Kaffeehausanekdote
A schreitet durch die weiten, zu beiden Seiten starr grau begrenzten Gassen einer Innenstadt. Gehetzt hebt er im Gehen den Arm und betrachtet die Uhr an seinem Handgelenk. Ich bin ein Kind meiner Zeit. Kind doch als wohlhabend zu charakterisierender Eltern. Er kommt auf einem Platz an, von dem einige nicht einsehbare Gässchen ins Ungewisse führen. Hinein geboren in eine Zeit ohne Grenzen. Ohne Anhaltspunkt, aber mit unzähligen Möglichkeiten. Ratlos bleibt er stehen.
Lieber Kunde, wir bauen für Sie. Skeptisch sieht er am umrüsteten Altbau hinauf. Hier entsteht in Kürze eine neue Starbucks-Filiale. Jeden Tag neu. Stetig im Wandel. Schnelllebig-kurzatmig. Mauern zum Anlehnen werden jeden Tag aufs Neue nieder gebrochen und an anderer Stelle wieder hochgezogen. Entnervt blickt er in den herbstlich bewölkten Himmel. Nicht noch einer! Hochgezogen in einen für die Zukunft immer blauen Himmel, an dem die Wolken dezent übergangen werden. Seinen Kopf wieder senkend, wird er erneut mit seinem Problem konfrontiert: unzählige Gässchen und er neu in der Stadt. Wo bin ich? Ich suche Orientierung, suche Sinn, suche mich. Warum bin ich hier? Warum bin ich so, wie ich bin? Wieso bin ich eigentlich nicht anders? Und wozu eigentlich? Ach ja, er war in der Stadt verabredet, jedoch hatte diese erste Frage, einer gedanklichen Lawine gleich, die anderen losgelöst, welche ihn für den Moment, ihres überraschenden Auftauchen wegen, förmlich erschlugen.
Abermals besieht er sich den Platz, in dessen Mitte er steht. Erleuchtete Schaufenster strahlen heraus und bieten Konsum gegen Kapital für den Kommerz. Doch etwas anderes strahlt ihn im Vorbei-Eilen flüchtig an und ist auch schon wieder verschwunden – eine in ihre Jacke geschlungene Frau von vielleicht 25 Jahren, mit von der Kälte rötlichen Wangen, ihre schulterlangen aschblonden Haare, wie eine Mähne, im Gehen wiegend, ihre vollen Lippen zu einem Lächeln gespreizt, ihre Augen – nein, nicht schon wieder, dem Trieb nachgeben und sie ansprechen!
Wozu eigentlich? Ja, biologisch korrekt kommt mir nun spontan die Erhaltung unserer wölfischen Spezies Mensch in den Sinn. Er stutzt. Jedoch, ist dies als Ursprung und Triebfeder jedweden menschlichen Handelns ungenügend, wenn nicht gar sinnlos. Denn uns alle auf mehr oder weniger individuelle Triebviecher zu reduzieren fällt mir doch sehr schwer, zu mal ich in der Schürzenjägerei keine Erfüllung mehr sehe.
Er zieht ein Photo aus seinem Geldbeutel. Eine mindestens genauso freudig freundlich, wie die Blonde lächelnde junge Brunette ist darauf zu sehen. Eventuell ist es ja die Liebe, das Dasein als Da-sein für eine andere Person, die dieser evolutionären Komponente doch noch Legitimation verschafft. Aber kann Liebe auch als dauerhafter Antrieb unseres Triebes und Tuns gelten? Ist sie nicht vielmehr wie ein sterbender Stern beschaffen? Er zerreißt das Photo energisch. Vom kleinen Funken Hoffnung in der Unendlichkeit des Nichts unseres Lebens, nach dem wir sehnend streben, schwillt sie zur leuchtend hellen Supernova und verschwindet dann gänzlich, ein schwarzes Loch hinterlassend; uns herunter ziehend. Kann eine solche Kraft konstant den Menschen lenken? Er zuckt die Schultern, nimmt beide Bildhälften in die rechte Hand und zerknüllt sie langsam. Ich vermag es nicht zu sagen. Er holt aus, die Papierkugel in seiner Hand weit von sich zu schleudern, schwingt seinen Arm – und stoppt abrupt, öffnet seine Faust, besieht sich ruhig ihren Inhalt, entknittert ihn so gut, wie möglich und hält beide Photohälften zu einer mit Falten übersäten scheinbar gealterten Frau zusammen. Liebe und Hass liegen dicht beieinander.
