Ruedipferd
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Manuel Magiera
Meinem Vater Wilhelm Swoboda, geb. 06. Mai 1927 in Kamenz/Niederschlesien, gest. am 01.09.2005 in Flensburg und meiner Mutter Wanda Swoboda, geb. 17.Juli 1924 in Lübeck, gest. 21. März 1998 in Löwenstedt, gewidmet.
Seine Lebens-und Kriegserinnerungen erzählte mir mein Vater erst kurz vor seinem Tod. Als Kind konnte ich viele seiner Verhaltensweisen nicht nachvollziehen und ertappte mich sogar dabei, ihn zu belächeln. Ich wuchs behütet während der Zeit des Wirtschaftswunders auf. Als ich seine Geschichte niederschrieb, liefen mir Tränen übers Gesicht.
Der folgende Text erzählt die Wahrheit:
Von einer herrlichen Landschaft in Niederschlesien und einer schönen Kindheit in Kamenz (Glatzer Neiße). Gegenüber stehen der Schrecken des Krieges und die fatalen Auswirkungen auf die schlesische Bevölkerung. Mein Vater lebte von Herbst1944 bis Mai 1945 täglich im Angesicht des Todes. Viele seiner Kameraden kamen nie mehr zurück. Die furchtbaren Erlebnisse prägten ihn und meine Mutter für das ganze Leben.
Ich danke Gott dafür, dass er meinen Eltern erlaubte, das Grauen zu überstehen und ich danke meinen Eltern mit dieser, ihrer Lebensgeschichte, dafür, dass sie mir all ihre Liebe und Fürsorge schenkten, damit ich eine behütete Kindheit und Jugend haben durfte. Ich kann sie beide nur noch auf dem Friedhof besuchen, aber ich kann sie jetzt verstehen.
Mein Kamenz in Schlesien
„Willi, komm, der Zug fährt gleich ein. Wir wollen doch den Führer sehen!“ Aufgeregt winkte mir meine sechzehnjährige Tante Elisabeth zu. Ich sah noch einmal auf die friedlich dahinfließende Glatzer Neiße. Dann drehte ich mich um und rannte, so schnell mich meine elfjährigen Beine tragen konnten, zum Bahnhof. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen. Die Leute beeilten sich, einen Platz mit Blick auf die Bahngleise zu erhaschen. SS Männer in Uniform marschierten an mir vorbei. An den Gebäuden hingen die Fahnen mit den Hakenkreuzen.
Ich lief wie üblich zum Bahnhofsschuppen und kletterte flink auf die alte knorrige Eiche. Von hier oben hatte man den besten Ausblick. Meine Freunde aus dem Jungvolk waren schon da. Einer rückte etwas zur Seite und zeigte plötzlich in die Richtung, aus der sich langsam schnaufend die Lokomotive näherte.
Wie elektrisiert rissen die Menschen ihre Arme hoch. Aus tausend Kehlen riefen sie dem Führer zu. Auch wir Kinder wurden von der Begeisterung angesteckt. Wir streckten unsere Arme soweit es nur möglich war nach vorne und schrien mit Leibeskräften seinen Namen.
Das Erlebnis ist nun zwölf Jahre her. Zwölf Jahre Albtraum, die meine heile Kinderwelt völlig veränderten. Ich sitze am Tisch, schaue meine alten Bilder an und blicke dann auf die Lebensmittelmarken für Januar und Februar 1950. Meine Gedanken wandern zurück und ich sehe alles vor mir, als ob es gestern gewesen wäre.
