Im wilden Westen, Kapitel 8

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pol shebbel

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Im ersten Moment dachte Bernie Bender gar nichts. Im zweiten auch nichts. Und im dritten dachte er: Das ist das Ende! Das ist das Ende!! Das dachte er nun einige Momente lang; dann wieder einen Moment lang nichts.
Das muss das Ende sein! dachte er dann, in leichter Variation. Das geht doch gar nicht, das ist doch nicht möglich, dass bei einem solchen Sturz der Anzug unbeschädigt bleibt. Bestimmt ist der Atemschlauch eingeklemmt oder gerissen. Das ist das Ende!
Es passierte nichts. Doch: es passierte etwas: Bernie fühlte plötzlich einen brennenden Schmerz am linken Knie. Und da merkte er, dass er noch lebte.
Was, ich lebe noch?! Verwirrt riss er die Augen auf. Er sah nichts. Vor Schreck machte er eine heftige Bewegung - und der Helm dröhnte ihm in die Ohren, als er irgendwo anstiess. Aha, hören konnte er also noch. Das gibts doch nicht - ich lebe noch...
Er machte die Augen zu und wieder auf. Er sah immer noch nichts. Merkur noch mal, war er blind geworden?
Er bewegte sich, suchte seine Hände unter seinem Körper hervor, betastete seinen Helm. Urplötzlich sah er einen Lichtschimmer. Ach so! Seine Augen waren völlig in Ordnung, aber die Glasscheibe seines Helms war mit einer dicken Schicht gelblichen Staubs bedeckt. Also so was! Ungeschickt begann er, mit den dicken Raumhandschuhen an der Scheibe zu kratzen.
Ein Kratzer hier, ein Kratzer da - auf der Scheibe entstand ein Linienmuster. Kaum war ein Stückchen frei, verschmierte sich alles, und Bernie sah nur noch gelbe, graue und ockere Flecken. Er schimpfte vor sich hin, während er weiterrieb, bis er nach und nach, mit zugekniffenen Augen, die verschmierte Welt draussen erkennen konnte. Das heisst, zuerst untersuchte er nicht die Welt, sondern sich selbst - und da fand er, dass nicht nur seine Glasscheibe, sondern sein ganzer Raumanzug mit dem gelben, mehligen Staub paniert war; und dieser Staub war klebrig und wollte durchaus nicht abgehen, wie Bernie nach kurzem Reiben verärgert feststellte. Das ist gefährlich. Der Staub könnte irgendwas verstopfen oder blockieren. Beweg dich vorsichtig.
Das Knie schmerzt. Fühlt sich eiskalt an. Ist doch wohl kein Riss? Nein, sieht nicht so aus - wenns einer wäre, würd ich auch kaum noch am Leben sein... Aber die Isolation ist zur Hälfte abgschabt. Verdammt, das gibt Erfrierungen.
Rechts von ihm blinkte etwas. Erst jetzt richtete er sein Augenmerk wieder auf die Umgebung. Was war das? Ein länglicher, blinkender Gegenstand - durch die gelben Staubschlieren nur undeutlich zu sehen. Bernie kroch näher an das Ding heran, bis er es genau vor der Nase hatte.
Das Messer!
Ein siedender Blitz fuhr ihm durchs Gehirn, und die gesamte Erinnerung brach auf einmal wieder hervor, all das, was er vorhin so mühsam verdrängt hatte: da lagen sie genau vor ihm, die beiden Raumfahrer, die sich selbst umgebracht hatten - wie hatte es ihn schon aus der Ferne umgeworfen, und jetzt sah er sich völlig unvorbereitet ihnen direkt gegenüber! Zum Greifen nah - er brauchte bloss die Hand auszustrecken, das Messer zu nehmen und... es ihnen gleichtun... Ja, sprich es nur aus, sprich es nur aus! Wie hypnotisiert sass er da, unfähig, sich zu bewegen, oder vielmehr instinktiv wissend, dass er, wenn er sich bewegte, nur noch eine Bewegung - seine letzte - machen würde...
Die Zeit stand still. Eine Ewigkeit - oder war es nur ein einziger unendlicher Augenblick? - lautlosen, unsichtbaren Ringens.
Und dann änderte sich alles.