Vielleicht sind sie es also vereint, die uns prägen. Wo Liebe ist, bleibt keine Zeit zu hassen. Lange, jedoch ohne die geringste Regung in seinem sieht er das Gesicht in seinen Händen an, öffnet die Finger, welche es halten und zwei Hälften fallen schlingernd getrennt von einander zu Boden. Doch bleibt von der Liebe nichts, ist die Zeit des Hassens gekommen. Ihm zieht der herb-aromatische Duft frisch gebrühten Kaffees, ihm einen wolligen Schauer über den Rücken jagend urplötzlich in die Nase und erst jetzt bemerkt er, dass direkt neben der weiten Gasse, aus der er kam, ein scheinbar sehr altes Kaffeehaus mit großen Fenstern und gemütlichen Ledergarnituren und seinem warmen gedämpft rötlich-gelbem Licht und dieser Priese Exotischem ihn förmlich an zuziehen scheint. Noch einen flüchtigen Blick wirft er auf die Schnipsel vor sich. Zeit des Hassens gekommen? Nicht immer, aber immer öfter. Er tritt ein und fühlt sich sofort geborgen. Der Duft gerösteter Kaffeebohnen. Leise klassische Musik – vermutlich Mozart, oder einer von denen. Er setzt sich in einen roten Ledersessel direkt am Fenster, so dass er auf den Platz hinaus sehen kann und bestellt sich eine Tasse Kaffee: schwarz. Ohne Milch. Ohne Zucker.
Genüsslich führt er seine Tasse an die Lippen und nippt langsam, jeden einzelnen Tropfen in seinem Aroma auskostend. Er stellt die Tasse wieder auf den Tisch neben die, auf ihm liegende, Zeitung und wendet sich wieder dem Fenster zu.
Gute Besserung. Ratiopharm. Viagra - schafft Leben. Ami-Triyptilin und du kannst wieder lächeln. Grinsend besieht er sich die Reklame, die von der Apotheke auf der anderen Seite des Platzes herüber leuchtet. Stellen wir uns doch mal das Kontraszenario zu Hassen vor: eine Welt auf Drogen - alle friedlich, freundlich miteinander im Einklang vereint und jegliche Emotion getötet. Ist es das, was wir wollen? Die ganze Menschheit lächelnd gleichgültig, ihre Gefühle unterdrückend. Wieder hält er kurz in seinen Gedankenspielen inne und das Grinsen entweicht aus seinem Gesicht. Gleichgültig sind sie ja schon. Jeder auf sich fixiert. Nach persönlichem Glück suchend. Oder negativer ausgedrückt: egoistisch verschlossen.
Draußen im immer dunkler werdenden Grau der hereinbrechenden Nacht zieht eine Mutter ihr Kind über den Platz. Sie vom Typ Managerfrau ohne Beruf und Beschäftigung, dafür mit den neuesten Skurrilitäten aus Mailand, London und Paris behängt, das Kind, Kind was es nun mal ist, ungewillt an der Hand der Mutter bei Fuß zu schreiten. So wird es kurzer Hand an der Hand mehr oder weniger sanft hintendrein gezogen bis sich die beiden dem Blickfeld entziehen.
Abermals führt er seine Tasse zum Mund und trinkt nicht wissend, was er von dieser Szene halten soll, als sein Blick auf eine Schlagzeile der Titelseite fällt: Hilary Clinton – Die erste Frau im Weißen Haus? Ja, sie hat schon recht, wenn ich mir diese scheinbar überforderte Frau gerade eben ansehe. In meiner Zeit ohne Werte und Wahrheiten wird meine Umwelt, die Gesellschaft, die mich umgibt und die auch mich, Hilary Clinton folgend, die sagt es bedarf eines Dorfes, um ein Kind zu erziehen, prägt, nur von einem zum Zereisen gespannten Korsett der Scheinetiquette und Mainstreamkurzzeittrends, welches immer wieder geflickt wird mit neuen Einfältigkeiten, gestützt, um nicht zusammen zu klappen.
Er stellt seinen Kaffee neben die Zeitung, schlägt diese auf und beginnt darin zu blättern.
