laut seiner Visitenkarte Chief Financial Officer mit Bachelor- und Master-Abschluss in einem bedeutenden mittelständischen Unternehmen der Metallbranche, lehnt sich entspannt und siegessicher in die Stuhllehne zurück.
»Wollen Sie meine Prognose hören? Matt in sieben Zügen.«
Sein Gegner bläst langsam und ganz leise die Atemluft durch die, zu einem O geformten Lippen. »Da bin ich aber gespannt, Herr Direktor.«
Obwohl dem beruflichen Rang nach als Prokurist der Firma mit Kowalski ebenbürtig, hält sich Ewald Raimann an eine ungeschriebene Regel: Sein Schachgegner ist Finanzdirektor und schätzt es sehr, als solcher angesprochen zu werden. Nicht zuletzt ist er der Abkömmling einer hoch angesehenen Familie aus dem Hamburger Geldadel, da passt ein klangvoller Titel durchaus zum Standard-Repertoir der bürgerlichen Anrede, auch im privaten Umfeld.
Beide, Kowalski und Raimann, sind erfolgsgewohnte Alpha-Typen, jeder auf seine eigene Art. Der erste, als Master of Science und Absolvent der Columbia University in Manhattan, verfügt zufolge seiner akademischen Laufbahn über das höhere Niveau an Bildung und Fachwissen. Ihm fehlt es allerdings an dem, was man auf einer amerikanischen Elite-Uni nicht lernen kann, nämlich Charakter, taktvolles Benehmen, Feingefühl und Herzenswärme. Demgemäß steht er im Ruf, ein skrupelloser und kaltschnäuziger Technokrat zu sein, dem für das Erreichen vorgegebener Ziele jedes Mittel recht ist.
Raimann ist hingegen eher der körperlich geformte Typ: gut eine Dekade jünger als Kowalski, mit athletischer Figur und schon während seiner Schulzeit als Leistungssportler sehr erfolgreich. Äußerlich eine Augenweide, insbesondere für weibliche Betrachter, daher als Junggeselle allseits begehrt, und er lässt - wie man so sagt - nichts anbrennen. Außerdem hat er von seiner Mutter, die in ihren besten Jahren als Jazzsängerin aufgetreten war, eine gewisse musische Begabung geerbt, die er ab und zu im privaten Rahmen auf dem Klavier zur Schau stellt. Er ist ein weichherziger und einfühlsamer Beobachter, laut Selbsteinschätzung 'nah am Wasser gebaut'. Einer, der sich verstohlen die Tränen aus den Augen wischt, wenn im Film oder Fernsehen ein Hund oder eine Katze stirbt. Kinder hingegen sind ihm lästig, deshalb achtet er beim Sex weniger auf Optik und Intelligenz, als vielmehr auf die Zuverlässigkeit der Empfängnisverhütung seiner Partnerinnen.

Diese beiden sehr unterschiedlichen Männer verbindet eine Leidenschaft: das Schachspiel, und daher treffen sie sich in unregelmäßigen Zeitabständen an freien Abenden in Kowalskis Penthouse, um die eine oder andere Partie gegen einander zu bestreiten, stets begleitet von einem (oder auch zwei) Glas Grand Marnier Quintessence Cuvée, von dem Eingeweihte wissen, dass man die Flasche nur in wenigen ausgesuchten Läden zu einem vierstelligen Eurobetrag käuflich erwerben kann.
»Ihre Prognose ist zwar bis zu einem gewissen Grad plausibel« setzt Raimann fort.
Tatsächlich ist die Partie auf der Seite von schwarz mit einem Springer plus zwei Bauern qualitätsmäßig etwas im Hintertreffen.
»Ich meine aber, dass Sie einen Fehler begehen, wenn Sie mein Potential unterschätzen. Meine Figuren sind von der Stellung her jedenfalls in der Lage, Ihren aktuellen Überhang auszugleichen. Wollen wir wetten?«
Den aktuellen Angriff auf seinen König wehrt er mit einer Ausweichbewegung nach F7 ab. Eine Phalanx aus zwei Bauern, den beiden Läufern und einem Springer bildet eine zumindest vorerst undurchdringliche, mehrfach gedeckte Verteidigungslinie im linken Mittelfeld.
