Jetzt reicht es

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jennypower

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„Jetzt reicht´s“

Und wieder quäle ich mich über den großen Platz - pünktlich um 7.15 Uhr wie jeden Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag. Der gutgekleidete Mann, Anfang 40, heute im dunklen Anzug, solariumgebräunt, kommt mir entgegen und grinst - ebenfalls wie fast an jedem Tag. Er arbeitet wohl in der Bank als Analyst oder als etwas Ähnliches. Dann gehe ich die Treppen zur U-Bahn hinunter und die blonde Schalter-Beamtin aus der Bank grüßt mich lächelnd. Das war aber auch das letzte freundliche Gesicht für heute Morgen, in der U-Bahn sieht man nur noch angefressene Leute - auch wie jeden Tag. Es stinkt nach Schweiß und mir wird übel.

Von hinten nähert sich die Frau mit dem Pferdegebiss und dem langen roten Haar, die den selben Weg zur Arbeit hat wie ich und mir im Laufe der Zeit schon ihr halbes Privatleben offenbart hat. Sie erzählt von ihren vier Kindern, vom Hund und vom Wochenend-Haus in Ungarn, das sie schon vor Jahren gekauft hat, als die Preise dort noch wesentlich günstiger waren. Ich höre mit einem halben Ohr zu und nicke. Wie einsam müssen Menschen wohl sein, um irgendwelche fremden Personen in öffentlichen Verkehrsmitteln einfach so anzusprechen? Sie kennt nicht einmal meinen Namen und ich auch nicht ihren, ich will ihn ja gar nicht wissen, und trotzdem sind wir einander irgendwie vertraut - gemeinsam gefangen im Alltagstrott.

Dann komme ich in die Firma. Der Kollege, der immer fünf Minuten vor mir kommt, hat schon sein Sakko abgelegt. Sein Computer läuft bereits und er öffnet gerade die rechte Schublade seines Schreibtisches, um das Foto mit seiner Frau und mit seinen beiden Kindern herrauszunehmen. Klipp klapp, der Bilderrahmen wird aufgefaltet und am Schreibtisch aufgestellt, um am Abend wieder zusammengeklappt zu werden und in der Lade zu verschwinden. Er wünscht mir einen guten Morgen und zündet sich seine erste Zigarette an. Es werden noch mindestens zwanzig weitere folgen bis die Putzfrau um 16.30 Uhr kommt und den Aschenbecher ausleert.

Heute ist Montag und deshalb gehe ich, wie jeden Montag, pünktlich um 9 Uhr ins Operations Meeting. Dort sitzen meist so um die zehn gut bezahlte, überwiegend männliche Manager und diskutieren über die wichtigsten Aktivitäten der Verkaufs- und Marketingabteilung. Das Ganze dauert mindestens bis 17 Uhr, sonst kann es kein wichtiges und erfolgreiches Operations Meeting gewesen sein. Ziel dieses Meetings ist es, einerseits Schuldige für Fehler, die passiert sind, zu finden und andererseits, was künftige Aktivitäten anbelangt, möglichst wenig Arbeit auszufassen. Ich sitze dort und höre zu. Wenn es um meine Produkte geht, versuche ich möglichst rasch ein Opfer in der Runde zu finden, dem ich die nötigen Actions übertragen kann. So geht das Spiel und mittlerweile gehöre ich schon zu den Profis. Vor ein paar Jahren musste ich mir noch anhören: „Jenny, Du machst das sicher ganz toll. Mit Deinem Charme wirst Du diesen schwierigen Kunden schon überzeugen“. Ich habe das damals sogar als Kompliment aufgefasst, dabei ist es nur darum gegangen, einerseits meine Kompetenz als Managerin in Frage zu stellen und andererseits mir Aufgaben zuzuschanzen, die nicht in meiner Job Description definiert sind.

Ich denke an meinen kleinen Sohn Markus. Er wird wohl gerade vom „Kindermädchen“ mit dem Wagen durch die Fußgängerzone geschoben - und brüllt wahrscheinlich vor sich hin. Den Kinderwagen mag er gar nicht, kein Wunder, da der Papa ihn immer so verwöhnt und ihn mit dem Bauch-Tragesack durch die Gegend schaukelt. Die Bezeichnung „Kindermädchen“ trifft übrigens nicht besonders gut zu: Frau Schoitl ist immerhin schon 52 Jahre alt und hat einen Sohn, der in psychiatrischer Behandlung ist - wegen seiner gestörten Beziehung zur Mutter. Aber das haben wir erst erfahren, nachdem sie bereits seit einigen Wochen unseren Markus betreut hat. Im Laufe ihres heutigen Spazierganges werden sie wohl, wie fast an jedem „Schoitl-Tag“, im Kaffeehaus „Toska“ landen. Frau Schoitl wird sich eine Melange gönnen und der kleine Markus bekommt ein Croissant. Die Qualität der Kipferl in der „Toska“ ist zwar objektiv betrachtet nicht besonders gut, aber Markus liebt offensichtlich den Geschmack nach nicht mehr ganz frischer Butter. Frau Schoitl ist eine sehr gepflegte Frau mit langem blonden Haar und immer auf der Suche nach einem neuen Mann. Sie war ja erst fünfmal verheiratet und jeder verdient eine sechste Chance! Mit dem süßen Kleinkind am Schoß steigen ihre Erfolgsaussichten gewaltig, da auch die älteren Herren, die gerne am Vormittag auf einen Stehkaffe in die „Tosca“ gehen, von den großen blauen Augen des kleinen Markus und seinem süßen Lächeln (im Kaffeehaus schreit er nie) beeindruckt sind.

