In unserem Stadtteil

Colonita

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In unserem Stadtteil

Aufgewachsen bin ich in einer Großstadt. Jedoch kannte in meinem Stadtteil fast jeder jeden, und meine Großmutter konnte mir über viele Menschen hier eine kleine Geschichte erzählen. Kurz gesagt waren wir alle eine Art Großfamilie.

Mein Vater versuchte mir damals zu erklären, daß dieser Stadtteil später, wenn ich erwachsen wäre, viel von seinem Reiz verloren hätte.
Doch damals, als ich noch unbesorgt auf meinem Lieblingsspielplatz im Sand spielte und jeder wußte wer ich war, konnte ich das nicht verstehen.

An einem sonnigen Sonntagvormittag, zwanzig Jahre später, kam ich mit meiner achtjährigen Tochter Anna vor dem Mehrfamilienhaus an, in dem ich einst mit meinen Eltern wohnte.

Mir fiel sogleich die schmutzige, graue, abgeblätterte Fassadenfarbe auf. Ich konnte mich noch deutlich daran erinnern, daß die Fassade damals leuchtend gelb war, wodurch ich immer schnell nach Hause fand, wenn ich mich einmal in der Gegend verlaufen hatte.

Das alte Haus hatte scheinbar in den letzten Jahren ziemlich gelitten. Die stets gründlich polierte Haustür, die damals von Herrn Schulte, dem Hausmeister, pünktlich um 22.00 Uhr abgeschlossen wurde, war nun mit Sprüchen vollgekritzelt und ließ sich scheinbar nicht mehr schließen. War ich hier überhaupt richtig? Ich konnte mich nicht irren, denn auf der Haustür stand die Hausnummer 11b und auch der kleine bunte Kaugummi-Automat, der jetzt wacklig an der Wand hing, war noch da.
Ich fragte mich wer hier noch wohnte, warf einen Blick auf die Namensschilder und mußte feststellen, daß mir keiner dieser Namen bekannt war.

Dann entdeckte Anna den Spielplatz, der sich in der Parkanlage auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand, und fragte mich, ob sie dort spielen durfte. Ich freute mich ihr „meinen Spielplatz“ zeigen zu dürfen und so überquerten wir die kleine Straße, die jetzt mit kleinen rötlichen und grauen Steinen gepflastert war.

Als wir am Eingang der Parkanlage ankamen, die mir zu meiner Kindheit viel gepflegter und grüner vorkam, bemerkten wir mehrere finstere Gestalten, die von leeren Bierflaschen umgeben und auf dem Boden sitzend, einen Kreis bildeten.
Sie redeten wirres Zeug und pöbelten die dort spielende Kinder an, während sie eine Zigarette von Person zu Person weiterreichten und jeder von ihnen ein- oder zweimal tief inhalierte.

Anna sah zu mir hinauf und machte einen etwas verängstigten Eindruck. So beschlossen wir einfach an dem Spielplatz vorbeizugehen.
„Komisch“, dachte ich, und mußte schlucken als mir klar wurde, wie schön und unbeschwert man hier doch früher leben konnte.

Am Ende der Anlage befand sich das Gebäude, in dem früher meine beste Freundin Monika wohnte.
Ich sah an dem kleinen Mehrfamilienhaus hoch, und erinnerte mich daran, daß dieses Gebäude einst das Schmuckstück unseres Viertels war. „Das Haus mit den weißesten Gardinen“ nannte meine Mutter es damals, was sie wohl einer Gardinenwaschmittelreklame entnommen hatte.
Jetzt aber war diese Haus augenscheinlich das Verkommenste der Straße.

Die Eingangstür stand offen und ein beißendes Gemisch aus Rauch und Fäkalien trat uns entgegen. Schnell gingen wir einige Schritte weiter um dem Gestank zu entkommen.

Ich erinnerte mich, daß damals eine gewisse Frau Maria Schneider in diesem Haus für Recht und Ordnung sorgte. Sie wohnte schon lange hier, was ihr ihrer Meinung nach das Recht gab, uns Kinder fluchend und mit einem Kochlöffel bewaffnet, aus dem Hausflur zu jagen, wenn wir dort spielten.