Kowalski reibt mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand die Nasenflügel und nippt dann an seinem Cognacschwenker, bevor er sich wieder zurück in den Stuhl lehnt.
»Übrigens - eine ganz andere Sache: Sie scheinen ja in gutem Einvernehmen mit der IT-Abteilung zu stehen« wechselt Kowalski das Thema. »Ich meine sogar, dass Sie die Strohmayer aus der Nähe kennen, oder täusche ich mich?«
»Die Andrea? Ja, wir haben gelegentlich miteinander zu tun.« Raimann versucht, seine Unbeteiligtheit durch einen gelangweilten Ton zu unterstreichen.
Die Dame, von der hier die Rede ist, bekleidet die Funktion der Chef-Administratorin der Datenbank und des zugehörigen Servers und hält damit eine der taktischen Schlüsselpositionen des Unternehmens in ihren Händen. Sie wird von den meisten Kollegen des mittleren Managements geachtet, um nicht zu sagen: gefürchtet. Immerhin kennt sie sämtliche Prozesse, die in gleich welcher Form die IT berühren. Das bedeutet auch, dass ihr so gut wie alle Mängel, Fehler und Ungereimtheiten früher oder später ins Auge fallen.
Andrea Strohmayer hat zwar keinen Hochschulabschluss, ist aber hoch intelligent und sehr karrierebewusst. Sie wurde vor etwa acht Jahren als Assistentin in der Abteilung Qualitätsmanagement angeheuert und hat sich im Lauf der Jahre durch persönliche Weiterbildung, Fleiß und geschicktes Engagement bis zur Nummer zwei der IT-Abteilung hoch gearbeitet. Nicht zuletzt war dafür ihre äußere Erscheinung sehr hilfreich, und hinter vorgehaltener Hand wird gemunkelt, dass ihr beruflicher Aufstieg über einige Betten der oberen Etage geführt habe.
»Was verstehen Sie unter gelegentlich miteinander zu tun?« hakt Kowalski nach, während er gleichzeitig seinen rechten Turm von H1 nach F1 bewegt. »Unter uns gesagt glaube ich, dass Sie mit ihr zusammen sind. Ich habe Sie beide vor ein paar Tagen aus dem Restaurant Goldener Löwe kommen sehen. Arm in Arm, das wirkte auf mich sehr vertraut.«
Raimann presst seine Lippen zusammen wie ein Frosch, senkt den Kopf ein wenig nach vorn und blickt seinem Gegner von unten mit einem ätzenden Lächeln gerade ins Gesicht.
»Sie sind aber vielleicht neugierig!«
»Ach was, verstehen Sie mich nicht falsch. Das hat mit Neugier nichts zu tun, schließlich geht mich Ihr Privatleben einen Dreck an. Aber ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass die Strohmayerin seit zwei Monaten mit unserem Bigboss verbandelt ist. Es wäre dann schon ziemlich pikant, wenn sie zweigleisig unterwegs ist, finden Sie nicht? Altersmäßig passt sie ja definitiv besser zu Ihnen als zum DeVries.« - Der Letztgenannte ist der Grand Seigneur und CEO der Firma. Knapp sechzig Jahre alt und seit vier Jahren Witwer, nachdem seine Frau bei einem Sportunfall ums Leben gekommen war.