Politik: der-und-der ehemalig Minister wird Aufsichtsrat bei der-und-der Firma
Wirtschaft: Kaufkraft steigt - jedoch einseitig verteilt Gesellschaft: Reich-Arm-Gefälle wächst
Bildung: Zugang zu den Hochschulen bald nur noch für Akademikerkinder und Reiche?
Kultur: Heynes Leben
Hmm, dachte Heyne also an Deutschland in der Nacht, war er um seinen Exilschlaf gebracht.
Besehe ich mir dagegen unsere ganze westliche Welt, so sehe ich ein mehr und mehr ins Feudale abdriftende System, in dem Macht gleich Geld und Geld wiederum Macht, sowie Wissen ist und dass dies ja seit jeher Macht bringt, also wiederum Geld dürfte allgemein bekannt sein. Überrascht und übermannt von seiner eigenen Gedankenflut und Argumentationswut lehnt er sich grübelnd ins Polster zurück.
Hier also gilt es seine Platz zu finden und zu sichern, will man morgen noch ein Heute haben. Ist es also das Streben nach einem Platz an der gesellschaftlichen Sonne, welches uns treibt?
Wäre aussteigen hier nicht eine ideale Lösung, um dem Druck zu entgehen und sich seinen eigenen privaten Raum zu schaffen? Ssssrr. Ssssrr. Ssssrr. Ain't no use in complainin', when you got the job to do, spent my evenin's down at the drive in, and that's when – er zieht sein Handy aus der Tasche seines Sakkos und drückt das SMS-Klingeln weg, indem er sich die eingegangene Botschaft ansieht. Verdammte Werbe-SMS! Wer sich aus unserer vernichtenden und aufzehrenden Informationsgesellschaft zurückziehen will, braucht hierfür sehr wahrscheinlich mehr Kraft, als von Nöten wär, um in ihr zu bestehen.
Er blickt in seine beinahe leere - oder kaum mehr gefüllte – Tasse. Außerdem ist es traurig und schmerzhaft mit sich allein zu sein; man muss sich mit sich selbst auseinander setzen. Jedoch ist dies nötig, um zu dem zu werden, was man ist. Sprich, um zu sich selbst zu finden, sich zu finden und sich damit, Glück findend, abzufinden. Er steckt sein Handy wieder ein und sieht dabei an sich hinunter: Krawatte, teures Hemd, edler Anzug, schicke Schuhe, am Handgelenk der silberne Chronograph glänzend. Doch ab und an muss man einfach aussteigen. Ich glaube, die - immer wieder neu zu vollziehende - Selbstfindung - denn nur der bleibt sich treu, der sich stetig verändert - als den eigentlichen universellen Sinn des irdischen Seins ausgemacht zu haben.
Erfreut, jedoch immer noch verwundert angesichts seiner neu gewonnenen Einsicht leert er mit einem Schluck den inzwischen kalten Kaffee. Denn er zieht alle anderen nach sich. Nur wer zu sich selbst gefunden hat, kann wirklich Lieben, sich in Liebe vermehren, kann trotz, oder gerade auf Grund von Gefühlen glücklich werden. Somit ist also der immer wieder vollzogene kurzzeitige Ausstieg aus der Gesellschaft der sinnstiftende Einstieg in selbige und die Lösung für eine Zeit ohne Anhaltspunkte.
Er steht auf und will gerade nach der Bedienung, die er schon beim Bestellen und als sie ihm seinen Kaffee brachte ganz in seinen Gedanken versunken nicht bemerkt hatte, fragen, als eine Stimme aus der Küche ruft: Ist schon in Ordnung, geht auf's Haus.
So verlässt A. also das Kaffeehaus. Ab jetzt halte ich mich an mir, beziehungsweise mit mir selbst, meinen Wahrheiten und Werten, egal an welchem Punkt.
Er tritt aus der Tür und steht in einer Sackgasse, an deren Ende das Kaffeehaus und er vor diesem steht. Der Platz, die vielen Gassen und die Geschäfte sind verschwunden und ein Windstoß wirbelt zwei Zettel um ein Mauereck, in welches ein Blumenkasten eingelassen ist, in dem Weihnachtssterne blühen.
Perplex steht er da und späht in Richtung der Straßenlaterne am anderen Ende der unbeleuchteten Sackgasse. Und wo ist jetzt dieses dämliche Meeting mit dem Stadtbaurat, der mir meine H&M-Filiale absegnen soll?
