Jason und Medea (Sonett)

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Herr H.

Mitglied
Jason
Ja, kannte er die Frau denn wirklich nicht?
Er hätte es doch besser wissen müssen,
wie leidenschaftlich, aber auch gerissen
sie nun mal war – und grimmig im Verzicht.

Doch trübte das Verlangen ihm die Sicht
und drängte ihn zu Glaukes heißen Küssen.
Was zählten da noch Treue und Gewissen?
Es trieb ihn fort… Da traf ihn das Gericht.

Gleich einem Albtraum kam es über ihn,
ganz unvermutet, hinterrücks und plötzlich
und – auch aus diesem Grunde – so entsetzlich.

Er hat geflucht, gewimmert und geschrien.
Denn mit den Toten schwand sein ganzes Glück.
Und keine Tränen brachten sie zurück.


Medea
Sie sprengte Konventionen, Norm und Maß,
ob sie nun liebte oder ob sie hasste.
Wenn sie das Fieber packte und erfasste,
das in der Seele tief verborgen saß,

ging’s mit ihr durch, so dass sie sich vergaß
im blinden Wahn, vor dem die Welt erblasste,
weil dieser Furor in kein Schema passte,
der wie ein wildes Raubtier alles fraß.

Sie paarte Zauberkunst mit Raffinesse.
Und hinter einer Maske von Noblesse
blieb sie versteckt und unberechenbar.

Doch der, der schärfer blickte, sah genau,
dass sie im Grunde gar nichts weiter war
als eine tief zerquälte, kranke Frau.
 

hermannknehr

Mitglied
Jason und Medea

Hallo Herr H.,
zwei wunderschöne Sonette voller Klang und Musik, interessant verknüpft durch die gemeinsame Überschrift. Ein Genuss für den Leser, der sich mit der griechischen Mythologie etwas auskennt.
Wenn ich etwas ändern würde, dann den letzten Drei-Zeiler der Medea. In meinen Augen war Medea keine kranke Frau. Sie war, wie Du sie ja beschreibst, unkonventionell, wild, leidenschaftlich, rachsüchtig und vor allem intelligent und damit allen tumben männlichen Haudraufs in ihrer Umgebung haushoch überlegen. Das machte sie suspekt. Man dichtete ihr alles mögliche an und bezeichnete sie kurzerhand als Zauberin (wie auch Kassandra, Circe u.Ä.) Gut- eine Frau, die ihre Kinder umbringt gilt bei uns heute als krank und benötigt eine psychologische Betreuung. Wir befinden uns aber in der Sage im archaischen Zeitalter. Da kam es schon einmal vor, dass ein Herrscher seinen besiegten Widersacher zerstückeln ließ und sein Herz verspeiste. Auch das ist ja heute nicht mehr üblich.
Vielleicht habe ich aber auch nur zu viel Christa Wolf gelesen, die Medea in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt.
LG
Hermann
 

Herr H.

Mitglied
Jason
Ja, kannte er die Frau denn wirklich nicht?
Er hätte es doch besser wissen müssen,
wie leidenschaftlich, aber auch gerissen
sie nun mal war – und grimmig im Verzicht.

Doch trübte das Verlangen ihm die Sicht
und drängte ihn zu Glaukes heißen Küssen.
Was zählten da noch Treue und Gewissen?
Es trieb ihn fort… Da traf ihn das Gericht.

Gleich einem Albtraum kam es über ihn,
ganz unvermutet, hinterrücks und plötzlich
und – auch aus diesem Grunde – so entsetzlich.

Er hat geflucht, gewimmert und geschrien.
Denn mit den Toten schwand sein ganzes Glück.
Und keine Tränen brachten sie zurück.


Medea
Sie sprengte Konventionen, Norm und Maß,
ob sie nun liebte oder ob sie hasste.
Wenn sie das Fieber packte und erfasste,
das in der Seele tief verborgen saß,

ging’s mit ihr durch, so dass sie sich vergaß
im blinden Wahn, vor dem die Welt erblasste,
weil dieser Furor in kein Schema passte,
der wie ein wildes Raubtier um sich fraß.

Sie paarte Zauberkunst mit Raffinesse.
Und hinter einer Maske von Noblesse
blieb sie versteckt und unberechenbar.

Doch der, der schärfer blickte, sah genau,
dass sie im Grunde gar nichts weiter war
als eine tief zerquälte, wunde Frau.
 

Herr H.

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Hallo Hermann,
besten Dank für deine Replik. In der Tat habe ich mich mit der letzten Zeile besonders schwer getan. Und dein Vorbehalt zeigt, dass dieses Bedenken nicht unbegründet war. Du hast recht: wir sollten vorsichtig darin sein, unsere eigenen Maßstäbe ohne weiteres auf die antike Sagenwelt zu übertragen. Ob Medea krank war? Nach unseren Maßstäben schon; nach denen der Antike wohl nicht. Ich habe die erste Gedichtfassung insofern abgeändert, dass aus "krank" ein "wund" geworden ist. Wund war Medea ja auf alle Fälle - und das scheint sie mir am ehesten zu charakterisieren, ohne dass ich ihre grausamen Wesenszüge damit ausblenden möchte.
Übrigens: Mir fällt auf, dass es gegenwärtig wieder einen Trend zu geben scheint, beim Scheitern von Beziehungen die Kinder zu töten ...

LG von
Herrn H.
 



 
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