Raimann bewegt seinen verbliebenen Springer auf D6, mit diesem Zug die weiße Dame angreifend. »Schauen Sie, das ist ein wenig kompliziert. Ehrlich gesagt: ich weiß es nicht.«
»Kompliziert? Wieso, Sie wissen nicht, ob Sie mit ihr jetzt zusammen sind oder nicht?«
»Nein, ich weiß es nicht, oder zumindest bin ich nicht sicher. Wir schlafen miteinander, ja. Aber ich glaube nicht, dass die Andrea in mich verliebt ist. Und umgekehrt bin ich es genauso wenig. Warum interessiert Sie das überhaupt?«
»Sie wissen ja, Herr Kollege, ich bin grundsätzlich die personifizierte Diskretion, allein schon in Hinblick auf meine berufliche Ethik. Aber halten Sie es nicht für möglich, dass Ihre Karriere Schaden nehmen könnte, wenn dem Bigboss etwas über Ihre Affäre mit der Strohmayerin zu Ohren kommt?« - Zugleich zieht er die Dame ein Feld zurück auf B4.
Raimann ist der Hintergrund von Kowalskis Vorstoß durchaus bewusst, dennoch überrascht ihn die klebrige Schmierigkeit, mit der er sein Anliegen vorbringt. »Verstehe ich Sie richtig: Wäre Ihre Diskretion an eine Gegenleistung von meiner Seite gebunden?«
»Nein, Herr Raiman, so direkt will ich das nicht verstanden wissen. Jedenfalls denke ich nicht an eine Gegenleistung in materieller Form.«
»Sondern?«
»Mir ist an bestimmten Informationen gelegen. An sehr speziellen Informationen, um genau zu sein.«
»Schön und gut.« Raimann runzelt die Stirn, während er einen Bauern von B6 nach B5 schiebt. »Und was könnte ich zu diesem geheimnisvollen Informationsfluss beitragen?« Jetzt genehmigt sich auch er einen kleinen Schluck vom sündteuren Cognac.
»Nun ja«, Kowalski lächelt süßlich, »wenn ich mir Sie und die Strohmayerin zusammen im Bett vorstelle, dann kann ich mir ebenso gut zusammenreimen, dass nach dem zärtlich-wilden Bettgeflüster auch über profane Dinge geflüstert wird. Und wenn Sie jetzt eins und eins zusammen zählen, dann dürften Sie erahnen, mit welchen Infos Sie Ihr Gewissen mir, beziehungsweise dem CEO gegenüber, erleichtern können.«
»Nein, sorry, kann ich nicht.« Raimann gibt sich redlich Mühe abzublocken, genau wissend, aus welcher Richtung der Wind bläst. Er hatte nämlich schon vor einem Monat über ein paar beiläufige Bemerkungen seiner Bettgenossin aufgeschnappt, dass es im Rechnungswesen der Firma mehrmals zu dubiosen Transaktionen gekommen war. Damals hatte er all das aber eher als böswilliges Gerücht betrachtet und Andreas Andeutungen keine weitere Beachtung geschenkt.
Wenige Tage später - Kowalski war zu dieser Zeit auf Urlaub - hatte ihn ein Mitarbeiter aus der Buchhaltung auf eine Transaktion angesprochen, die definitiv nicht in das Schema des üblichen Zahlungsverkehrs zu passen schien. Der entsprechende Beleg betraf ein Vermittlungshonorar, ausgestellt von einer gewissen Interconnect Bank BV auf Barbados mit einem Rechnugsbetrag von 87.600 Euro. Als Zahlungsempfänger fungierte jedoch eine Bank mit Sitz in Zypern.
Raimann vermutete sofort, dass mit diesem Beleg etwas nicht stimmen konnte. Um aber nicht schlafende Hunde zu wecken, beauftragte er die Buchhaltung mit dem Zurückhalten des Belegs unter dem Vorbehalt der späteren Prüfung und Freigabe durch den Finanzdirektor.