Irgendwann nämlich geschah es, dass sein Blick auf das Gesicht des einen der beiden Toten fiel, dessen, der das Messer in der Hand hatte. Das heisst, die Bezeichnung "Gesicht" war nicht mehr ganz angebracht - es war nicht mehr viel Menschliches darin, eine verzerrte Fratze, im Augenblick des Schmerzes erstarrt. Dieses Bild senkte sich Bernie in die Seele, brannte sich ein, füllte das ganze Hirn, bis auch dieses schmerzte; und all die anderen dort herumlungernden Gedanken, der ganze faule Gehirnbrei von zwei Monaten, schmolzen, verglühten, lösten sich auf. Die Glasscheibe seines Helms beschlug sich wieder, aber er merkte es nicht. Kristallklar war sein Kopf plötzlich, und kristallklar stand ihm vor Augen: er war ein Idiot. Ein verdammter, lächerlicher Idiot! Er hatte sich eingebildet, es ginge ihm schlecht? Die gesamten Schmerzen, die Bernie in den vergangenen zwei Monaten empfunden hatten, waren nichts im Vergleich zu dem, was jenes Bild dort in einem Augenblick ausstrahlte. Lächerlich war er gewesen - es konnte dafür kein anderes Wort geben als lächerlich...
Er betrachtete das Messer. Der Anblick machte ihm überhaupt nichts mehr aus. Er löste es vorsichtig aus den steifen Handschuhfingern des Toten, liess es von einer Hand in die andere gleiten. Was für eine Tat... Und - Galaxis, eben war er selbst noch drauf und dran gewesen...
Sein Blick fiel wieder auf das, was einmal ein junges Gesicht gewesen sein musste, jung wie Bernie selber. Der Tote, realisierte er dabei plötzlich, war gar kein er, es war eine sie, ein junges Mädchen. Eine blonde Haarsträhne hing über die Stirn, ansonsten schien das Haar kurz geschnitten. Blut oder Verletzungen waren nicht zu sehen - und Bernie war nicht scharf darauf, danach zu suchen; er wusste nur zu gut, was mit dem menschlichen Körper beim Abfallen des Luftdrucks passierte...
Diese gequälten Gesichtszüge! Kein Frieden war in diesem Gesicht. Noch im Tode gequält - und ich weiss, von wem. Verdammt, ich weiss, von wem! Und ich werde sie dafür zahlen lassen, jawohl, das werde ich, jedem einzelnen von diesen Chefs werde ich es heimzahlen... Belt Colony Enterprises, Scheissfirma! Mörder! Scheissfirma...
Bei diesem Gedanken runzelte er die Stirn. Das gehörte zu einer anderen Welt - zum faulen Gehirnbrei. Liess einen denn das nie in Ruhe...
Plötzlich fühlte sich Bernie Bender ungeheuer müde. Ihm war, als hätte er zwei Monate nicht geschlafen. Oh, könnte ich ins Bett, dachte er, in ein richtiges weiches Bett...
Aber daraus wurde nichts. Kaum hatte er es sich im Bett bequem gemacht, wurde er an der Schulter gerüttelt. "Bender! Bender! Bernard! He! Verdammt, so sag doch was! Lebst du noch?"
Das war die dämliche tonlose Übersetzerstimme. Und das war Charles Dupond, dieser asoziale Blödmann. "Natürlich leb ich noch", brummte Bender, während er sich langsam aufrappelte. Wo war denn bloss das Bett hingekommen? Eben hatte er sich gerade hineinlegen wollen...
"He, du bist ja ganz voll Staub!" Die Übersetzerstimme wollte ihn nicht in Ruhe lassen.
"Das seh ich selbst!" versetzte Bender verstimmt, sich immer noch nach einem Bett umsehend. Doch er sah nur noch die grauen Felsen von Juno um sich herum.
"Was ist los mit dir?! So schau doch endlich!" Mars und Merkur, dieser Dupond war lästig! Unwillig drehte Bender den Kopf . Was zappelte der da in seinem Raumanzug herum - und warum deutete er ständig mit dem Arm den Steilhang hoch? Hmm, dort stand ein Raupenfahrzeug, na und? He, Moment mal: es stand?!
"Wir habens geschafft!" rief Dupond (jedenfalls stellte sich Bender vor, dass er es rief; die Übersetzerstimme klang natürlich immer gleich). "Hättest du das gedacht?"
"Na, das ist ja toll", erwiderte Bender trocken, während er sich langsam umsah. Er suchte das Gesicht des jungen Mädchens - aber das Gefühl, das er vorhin gehabt hatte, kam nicht wieder; es schien schon weit weg und entfernte sich immer schneller.
Währenddessen quasselte Dupond ohne Pause weiter. "Weisst du, vorhin, als ich voll aufs Gas drückte, plötzlich ein" (Knacken) "Ruck, und ich schiesse vorwärts wie ein" (Knacken) ". Ich denke, verdammt, jetzt ist das Seil gerissen. Ich stehe" (Knacken) "auf die Bremse. Sobald die Karre steht, ich raus wie ein " (Knacken) ", ich denke, hoffentlich habe ich nicht Bender überfahren, der stand ja genau" (Knacken) ", das wäre..."
"Würdest du", unterbrach ihn Bender unwirsch, "etwas langsamer reden? Mein Übersetzer meldet nur noch die Hälfte."