Zwischendurch schaue ich interessiert, manchmal kritisch und manchmal begeistert, werfe hin und wieder ein kurzes Statement wie „das ist ja unglaublich“ oder „ein interessanter Approach“ in die Runde, um meine aktive Teilnahme an der Sitzung zu untermauern. Ich würde gerne wissen, wie viel Geld den einzelnen Volkswirtschaften jährlich durch unnötig lange Meetings mit unnötig großen Teilnehmerkreisen verloren gehen - das sind sicher Milliarden von Dollar bzw. Euro. Auch ich bekomme ja genug dafür bezahlt, dass ich hier sitze und meine Rolle in diesem Spiel perfekt beherrsche. Und von dem Geld kann ich mir das Kindermädchen leisten und meinem Sohn jeden Tag ein neues Spielzeug kaufen. Wir haben zwar schon keinen Platz mehr im Kinderzimmer und er hat schon alle Artikel der neuen Kollektion von „Play&Spiel“ - obwohl er viel zu klein dafür ist, aber er freut sich halt so sehr über jedes Geschenk.

Wir gehen zum Business Lunch. Immer die gleiche Quälerei: wie soll ich den Teller mit den Brötchen, das Besteck, die Serviette und das Weinglas gleichzeitig halten und dabei noch angeregt mit dem Verkaufsdirektor über die neue Inszenierung von „La Boheme“ in der Staatsoper sprechen. Er hat zwanzig Karten in der ersten Reihe für seine wichtigsten Kunden gekauft - natürlich auf Kosten der Firma, also der Aktionäre oder „Kuponschneider“, wie diese gar nicht liebevoll vom kleinen, dicken Betriebsrat genannt werden. Die Vorstellung hat ihm, unserem Verkaufsdirektor, und seiner Freundin gefallen, wenngleich der wichtigste Kunde, Herr Kaiser - nomen est omen - bereits im ersten Akt eingeschlafen ist, um nur für den Champagner in der Pause sein Schläfchen kurz zu unterbrechen und es dann gleich wieder fortzusetzen. Das macht aber nichts, denn die Frau Kaiser war begeistert und dafür hat unser Verkaufsdirektor es geschafft, dass die neue Produktpalette mit dem Namen „Rank&Schlank“ im Handels-Imperium des Herrn Kaiser verkauft wird. Während mir der Verkaufsdirektor von seinem großen Erfolg berichtet, kämpft er mit einem Roastbeef-Brötchen und das sieht ziemlich unappetitlich aus. Er schafft es nicht, vom zähen Fleisch anzubeißen und so hängt das ganze große Stück aus seinem Mund, es wird nach und nach hineingeschlürft, während die Mayonnaise vom Kinn tropft. Mich würgt es, aber ich lächle weiter zustimmend und versuche, ihn mit meinem Wissen über die aktuellen Intrigen in der Staatsoper, über welche ich in der „Bunten Woche“ beim Friseur gelesen habe, zu beeindrucken.

Das Meeting geht weiter und ich überlege gerade, welche Jahreszeit wir eigentlich haben. Es muss wohl schon Herbst sein, da es mir heute in der Früh etwas kühler vorgekommen ist und der Schweißgeruch in der U-Bahn nicht ganz so schlimm war. Außerdem hat Markus schon vor zwei Monaten, am 10. August, seinen ersten Geburtstag gefeiert. Leider hab ich seine ersten Schritte nicht gesehen, die hat er ganz alleine für Frau Schoitl gemacht. Ich frage mich nun, was ich hier eigentlich mache. Wäre es nicht besser, weniger Geld zu haben und dafür die Zeit mit meinem Sohn zu verbringen? Zu sehen, wie er sich entwickelt, wie er immer schneller und geschickter wird? Wann wird er sprechen lernen und was werden seine ersten, richtigen Worte sein? So etwas wie „mamamama“ plappert er schon manchmal vor sich her, aber sprechen kann man das noch nicht nennen. Im Winter könnte ich mit ihm Schlittenfahren und Eislaufen, später könnte er Schifahren lernen. Während ich so tue, als ob ich großes Interesse an den neuesten Strategien der Werbeleiterin hätte, denke ich über meine Zukunft nach. Soll das jetzt noch 30 oder 40 Jahre lang so weiter gehen? Oder sag ich ganz einfach „Schluss“ und steige aus. Aber, wovon soll ich leben?

Ich springe auf, wie von der Tarantel gestochen und sage nur kurz zu meinem Kollegen, dass ich aufs Klo muss. Dann stürze ich aus dem Raum und laufe den Gang entlang, hole meine Tasche aus meinem Büro, eile die Treppe hinunter und
hinaus auf die Straße. Ich fühle die kühle Luft, sehe die gelb-verfärbten Blätter an einem Baum und erlebe bewusst, dass es Herbst geworden ist. Ich werde jetzt ganz schnell in meine Wohnung fahren, Frau Schoitl nach Hause schicken und den Rest des Nachmittags mit Markus im Park genießen. Und dann werden wir schon sehen, wie es weiter geht.
 



 
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