Jetzt aber, angestoßen durch Kowalskis geheimnisvolles Bedürfnis nach Information, nimmt Raimanns damaliger Verdacht auf eine Unregelmäßigkeit sehr konkrete Formen an. Erst einmal versucht er, sich mit Abwiegelung aus der Affäre zu ziehen:
»Wie ich schon sagte: die Andrea und ich sind nicht sehr eng liiert. Das Ganze ist vielmehr eine reine Bettgeschichte. Wir wollen die kurze Zeit, die wir zusammen verbringen, nicht mit Gelaber über die Arbeit oder die Firma vergeuden. Ich kann auch beim besten Willen nicht erkennen, mit welchen Indiskretionen ich dienen könnte.« Sein Gegner lässt aber nicht locker:
»Sie könnten mit ein paar unauffälligen Recherchen versuchen heraus zu finden, ob die Strohmayerin direkten Zugriff auf die Kontierungen der ausländischen Töchter des Unternehmens hat. Ich meine nur die Möglichkeit des Zugriffs an sich, aber nicht - oder noch nicht - auf innere Details. Ich persönlich habe leider, wie für Sie ja leicht nachvollziehbar sein muß, keine Handhabe dazu, weil die Strohmayerin mir nicht untersteht.«
Raimanns Tonfall wird deutlich ablehnend. »Wie stellen Sie sich das denn vor? Die Andrea ist doch nicht dumm. Sie würde sofort spannen, dass ich versuche, an sensible Daten zu gelangen, und ich bin ganz sicher, dass sie da keinesfalls mitspielen würde!«
»Nein, nein, bloß nicht! Sie sehen das ganz falsch. Sie sollen ja nicht selbst an diese Daten heran gehen, sondern nur klären, ob sie, die Strohmayerin, die Möglichkeit des Zugriffs hat, oder genauer: ob sie von dieser Möglichkeit schon Gebrauch gemacht hat. Es ist nämlich so: Diese Dateien unterliegen einem streng privilegierten Zugang und sind nur über spezielle Berechtigungen abrufbar. Vergangene Woche ist einmal mein Computer sang- und klanglos abgestürzt, einfach so und ohne erkennbare Ursache. Um dieser auf den Grund zu gehen, habe ich die Logdateien des Datenbankservers durchgecheckt und dabei zufällig heraus gefunden, dass die Schlüsselfelder der Kontierungsdateien ein paar Tage vorher von einer Konsole im Technikraum aus abgefragt wurden. Das kann nur bedeuten, dass eine Person, die Zugang zu diesem Raum hat, die Schlüsseldaten möglicherweise unberechtigt geöffnet und verwendet hat. Wer dahinter steckt, lässt sich nicht mehr feststellen, weil diese Konsole während der Dienstzeit permanent eingeloggt bleibt.«
Raimann beginnt nachzudenken. Wenn das, was Kowalski eben gesagt hat, stimmen sollte, dann könnte es tatsächlich sein, dass er, Kowalski, Andreas Schnüffelei in der Datenbank bemerkt und sie ins Visier genommen hat. Um sie aus der Schusslinie zu nehmen, setzt er weiter auf Verharmlosung:
»Herr Direktor, das ist doch alles unverhältnismäßig weit hergeholt. Soweit mir bekannt ist, werden die Schlüsseldaten regelmäßig einem Prüfsummencheck unterzogen, um allfällige Hackerangriffe rechtzeitig aufzuspüren. Das bedeutet, dass jeder von der IT das gewesen sein könnte.«
»Nein« kontert Kowalski, »ich habe mich diesbezüglich schon schlau gemacht: Der Prüfsummencheck darf und kann nur von vier Personen im ganzen Unternehmen durchgeführt werden: vom IT-Chef Axel Jarkow, von Ihrer Andrea, von Berndt Eberhofer, dem Softwareheini aus der Security und von Dr. Reithofer von unserem IT-Consulter.«
»Na also« versucht Raimann zu beruhigen, »dann ist Frau Strohmayer jedenfalls nicht allein verdächtig. Außerdem: das ist nicht meine Andrea. Wir sind einfach nur gute Freunde.«
»Ja ja, sollte aber richtig heißen: 'gute Freunde Plus'. Warum versuchen Sie eigentlich, die Dame in Schutz zu nehmen? Gut, Sie gehen mit ihr ins Bett, das kann ich ja verstehen. Aber wäre das nicht ein möglicher Angriffspunkt, um Ihre Gespielin ein wenig auszuhorchen? Ich würde mich dafür jedenfalls erkenntlich zeigen. Denken Sie nur daran, wie peinlich es für Sie wäre, wenn DeVries von Ihrer Affäre Wind bekommt.«
Beide schweigen. Raimann ist inzwischen klar, dass Kowalski ihn ganz unverblümt zu erpressen versucht. Zur Ablenkung zieht er seinen schwarzen Läufer von E5 auf D6.
