Hallo Vera-Lena,
Ich finde, dass eindeutige Texte ziemlich langweilig wären
Lyrik lebt von Assoziationen, die eben bei jedem Menschen "eigen-willig" sind. Da wäre es fast ein Wunder, wenn bei allen Lesern die gleichen Wahrnehmungen hervorgerufen werden könnten. Dass ich z.B. in deinem Text kein (dramatisches) Hereinbrechen des Leidens gesehen habe, liegt nach meinem Empfinden ein wenig an der Bildersprache:
> Leid steigt aus der Weltenwunde,
Hierzu assoziiere ich (sanftes) Emporsteigen und in der Weiterführung ein Über-die-Welt-Erheben und Wegfliegen ... eben nichts wirklich Bedrohliches. Beklemmender wären da eher Bilder des In-die-Welt-Herabfließens, etwas Infiltrierendes wie vielleicht "Leid sickert aus der Weltenwunde".
> ankert sich in diese Stunde.
Mit dem Ankern verhält es sich da recht ähnlich: ein vorübergehender Aufenthalt, dem sich ein Weiterziehen (In-See-Stechen) anschließen wird. Dadurch drücken diese Bilder für mich eher etwas Optimistisches, wenn nicht sogar Tröstliches aus. Die zuvor gezeichneten romantischen Impressionen können sie auf diese Weise jedenfalls nicht ernstlich gefährden. Zumal sie auch gar nicht (Bestand)Teil dieser geschilderten Welt zu sein scheinen: im Gegensatz zu den gegenständlichen Motiven (Natur, Mensch, Engel) handelt es sich bei Leid und Weltenwunde um nichts Greifbares mehr, es sind Abstraktionen, die jenseits der Ebene des Real-Existierenden liegen. Und in Abwandlung eines Sprichworts scheint mir: Abstrahiertes Leid ist halbes Leid. Wie du siehst, man kann beim Schreiben gar nicht so dumm denken ... wie der Leser
Viele Grüße
Martin