In unserem Stadtteil, der im Westen von Köln lag, gaben wir früher den Menschen Spitznamen, damit für uns Einheimische jegliche Verwechslung ausgeschlossen war.
So wurde Frau Maria Schneider von allen Leuten „Dicke Mie“ genannt, was ziemlich zutreffend für die korpulente Frau war, die eigentlich niemand so recht leiden konnte.

Doch was war aus all diesen Leuten geworden die diesen Ort so einzigartig machten? „ Meier’s Pöp“, „Reinartz Rita“ und der „Löstige Pitter“, um nur einige ander Namen zu nennen, prägten das Bild meiner Heimat. Ohne sie fehlte hier das gewisse Etwas.

Ein wenig enttäuscht gingen wir weiter.
Plötzlich sah Anna mich ein wenig angeekelt an und wies auf ihren Schuh. Ich nahm einige Taschentücher aus meiner Handtasche um ihr die Reste des Hundehaufens von der Schuhsole zu wischen. Als ich mich wieder aufrichtete fiel mein Blick auf das Bistro an der Hauptstraße, in welchem ich mich manchmal mit meinen Freunden getroffen hatte. „Na sowas, das gibt’s also auch noch“, sagte ich zu Anna und wir marschierten zielstrebig auf einen Tisch außerhalb des Bistro’s zu. Nachdem ich mir die Hände gewaschen hatte, ergriff ich die Gelegenheit, bei einer Tasse Kaffe die Umgebung noch etwas auf mich wirken zu lassen, während Anna ein Eis genoß.

Viele Leute kamen an dem Bistro vorbei. Große, kleine, dicke, dünne, viele Rassen und alle sozialen Klassen. Aber vor allem junge Menschen zwischen zwanzig und dreißig Jahren.
Und als ich die all Menschen, die so an uns vorbei gingen, beobachtete, stellte ich fest, daß aus meiner Heimat ein Studentenort geworden war. Dies war gar nicht so erstaunlich, denn schließlich befand sich die Universität in unmittelbarer Nähe.

Schade fand ich allerdings, daß es hier wohl keinen mehr interessierte, welche Geschichten der Nachbar zu erzählen hatte.
Diese Stadt kam mir auf einmal fremd vor.

Ich seufzte, als ich in meiner Kaffeetasse rührte und warf einen Blick auf die Zeitung des Mannes am Nebentisch.
Dabei neigte ich meinen Kopf etwas zur Seite, um aus seiner Zeitung mitzulesen, doch plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit auf lautes Geschimpfe, das aus einer Kneipe gegenüber kam, gelenkt.

Die Kneipentür öffnete sich schwungvoll und eine ältere, dicke Frau mit grauen Haaren und einem rosafarbenen Hauskittel kam auf die Straße herausgerannt, gefolgt von einem schwankenden Mann etwa gleichen Alters, der sichtlich Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten und dem rasanten Tempo der Frau zu folgen. Sie tobte und benutzte dabei ihre Arme, die sie in regelmäßigen Abständen in die Höhe warf.
Irgendwie kam mir die Stimme der Frau bekannt vor und als sie nur noch ein paar Schritte von uns entfernt war erkannte ich sie.
Da war sie! Unsere „Dicke Mie“, die genau wie früher wieder einmal für Ordnung zu sorgen schien. Ich erinnerte mich plötzlich, daß sie ihren Mann schon damals jeden Sonntagmittag nach dem Frühschoppen aus der Kneipe holen mußte, weil er nie pünktlich zum Essen kam.
“Nix! Kumm met noh’hus, et Esse weed kalt“ schimpfte sie weiter.

Und plötzlich fing ich an zu schmunzeln.
Sicher, dieser Ort hatte sich weiterentwickelt , denn nirgendwo blieb die Zeit stehen, aber ein ganz klein wenig von der mir so vertrauten „Kölschen Eigenart“ würde es wohl immer geben und das war auch gut so.
 



 
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