A schreitet durch die weiten, zu beiden Seiten starr grau begrenzten Gassen einer Innenstadt. Gehetzt hebt er im Gehen den Arm und betrachtet die Uhr an seinem Handgelenk. Ich bin ein Kind meiner Zeit. Kind doch als wohlhabend zu charakterisierender Eltern. Er kommt auf einem Platz an, von dem einige nicht einsehbare Gässchen ins Ungewisse führen. Hinein geboren in eine Zeit ohne Grenzen. Ohne Anhaltspunkt, aber mit unzähligen Möglichkeiten. Ratlos bleibt er stehen.
Lieber Kunde, wir bauen für Sie. Skeptisch sieht er am umrüsteten Altbau hinauf. Hier entsteht in Kürze eine neue Starbucks-Filiale. Jeden Tag neu. Stetig im Wandel. Schnelllebig-kurzatmig. Mauern zum Anlehnen werden jeden Tag aufs Neue nieder gebrochen und an anderer Stelle wieder hochgezogen. Entnervt blickt er in den herbstlich bewölkten Himmel. Nicht noch einer! Hochgezogen in einen für die Zukunft immer blauen Himmel, an dem die Wolken dezent übergangen werden. Seinen Kopf wieder senkend, wird er erneut mit seinem Problem konfrontiert: unzählige Gässchen und er neu in der Stadt. Wo bin ich? Ich suche Orientierung, suche Sinn, suche mich. Warum bin ich hier? Warum bin ich so, wie ich bin? Wieso bin ich eigentlich nicht anders? Und wozu eigentlich? Ach ja, er war in der Stadt verabredet, jedoch hatte diese erste Frage, einer gedanklichen Lawine gleich, die anderen losgelöst, welche ihn für den Moment, ihres überraschenden Auftauchen wegen, förmlich erschlugen.
Abermals besieht er sich den Platz, in dessen Mitte er steht. Erleuchtete Schaufenster strahlen heraus und bieten Konsum gegen Kapital für den Kommerz. Doch etwas anderes strahlt ihn im Vorbei-Eilen flüchtig an und ist auch schon wieder verschwunden – eine in ihre Jacke geschlungene Frau von vielleicht 25 Jahren, mit von der Kälte rötlichen Wangen, ihre schulterlangen aschblonden Haare, wie eine Mähne, im Gehen wiegend, ihre vollen Lippen zu einem Lächeln gespreizt, ihre Augen – nein, nicht schon wieder, dem Trieb nachgeben und sie ansprechen!
Wozu eigentlich? Ja, biologisch korrekt kommt mir nun spontan die Erhaltung unserer wölfischen Spezies Mensch in den Sinn. Er stutzt. Jedoch, ist dies als Ursprung und Triebfeder jedweden menschlichen Handelns ungenügend, wenn nicht gar sinnlos. Denn uns alle auf mehr oder weniger individuelle Triebviecher zu reduzieren fällt mir doch sehr schwer, zu mal ich in der Schürzenjägerei keine Erfüllung mehr sehe.
Er zieht ein Photo aus seinem Geldbeutel. Eine mindestens genauso freudig freundlich, wie die Blonde lächelnde junge Brunette ist darauf zu sehen. Eventuell ist es ja die Liebe, das Dasein als Da-sein für eine andere Person, die dieser evolutionären Komponente doch noch Legitimation verschafft. Aber kann Liebe auch als dauerhafter Antrieb unseres Triebes und Tuns gelten? Ist sie nicht vielmehr wie ein sterbender Stern beschaffen? Er zerreißt das Photo energisch. Vom kleinen Funken Hoffnung in der Unendlichkeit des Nichts unseres Lebens, nach dem wir sehnend streben, schwillt sie zur leuchtend hellen Supernova und verschwindet dann gänzlich, ein schwarzes Loch hinterlassend; uns herunter ziehend. Kann eine solche Kraft konstant den Menschen lenken? Er zuckt die Schultern, nimmt beide Bildhälften in die rechte Hand und zerknüllt sie langsam. Ich vermag es nicht zu sagen. Er holt aus, die Papierkugel in seiner Hand weit von sich zu schleudern, schwingt seinen Arm – und stoppt abrupt, öffnet seine Faust, besieht sich ruhig ihren Inhalt, entknittert ihn so gut, wie möglich und hält beide Photohälften zu einer mit Falten übersäten scheinbar gealterten Frau zusammen. Liebe und Hass liegen dicht beieinander.