»Ich denke darüber nach. Und jetzt wieder zurück zu unserer Partie. Sie haben mir doch Matt in sieben Zügen prophezeit, da bleiben nur noch vier. Also los, machen Sie weiter.«
»Herr Kollege, versuchen Sie nicht abzulenken. Mir liegt viel daran, diese Information zu bekommen, und last but not least ist das auch in Ihrem Interesse, nicht wahr?«

Eigentlich wäre es Raimann lieber gewesen, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Es läuft doch alles bestens im Job und mit Andrea, abgesehen davon, dass Kowalski von der Affäre weiß und mit diesem Wissen sein eigenes Süppchen kochen will. Die beiden haben Spaß miteinander, nicht mehr, nicht weniger. Sympathie - ja, Liebe - nein. Keine Beziehungskiste, kein Familiendrama, keine Kinder, kein gemeinsames Hausbauen und Bäume pflanzen. Das Leben ist so unkompliziert, wenn man es einfach nimmt, wie es kommt und die kleinen Freuden genießt, wenn sie sich anbieten, ohne Zwang und ohne Anstrengung. Dass Andrea mit dem Bigboss eine Liaison unterhält, ist ihr gutes Recht. Der Mann ist für sie zwar um einiges zu alt, aber was soll's? Viele brave Mädels lassen sich von einem Sugar Daddy verwöhnen, daran ist überhaupt nichts Verwerfliches. DeVries wäre gewiss eine gute Partie, die Raimann seiner Andrea auch durchaus gönnt, mit oder auch ohne 'Freundschaft Plus' von seiner Seite aus.
Auf der anderen Seite enthält die Sache doch auch ein gewises Risiko. Raimann kennt den Bigboss als korrekten Chef und Manager, über sein Privatleben weiß er aber so gut wie gar nichts. Jedenfalls wäre denkbar, dass der Chef gegenüber Andrea intensivere Gefühle entwickelt und mit ihr eine Zukunft plant, die über die Bettkante hinaus reicht. In so einem Fall würde es gar nicht gut ankommen, wenn er mit Andreas Affäre konfrontiert wird. Abgesehen davon, dass ein zurecht eifersüchtiger Vorgesetzter eine grässliche Belastung für das Arbeitsklima erzeugt, würde Raimanns gesellschaftliches Renommée arg in Mitleidenschaft gezogen. Gar nicht so sehr wegen der Affaire an sich, wohl aber durch den Umstand, dass er sich dabei habe erwischen lassen. So gesehen erzeugt die Penetranz des Finanzdirektors für Raimann einen unmittelbaren Handlungsbedarf - und zwar gleich hier und jetzt.
»Herr Direktor, Sie sind am Zug!«
»Ja ja, ich weiß. Ihr letzter Zug mit dem Läufer ist übrigens sehr stark, Kompliment. Geben Sie mir noch einen Augenblick zum Nachdenken.«
Die Nachdenkpause ist nur ein Ablenkungsmanöver. Kowalski reibt sich gedanklich schon die Hände, scheint es doch so zu sein, dass sein Vorstoß bei Raimann eine entgegenkommende Reaktion ausgelöst hat. Von Erpressung würde er, Kowalski, keinesfalls sprechen. Was für ein hässlicher Ausdruck! Eher von verdeckter Motivationshilfe. Genau genommen handelt es sich dabei um einen sauberen Deal: Wissen auf der einen Seite wird mit Nicht-Wissen-Wollen auf der anderen Seite abgegolten - ein ganz normales Geschäft also. Vor allem ein Geschäft, das keine Spuren hinterlassen würde, anders als dubiose Geldflüsse über dubiose Konten von dubiosen Personen.