Ich wurde am 06. Mai 1927 in Kamenz in Niederschlesien geboren. Meine Mutter war eine von sieben Schwestern einer Ofensetzers Familie. Großvater Gustav war nach Urgroßvater Rudolf bereits in zweiter Generation Ofensetzer-Meister gewesen und starb im Oktober 1930. Meine beiden Onkel fielen in sinnlosen Kriegen. Vater war Schlosser von Beruf, aber ich habe ihn leider nie richtig kennengelernt. Warum meine Eltern trotz der katholischen Familie nicht heirateten, hing mit persönlichen Differenzen zwischen meinem Vater und meinen Großeltern zusammen. Doch als kleiner Junge merkte ich davon nicht viel. Nach den sieben Töchtern war ich der erste männliche Nachkomme und wurde entsprechend verhätschelt. Über meine Kindheit im Riesengebirge konnte ich mich nicht beklagen. Meine einige Jahre ältere Tante beschwerte sich später, ich hätte von Schlittschuhen über Skier alles bekommen, was sie sich ein Leben lang sehnlichst gewünscht hatte. Ich wurde im Jahr der Machtergreifung eingeschult und konnte an diesem Tag eine riesige Schultüte mein eigen nennen. Am Führergeburtstag, dem 20. 04. 1933, gab es in der Schule Würstchen. Natürlich nahm ich unkritisch alles hin, was man uns bei brachte. Ich war ein kleines Kind und wer konnte ahnen, dass wir für eine Ideologie missbraucht wurden, die uns nur zwölf Jahre später den Untergang des ganzen Landes bescheren würde!
In der Schule kam ich recht gut mit. Das war wichtig, denn die Lehrer hatten wesentlich mehr Freiheiten als heute. Der Rohrstock gehörte obligatorisch zur Ausstattung eines Klassenzimmers dazu. Man musste die Hände flach nach vorn ausstrecken und der Stock sauste darauf. Es war eine äußerst schmerzhafte Angelegenheit und wohl dem, der davon verschont blieb. Mit zehn Jahren fing ich wie alle anderen im Jungvolk an. An den Nachmittagen hatten wir unsere Gruppentreffen. Sport wurde sehr groß geschrieben. Bälle und Keulen zum Werfen besaßen bereits exakt das Gewicht und die Größe von Handgranaten sowie Panzerfäusten. Wir wurden gezielt auf unseren Einsatz als Soldaten ausgebildet. Es gab nur den Führer und die Nationale Gesinnung. Bevor ich Jungvolkjunge wurde, musste ich die „Pimpfen“ Probe bestehen.
Sie bestand aus einem Sechzig-Meter-Lauf, Weitsprung und Schlagballweitwurf. Zusätzlich nahm man an einer eintägigen Fahrt teil und sollte den Aufbau des Fähnleins (so hieß der Aufbau der gesamten Organisation aller Gruppen und Züge) kennen. Das Wissen um den Lebenslauf des Führers gehörte selbstverständlich genauso dazu, wie das Singen des Horst-Wessel-Liedes, des Deutschlandliedes und unseres HJ Fahnenliedes. Ich erinnere mich noch an das Motto:
Jungvolkjungen sind hart, schweigsam und treu.
Jungvolkjungen sind Kameraden.
Des Jungvolkjungen Höchstes ist die Ehre.
Den Sinn verstanden die Wenigsten, gelernt haben wir es alle. Es war gar nichts anderes möglich. Keiner konnte sich ausschließen. Die Teilnahme war Pflicht und unsere Eltern riskierten eine Menge Ärger, wenn sie ihre Kinder nicht ins Jungvolk schickten. Wir waren zu Hause seit jeher katholisch gewesen und so blieb meine Erziehung immer christlich geprägt.
Die späteren Leistungsabzeichen und Prüfungen habe ich nicht mitgemacht, weil die Schule Vorrang hatte. Darauf legte meine Mutter großen Wert. Da ich zum Besuch der Handelsschule mit dem Zug nach Glatz und ins Aufbaugymnasium nach Münsterberg fahren musste, wurde ich durch die langen Schulwege der HJ-Organisation etwas entrissen. Ich nahm allerdings an Freizeiten teil, fuhr ins Skilager, welches von der SS geleitet wurde und erlebte eine herbe Enttäuschung.