Vielleicht sind sie es also vereint, die uns prägen. Wo Liebe ist, bleibt keine Zeit zu hassen. Lange, jedoch ohne die geringste Regung in seinem sieht er das Gesicht in seinen Händen an, öffnet die Finger, welche es halten und zwei Hälften fallen schlingernd getrennt von einander zu Boden. Doch bleibt von der Liebe nichts, ist die Zeit des Hassens gekommen. Ihm zieht der herb-aromatische Duft frisch gebrühten Kaffees, ihm einen wolligen Schauer über den Rücken jagend urplötzlich in die Nase und erst jetzt bemerkt er, dass direkt neben der weiten Gasse, aus der er kam, ein scheinbar sehr altes Kaffeehaus mit großen Fenstern und gemütlichen Ledergarnituren und seinem warmen gedämpft rötlich-gelbem Licht und dieser Priese Exotischem ihn förmlich an zuziehen scheint. Noch einen flüchtigen Blick wirft er auf die Schnipsel vor sich. Zeit des Hassens gekommen? Nicht immer, aber immer öfter. Er tritt ein und fühlt sich sofort geborgen. Der Duft gerösteter Kaffeebohnen. Leise klassische Musik – vermutlich Mozart, oder einer von denen. Er setzt sich in einen roten Ledersessel direkt am Fenster, so dass er auf den Platz hinaus sehen kann und bestellt sich eine Tasse Kaffee: schwarz. Ohne Milch. Ohne Zucker.
Genüsslich führt er seine Tasse an die Lippen und nippt langsam, jeden einzelnen Tropfen in seinem Aroma auskostend. Er stellt die Tasse wieder auf den Tisch neben die, auf ihm liegende, Zeitung und wendet sich wieder dem Fenster zu.
Gute Besserung. Ratiopharm. Viagra - schafft Leben. Ami-Triyptilin und du kannst wieder lächeln. Grinsend besieht er sich die Reklame, die von der Apotheke auf der anderen Seite des Platzes herüber leuchtet. Stellen wir uns doch mal das Kontraszenario zu Hassen vor: eine Welt auf Drogen - alle friedlich, freundlich miteinander im Einklang vereint und jegliche Emotion getötet. Ist es das, was wir wollen? Die ganze Menschheit lächelnd gleichgültig, ihre Gefühle unterdrückend. Wieder hält er kurz in seinen Gedankenspielen inne und das Grinsen entweicht aus seinem Gesicht. Gleichgültig sind sie ja schon. Jeder auf sich fixiert. Nach persönlichem Glück suchend. Oder negativer ausgedrückt: egoistisch verschlossen.
Draußen im immer dunkler werdenden Grau der hereinbrechenden Nacht zieht eine Mutter ihr Kind über den Platz. Sie vom Typ Managerfrau ohne Beruf und Beschäftigung, dafür mit den neuesten Skurrilitäten aus Mailand, London und Paris behängt, das Kind, Kind was es nun mal ist, ungewillt an der Hand der Mutter bei Fuß zu schreiten. So wird es kurzer Hand an der Hand mehr oder weniger sanft hintendrein gezogen bis sich die beiden dem Blickfeld entziehen.
Abermals führt er seine Tasse zum Mund und trinkt nicht wissend, was er von dieser Szene halten soll, als sein Blick auf eine Schlagzeile der Titelseite fällt: Hilary Clinton – Die erste Frau im Weißen Haus? Ja, sie hat schon recht, wenn ich mir diese scheinbar überforderte Frau gerade eben ansehe. In meiner Zeit ohne Werte und Wahrheiten wird meine Umwelt, die Gesellschaft, die mich umgibt und die auch mich, Hilary Clinton folgend, die sagt es bedarf eines Dorfes, um ein Kind zu erziehen, prägt, nur von einem zum Zereisen gespannten Korsett der Scheinetiquette und Mainstreamkurzzeittrends, welches immer wieder geflickt wird mit neuen Einfältigkeiten, gestützt, um nicht zusammen zu klappen.
Er stellt seinen Kaffee neben die Zeitung, schlägt diese auf und beginnt darin zu blättern.