Zugleich war sich Kowalski des Umstands bewusst, dass eine undichte Stelle in der IT für ihn dramatische Folgen haben würde. Immerhin war die Sache mit der Interconnect Bank nur die Spitze des Eisbergs. Eine Kollision mit diesem würde das Ende von Kowalskis glänzender Karriere bedeuten, gefolgt von alles zerstörenden strafrechtlichen Konsequenzen. Selbst der beste Anwalt könnte ihm da nicht mehr helfen, das war sonnenklar.
Falls die Strohmayerin tatsächlich über einen, oder gar alle Vorgänge Bescheid wüsste, dann musste sie neutralisiert werden, auf die eine oder die andere Art, je nachdem. Die eine - ja, die würde eine schöne Stange seines guten Geldes kosten. Die andere - nein, daran wollte er vorerst gar nicht denken. Seinerzeit, als er noch ins Gymnasium ging, war er im Philosophischen Einführungsunterricht auf ein bedeutungsschweres Zitat gestoßen. An genau dieses Zitat wird er jetzt erinnert, wenn er das Szenario bis ans bittere Ende denkt:
Es ist der Fluch der bösen Tat, dass sie zwingend weitere böse Taten nach sich zieht.

Jedenfalls muß zuerst einmal Klarheit geschaffen werden, Klarheit über das Lagebild in den feindlichen Reihen. Und sein Kollege Ewald Raimann würde dafür das perfekte Werkzeug abgeben. Als Schachspieler ist er ein Gegner mit beschränktem Portfolio, um das in Kowalskis Jargon auszudrücken. Bisher hat er nur etwa drei von zehn Partien gewonnen. Das ist keine besonders üppige Leistung, aber es genügt, um ihn bei Laune zu halten. Denn wenn einer dauernd verliert, dann verliert er auch die Lust am Spiel, das ist traurig aber wahr.

»Gut, ich bin soweit. Mein Zug lautet: Bauer E4 nach E5.« Kowalski verschiebt die Figur wie angekündigt. Raimann scheint zu überlegen. Dann aber fragt er plötzlich und völlig ohne Zusammenhang mit der Schachpartie:
»Herr Direktor, was sagt Ihnen der Begriff Interconnect Bank BV ?«
»Interconnect? keine Ahnung. Wer oder was soll das sein?« Kowalski wischt sich nervös über die Stirn. »Nie davon gehört. Helfen Sie mir auf die Sprünge?«
Raimann schiebt seinen König von F7 nach F6. »Ja, Herr Direktor, ich helfe Ihnen gern auf die Sprünge.« Dabei lächelt er zwiespältig.
»Die Interconnect Bank ist eine Offshore Bank auf Barbados. Über dieses Institut haben ursprünglich hauptsächlich US-amerikanische Geschäftsleute schmutzige Gelder gewaschen, indem sie so genannte Wash-out und Circle-trades über fingierte Firmen in Russland und Zypern abwickelten. Mit der Zeit hat sich dieses erfolgreiche Geschäftsmodell auch bis Europa herum gesprochen. Schätzungen von Interpol gehen von einem Kapitalvolumen von mehreren hundert Milliarden Euro aus, die auf diese Weise weltweit bewegt wurden.«
»Tatsächlich?« Kowalskis Ausdruck von Überraschung klingt beinahe echt. »Woher wissen Sie das?« Gleichzeitig zieht er die weiße Dame zurück auf B2.