Durch mein eigentliches Hobby, dem Segelfliegen, mit Kameradschaft und Unterbringung verwöhnt, dachte ich, so eine Skifreizeit wäre mal eine kleine Abwechslung in den Ferien. Weit gefehlt!
Es ging sogleich mit militärischem Drill zur Sache. Morgens um halb sechs Uhr hieß es, erst einmal alle in Unterhosen raus zur Schneeballschlacht. Ich dachte, was mich nicht umbringt, macht mich vielleicht härter und sah zu, dass ich diese Freizeit so schnell es ging, überstand. Es war das erste und letzte Mal, dass ich mich für so etwas anmeldete. Zukünftig blieb ich bei der Fliegerei. Dort war die Unterbringung nicht nur besser, auch der harte Drill fehlte. Flieger sind eine Spezies für sich und das vermittelten uns auch die Ausbilder. Wir mussten allerdings viel lernen.
In den Schulungsräumen paukten wir stundenlang theoretische Grundlagen und Wetterkunde. Am Anfang ging es im offenen Gleiter über die Wiese. Es gab den A, B, und C-Schein. Ich hab sie alle gemacht und ein Hakenkreuz ziert heute meine alten Prüfungszeugnisse. Die Segelflugschule in Grunau bei Hirschberg wurde mein zweites zu Hause. Ich verbrachte dort jede freie Minute. Nach den ersten erfolgreichen Starts und Landungen ging es bald in die „richtige“ Maschine und man wurde mit der Winde nach oben gezogen. Zunächst flog noch ein Ausbilder mit. Später kam der große Moment, als wir auf uns allein gestellt, im wahrsten Sinne des Wortes über den Wolken schweben durften. Schnitzer konnten wir uns keine erlauben! Einer der Jungen schaffte es nicht rechtzeitig die Winde wieder auszuklinken, so dass er im Flugzeug mit der Nase vorne über abgestürzt wäre, hätte der Ausbilder diese nicht gekappt. Der arme Bursche konnte seine Sachen packen und nach Hause fahren. Hirschberg war die Heimat unserer großen Fliegerin Hanna Reitsch. Wir Jungen vergötterten sie und schlugen uns fast um die Plätze an ihrer Maschine, wenn es darum ging, ihr Flugzeug wieder in den Hangar zurück zu schieben. Dass sie vorhatte, uns zu Kamikaze-Fliegern auszubilden, treibt mir noch heute eine Gänsehaut über die Arme. Ich wollte eigentlich zur Fliegerstaffel. Doch für diese Ausbildung kam der Krieg zu schnell.
Ich war sechzehn Jahre alt, als ich zum Reichsarbeitsdienst ging und als Siebzehnjähriger meldete ich mich freiwillig an die Front. Mein Vorgesetzter wollte mich nicht gehen lassen. Aufgrund meiner Kenntnisse aus Handelsschule und Aufbaugymnasium konnte er mich in der Schreibstube gut gebrauchen. Er bot mir einen gesonderten Lehrgang an, wenn ich bliebe. Ich war genauso verblendet wie alle anderen und lehnte ab. Erst wollte ich für den Führer und das Vaterland kämpfen. Mir wäre sicher vieles erspart geblieben, wenn ich sein Angebot angenommen hätte. Er sah mich sehr merkwürdig an, als ich ablehnte. Heute weiß ich, warum. Aber damals ahnten wir noch nichts von Tod, Leiden und Entbehrung. Auch ich dachte nur an Heldentum und an die Ehre des Vaterlandes, die es zu verteidigen galt. So hatte man es uns beigebracht. An etwas anderes zu denken, kam mir gar nicht in den Sinn. Wie auch! Wir waren hundertfünfzig junge Männer zwischen siebzehn und zweiundzwanzig Jahren, die ihre Grundausbildung in der Kaserne ‚Hermann Göring‘ zu Berlin erhielten. Den imposanten Reichsadler am Eingang werde ich nie vergessen. Wir hatten alles. Warme Kleidung, gutes, reichliches Essen und jede Menge Spaß in unserer Kameradschaft.