Das verschlug dem anderen für kurze Zeit die Sprache. "Ey, was für'n Idiot ist das denn - erst will er sich umbringen, dann will er liegenbleiben... Los, kommm schon, verdammt!" Er wandte sich um und setzte sich in Richtung Steilhang in Bewegung. Bender, der in Wirklichkeit natürlich mindestens so aufgeregt war, rappelte sich hastig auf und folgte ihm, wobei er versuchte, sein schmerzendes Knie zu verbergen.
Sie gingen langsam auf die Raupe zu. Das Gefährt schien tatsächlich völlig in Ordnung zu sein - bis auf die Antenne. Deren diverse Teile waren schon vorher deutlich verbogen gewesen, und jetzt war auch der Sockel stark zur Seite gebogen und am unteren Ende halb abgebrochen. "Jetzt können wir die Zentrale wieder nicht anrufen..." murmelte Bender unwillkürlich.
"Und was jetzt?" fragte Dupond.
Bender sah ihn durchbohrend an. "Also weisst du", fauchte er, "seit einer halben Stunde stellst du andauernd die blödesten Fragen! Wir machen, was die Chefs uns gesagt haben! Gesteinsproben und Aufzeichnungen retten - und..." Er brach ab. Plötzlich war ihm klargeworden, worauf Dupond hinauswollte.
"Genau!" fiel Dupond sofort ein. "Gesteinsproben und Aufzeichnungen retten, klar. Aber dann? Brantner hat gesagt: Auftrag weiterführen..."
"Hmm..." Bender biss sich auf die Lippe. Die Lage war gefährlich, denn es drohte eine Diskussion auszubrechen, und bei der würden ihn unweigerlich die eisigen Klauen wieder packen... Und die Frage war verzwickter, als sie auf den ersten Blick aussah: der letzte Befehl, den sie erhalten hatten, hiess tatsächlich "Auftrag weiterführen" - und sie wussten beide, dass es äusserst ratsam war, Befehle der Chefs um fast jeden Preis zu befolgen; das war eine der ersten Lektionen, die sie auf Juno hatten lernen müssen. Und die Vorstellung, noch ein wenig länger hier draussen und somit weit weg von den Chefs zu sein, war auf eine Weise keineswegs unangenehm... Andererseits schien es ein Gebot der puren Vernunft zu sein, jetzt möglichst schnell zur Station zurückzukehren: sie hatten kein unbeschädigtes Fahrzeug mehr, die nächste Panne würde unweigerlich kommen - und es war nicht sehr wahrscheinlich, dass sie dann noch einmal so viel Glück haben würden wie vorhin... "Hmm... Vielleicht... vielleicht sollten wir umkehren", brummte Bender schliesslich. "Gibt ja sowieso keine Bodenschätze hier..."
"Na, das wär nun aber kein Grund..." Jetzt schaute Dupond durchbohrend. "Fängst du wieder damit an? Das wäre im Gegenteil ein Grund, erst recht weiterzumachen! Denn die Kerle von Belt Colony wollen Bodenschätze, wie du weisst. Sie werden uns wieder ausschicken, uns und noch andere dazu, immer wieder, solange wir nichts finden. Wieviele Pannen oder Tote das kostet, ist denen bekanntlich weniger wichtig..."
Was heisst da weniger - gar nicht wichtig ist es ihnen! Ein Toter mehr oder weniger, scheissegal ist es ihnen!" Verfluchte Scheisse, Dupond hatte recht. "Also bist du dafür, weiterzumachen?"
"Das habe ich nicht gesagt..." Dupond schüttelte den Kopf. "Wir haben keinen Kontakt zur Station, sie denken wahrscheinlich, wir sind auch ausgefallen, vielleicht haben sie schon eine neue Gruppe ausgeschickt, um uns zu suchen... Ich denke, wir sollten diese Unsicherheit möglichst schnell beenden..."
Bender schwieg eine Weile. Ja, das stimmte - es durfte nicht sein, dass andere Leute sich wegen ihm in Gefahr begaben, völlig unnötigerweise dazu... "Du hast recht", sagte er schliesslich, "OK, gehen wir. Zurück zu den Chefs - sind zwar verdammte Arschlöcher, aber was solls, wir sind auf sie angewiesen..."
 

pol shebbel

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Mit diesem Kapitel bin ich übrigens noch nicht so richtig zufrieden - ich hab so den Eindruck, das ist stellenweise arg pathetisch geraten... Ist aber offenbar nicht so negativ aufgefallen?
Vielleicht sollte ich das mal in der Schreibwerkstatt einstellen...
 



 
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