»Es gibt einen sehr aufschlussreichen Internetblog von Elias Opperman, einem Journalisten der New York Financial Tribune. Übrigens - Ihre Frage überrascht mich ein wenig, denn wie aus dem, von Ihnen zuvor erwähnten Serverlogbuch hervor geht, haben Sie diesen Blog vor mehr als einem halben Jahr mehrmals besucht.«
»Haben Sie das von Ihrer Andrea?«
»Nein, sie weiß gar nichts darüber. Sie hat mir zwar über seltsame, weil aus dem Reglement fallende Transaktionen berichtet, aber da sie vom Finanzwesen nicht einmal die leiseste Ahnung hat, glaubt sie, dass unsere Auslandstöchter in USA und Australien damit zu tun haben. Ich habe sie natürlich in ihrer Annahme bestärkt und kann Sie deshalb beruhigen: von Frau Strohmayer droht Ihnen keinerlei Gefahr.«
Raimann verschiebt seinen König von F6 nach F5 und steht damit in Opposition zum weißen König auf H5.
»Wieso sollte mir überhaupt Gefahr drohen, egal von welcher Seite? Ich habe damit nicht das geringste am Hut!« Kowalski bemüht sich sichtlich, die Ruhe zu bewahren und setzt den Springer von F2 nach C3.
»Aber Herr Direktor, das glauben Sie doch selbst nicht. Eines der Konten, auf das über die Interconnect Bank Geld geflossen ist, gehört einer Briefkastenfirma auf Zypern. Sie heißt Skyline Research und wird von einem zypriotischen Anwalt namens Alfon Casalta verwaltet. Diese beiden Namen müssten Sie aber doch kennen, oder?«
»Nein! Was unterstellen Sie mir da. Wie kommen Sie darauf?« Kowalski beginnt die Contenance zu verlieren.
»Ich unterstelle Ihnen nicht mehr und nicht weniger, als dass Sie der wahre Eigentümer der Konten von Skyline Research sind. Ich kann das beweisen. Mir scheint, dass Sie sich absolut sicher fühlten, und dabei wurden Sie unvorsichtig. Sie dürften übersehen haben, dass am vorigen Donnerstag um genau elf Uhr ein Terminkontrakt fällig wurde, den Sie unbedingt bedienen mussten, sonst hätten Sie einen katastrophalen Verlust erlitten. Aus diesem Grund haben Sie das Konto mit der Nummer 20812003 bei der Synora Bank in Zypern über Ihren Firmencomputer geöffnet. Auch das lässt sich im Serverlogbuch genau nachverfolgen. Über dasselbe Konto haben Sie seit mehreren Monaten die Vermittlungsprovisionen, die eigentlich unserer Firma zustehen, auf Ihr privates Konto abgezweigt. Das ist eindeutig Unterschlagung und wird mit Sicherheit den Staatsanwalt interessieren.«
Kowalski ist sprachlos. Seine Augen bewegen sich unruhig vom Schachbrett zu einer Kommode am anderen Ende des Zimmers und wieder zurück, nochmals hin und wieder zurück, und das Ganze noch ein drittes Mal.
Raiman hebt den Kopf und blickt Kowalski schnurgerade ins Gesicht. »Übrigens - das ist jetzt mein Zug Nummer sechs.« Er schiebt den Turm von E3 auf die H-Linie. »Schach Matt!«
Es vergehen gut zehn Sekunden, ehe Kowalski sich erhebt und Raimann ganz ruhig und beinahe freundschaftlich die Hand reicht.
»Danke Herr Kollege, heute waren Sie eindeutig besser als ich.«
Dann geht er zur Wohnzimmercouch, nimmt einen der darauf liegenden Pölster, geht danach weiter zur Kommode am anderen Ende des Zimmers und öffnet die oberste Lade.
»Ich habe hier noch eine Belohnung für Sie, als Anerkennung für Ihre zwar nicht fehlerfreie, aber dennoch fulminante Partie.«
Raimann vernimmt noch das metallische Geräusch, das eine neun Millimeter Glock beim Zurückziehen des Verschlusses von sich gibt. Aus den Augenwinkeln kann er noch erkennen, wie Kowalski den Polster über die, auf ihn gerichtete Mündung der Pistole stülpt.

Es ist der Fluch der bösen Tat, dass sie zwingend weitere böse Taten nach sich zieht.
 



 
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