Die Front war weit weg und kaum einer wusste, was wir dort vorfinden würden. In der Wochenschau wurde von den Eroberungen und von den Siegeszügen der Deutschen Wehrmacht berichtet. Die Propaganda gestaltete sich genauso effektiv, wie der schon an Größenwahn grenzende Enthusiasmus, der uns als Kinder in Jungvolk und HJ beigebracht wurde. Wir genossen unsere Grundausbildung und fühlten uns wie erwachsene Männer und zukünftige Helden, die das Deutsche Vaterland erretten und wieder zu höchstem Glanze führen würden. Manch einer träumte schon laut vom Eisernen Kreuz und der feierlichen Zeremonie, wenn es vom Führer persönlich überreicht wird. Eines Tages war unser Glück fast perfekt.
Hermann Göring kam mit seinem Gefolge in die Kaserne und aß mit uns einfachen Soldaten in der Kantine. Er saß nur wenige Meter vor mir am Tisch. Ich konnte es kaum fassen, dem Reichsmarschall des Großdeutschen Reichs so nahe gegenüber zu sitzen. Meine Begeisterung damals war grenzenlos! Zumal ich später einmal Förster werden wollte und Göring als Reichsforstmeister und Reichsjägermeister natürlich eine zentrale Figur für diesen Berufswunsch darstellte. Dass es hinter den Kulissen für ihn nicht zum Besten stand, ahnte ich natürlich nicht.
Wir wussten im Spätsommer 1944 eigentlich überhaupt nichts. Dass der Krieg bereits verloren war, ist zwar den Generälen bekannt gewesen, aber die haben natürlich nichts gesagt. So wurde uns die Wahrheit verschwiegen, und wir fuhren völlig blauäugig ohne auch nur den geringsten Schimmer zu haben, was uns erwartete, an die Ostfront.
Nach den ersten Gefechten folgte auf die anfängliche Begeisterung relativ schnell Ernüchterung. Zu allem Übel bekam ich die Krätze und musste ins Feldlazarett. Wir konnten uns wochenlang nicht ordentlich waschen und das Ungeziefer richtete entsprechenden Schaden an. Der Winter 1944/45 war bitterkalt und wir hatten kaum Unterstände, geschweige denn eine Hütte oder Scheune, um der größten Kälte zu entgehen. Ich dachte manches Mal an die Schneeballschlacht im Skilager. Durch diese Spielerei sollten wir abgehärtet werden. Nicht alle überstanden die eisigen Nächte. Wir mussten uns im Zickzack von Warschau gen Westen zurückziehen. Der Russe kam immer näher und die Gefechte nahmen kein Ende.
Als ich das erste Mal aus dem Feldlazarett zurückkam, fehlte bereits die Hälfte der Kameraden. Es waren einige sehr gute Kumpels darunter gewesen. Nachts, wenn es keiner sah, weinte ich um sie, dachte auch an Mutter und die kleine Schwester zu Hause in Schlesien. Irgendwie hatte ich Glück. Im Schützengraben schlief ich einmal völlig entkräftet und übermüdet ein und als ich erwachte, gab es den Wald um mich herum nicht mehr. Staunend blickte ich mich um. Das nächtliche Sperrfeuer hatte ich nicht mitbekommen und wie tot geschlafen. Anscheinend glaubten auch die Kameraden, dass ich nicht mehr am Leben sei. „Willi, bist du noch da?“, hörte ich meine Freunde leise rufen. „Ja“, antwortete ich nach der ersten Schrecksekunde. Ich musste austreten, doch wohin sollte ich gehen? Es machte wenig Sinn den Graben zu verlassen. Der Feind stand draußen und wartete bloß auf einen unvorsichtigen Jungen, der mal eben nur pinkeln wollte. Ich hätte das allzu menschliche Bedürfnis sicher mit dem Leben bezahlt.