Politik: der-und-der ehemalig Minister wird Aufsichtsrat bei der-und-der Firma
Wirtschaft: Kaufkraft steigt - jedoch einseitig verteilt Gesellschaft: Reich-Arm-Gefälle wächst
Bildung: Zugang zu den Hochschulen bald nur noch für Akademikerkinder und Reiche?
Kultur: Heynes Leben
Hmm, dachte Heyne also an Deutschland in der Nacht, war er um seinen Exilschlaf gebracht.
Besehe ich mir dagegen unsere ganze westliche Welt, so sehe ich ein mehr und mehr ins Feudale abdriftende System, in dem Macht gleich Geld und Geld wiederum Macht, sowie Wissen ist und dass dies ja seit jeher Macht bringt, also wiederum Geld dürfte allgemein bekannt sein. Überrascht und übermannt von seiner eigenen Gedankenflut und Argumentationswut lehnt er sich grübelnd ins Polster zurück.
Hier also gilt es seine Platz zu finden und zu sichern, will man morgen noch ein Heute haben. Ist es also das Streben nach einem Platz an der gesellschaftlichen Sonne, welches uns treibt?
Wäre aussteigen hier nicht eine ideale Lösung, um dem Druck zu entgehen und sich seinen eigenen privaten Raum zu schaffen? Ssssrr. Ssssrr. Ssssrr. Ain't no use in complainin', when you got the job to do, spent my evenin's down at the drive in, and that's when – er zieht sein Handy aus der Tasche seines Sakkos und drückt das SMS-Klingeln weg, indem er sich die eingegangene Botschaft ansieht. Verdammte Werbe-SMS! Wer sich aus unserer vernichtenden und aufzehrenden Informationsgesellschaft zurückziehen will, braucht hierfür sehr wahrscheinlich mehr Kraft, als von Nöten wär, um in ihr zu bestehen.
Er blickt in seine beinahe leere - oder kaum mehr gefüllte – Tasse. Außerdem ist es traurig und schmerzhaft mit sich allein zu sein; man muss sich mit sich selbst auseinander setzen. Jedoch ist dies nötig, um zu dem zu werden, was man ist. Sprich, um zu sich selbst zu finden, sich zu finden und sich damit, Glück findend, abzufinden. Er steckt sein Handy wieder ein und sieht dabei an sich hinunter: Krawatte, teures Hemd, edler Anzug, schicke Schuhe, am Handgelenk der silberne Chronograph glänzend. Doch ab und an muss man einfach aussteigen. Ich glaube, die - immer wieder neu zu vollziehende - Selbstfindung - denn nur der bleibt sich treu, der sich stetig verändert - als den eigentlichen universellen Sinn des irdischen Seins ausgemacht zu haben.
Erfreut, jedoch immer noch verwundert angesichts seiner neu gewonnenen Einsicht leert er mit einem Schluck den inzwischen kalten Kaffee. Denn er zieht alle anderen nach sich. Nur wer zu sich selbst gefunden hat, kann wirklich Lieben, sich in Liebe vermehren, kann trotz, oder gerade auf Grund von Gefühlen glücklich werden. Somit ist also der immer wieder vollzogene kurzzeitige Ausstieg aus der Gesellschaft der sinnstiftende Einstieg in selbige und die Lösung für eine Zeit ohne Anhaltspunkte.
Er steht auf und will gerade nach der Bedienung, die er schon beim Bestellen und als sie ihm seinen Kaffee brachte ganz in seinen Gedanken versunken nicht bemerkt hatte, fragen, als eine Stimme aus der Küche ruft: Ist schon in Ordnung, geht auf's Haus.
So verlässt A. also das Kaffeehaus. Ab jetzt halte ich mich an mir, beziehungsweise mit mir selbst, meinen Wahrheiten und Werten, egal an welchem Punkt.
Er tritt aus der Tür und steht in einer Sackgasse, an deren Ende das Kaffeehaus und er vor diesem steht. Der Platz, die vielen Gassen und die Geschäfte sind verschwunden und ein Windstoß wirbelt zwei Zettel um ein Mauereck, in welches ein Blumenkasten eingelassen ist, in dem Weihnachtssterne blühen.
Perplex steht er da und späht in Richtung der Straßenlaterne am anderen Ende der unbeleuchteten Sackgasse. Und wo ist jetzt dieses dämliche Meeting mit dem Stadtbaurat, der mir meine H&M-Filiale absegnen soll?