Also machte ich es wie die anderen. Zu essen hatten wir auch nichts mehr und es wurde Zeit, über einen weiteren Rückzug nachzudenken. In der nächsten Nacht kam der entsprechende Befehl. Die Kälte durchdrang die Kleidung, die uns verdreckt und stinkend keinen wärmenden Schutz mehr bot.
Beim Reichsarbeitsdienst hatte ich mich immer über unsere Fußlappen mokiert. Damals lachte ich nicht mehr und hätte gerne ein ganzes Königreich, welches ich nicht besaß, dafür gegeben, wenn ich zusätzlich welche besessen hätte. Wir mussten uns immer weiter vor den angreifenden Truppen der Roten Armee zurückziehen. Viele waren nicht mehr da. Später erfuhr ich, dass nur siebzehn den Krieg überlebt hatten. In mir kam während dieser Tage mehr als einmal der Verdacht auf, dass die Ideale, die man uns als Kinder eingetrichtert hatte, gar nicht so ideal waren und ich ertappte mich daran zu denken, dass lieber fünf Minuten feige im Leben besser wären, als den Rest des Lebens mit dem Heldentod zu verbringen.
Ich beschloss also, künftig weniger Gedanken an das Eiserne Kreuz sowie Ruhm und Ehre auf dem Schlachtfeld zu verschwenden, sondern mehr darauf hinzuarbeiten, diesen verdammten Krieg zu überleben. Irgendwann standen wir auf den Seelower Höhen am Oderbruch. Der Russe folgte uns unbarmherzig. Unsere Einheit gab es faktisch nicht mehr. Ich hatte mich zwei älteren Soldaten angeschlossen. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich mit meinen siebzehn Jahren sicher. Allerdings war ich trotzdem schon ein „alter“ Frontkämpfer. Darauf legte ich großen Wert, wenn ich ältere Jungen traf, die gerade aus der Kaserne kamen und noch keine Kampferfahrung besaßen. Einer der Kameraden war Melder und Anfang Fünfzig. Für mich verkörperte er so etwas wie eine Vaterfigur. Ich hörte ihm gerne zu, wenn er von seiner Familie sprach. Und der andere lachte in der Scheune, in die wir uns über Nacht schlafen gelegt hatten. „Die Kugel für mich ist noch nicht gedreht“, meinte er. Dann, am frühen Morgen, hörten wir das Artilleriefeuer. Es kam näher, zu nahe! Wir mussten aus der Scheune ‘raus.
Plötzlich war nur noch Rauch da. Ich warf mich instinktiv auf den Boden und schloss die Augen. Kein Geräusch mehr, nichts. Beängstigende Stille. Nur dichter Rauch. Ich lag eine ganze Weile eng an den Boden gepresst und wartete.
Nach einiger Zeit konnte ich wieder etwas sehen und begann, nach vorne zu kriechen. Langsam arbeitete ich mich Stück für Stück weiter. Immer auf der Hut, rechtzeitig die zischenden Geräusche einer herannahenden Granate wahrzunehmen. Ich hatte inzwischen ein gutes Gespür für die todbringenden Dinge des Lebens entwickelt. Die damals erlernte Vorsicht sollte meine Persönlichkeit für die ganze Zukunft prägen. Und dann erblickte ich sie. Erst lag da der Kopf des Melders. Einige Meter weiter sah ich weitere Teile seines Körpers. Der andere Kamerad ruhte in einer Mulde. Er hatte die Augen geschlossen, als ob er nur schliefe. Seine Gedärme quollen aus dem Bauch hervor. In mir war ein Gefühl tiefster Leere, die in diesem Moment nicht einmal Grauen oder Trauer zuließ. Fassungslosigkeit und die Hoffnung, dies alles nur zu träumen und im nächsten Augenblick in meinem Zimmer in Kamenz aus einem furchtbaren Albtraum aufwachen zu dürfen, machten sich breit. Ich duckte mich, stand langsam auf und lief. Und wieder rannte ich.
Aber diesmal nicht mehr um den Führer zu sehen, sondern um mein Leben!
Ich konnte mich einer anderen Gruppe versprengter Landser anschließen. Wir waren zu viert. Einer war Fallschirmspringer gewesen und bereits in Frankreich hinter den feindlichen Linien abgesprungen. Seine Geschichten riefen Bewunderung in mir hervor. Er war ein feiner Kerl, mit dem ich mich gut verstand. Wenn unsere Erziehung etwas erreicht hatte, dann die Kameradschaft, die uns Jungen und Männer in diesen schweren Zeiten zusammenschweißte. Jeder half dem anderen völlig uneigennützig und stand für den Kollegen ein. Ich habe später nie wieder einen solchen Zusammenhalt unter Männern erlebt. Während unseres Marsches Richtung Westen überholte uns ein Wagen mit zwei Feldjägern darin. Sie stiegen aus und fragten, was wir hier machten. So genau wusste das natürlich niemand. Der Russe war ja nur einen halben Tag hinter uns. Sie meinten, wir wären Deserteure, nahmen uns die Gewehre ab und wollten uns kurzerhand aufhängen. Meine Gedanken schweiften ab.
Ich war doch erst Siebzehn und hatte, sollte ich den Krieg heil überstehen, noch mein ganzes Leben vor mir! Zweimal war ich nun schon im Feldlazarett gewesen. Das erste Mal mit Krätze, kurz nachdem wir an die Ostfront gekommen waren. Und ein paar Wochen später, verfehlte mich eine Granate nur um wenige Millimeter. Doch die kleinen Splitter drangen in meinen Nacken ein und ich musste operiert werden. Zweimal konnte ich also wieder genesen an die Front zurückkehren.
Während eines Gefechts fand ich neben einem toten Soldaten eine Pistole. Er konnte sie gewiss nicht mehr brauchen und mir würde sie vielleicht noch gute Dienste leisten. Es war eine nahezu neuwertige Mauser und noch bevor ich sie neugierig untersuchen konnte, hatte sie mir ein zweiundzwanzigjähriger Unteroffizier bereits wieder abgenommen. Er fragte, ob sie geladen wäre und ich antwortete, dass ich das nicht wüsste, weil ich sie mir noch nicht hätte ansehen können. Er drückte ab und schoss einem Kameraden in den Fuß. Selbstverständlich bekam ich die Schuld an dem Unglück und musste ihn zum Vorgesetzten begleiten. Das Unfassbare geschah: Ich sollte vor ein Kriegsgericht. Voller Angst erklärte ich unserem Hauptmann, dass ich die Waffe gerade erst gefunden hätte und nicht wissen konnte, ob sie geladen sei. Dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und erzählte, dass ich im Übrigen erst Siebzehn wäre und der Unteroffizier im Gegensatz zu mir bereits ein erfahrener Soldat, der doch wesentlich besser wissen müsste, wie man sich in einem solchen Moment verhält. Der Kommandeur schien beeindruckt zu sein und stimmte mir zu. Ich konnte gehen und war dem sicheren Tod entgangen.
Und nun sollte ich schon wieder unschuldig durch die Hand unserer eigenen Leute sterben! Diesmal sah es allerdings sehr ernst aus. Wir besaßen keine Waffen mehr und konnten uns nicht verteidigen. Es war somit auch unerheblich, dass wir vier und die anderen nur zwei waren.
Ich hatte dem Führer stets treu und enthusiastisch gedient und war mehr als enttäuscht, nun doch noch sterben zu müssen. So schloss ich mit meinem Leben ab.
Die Bilder in meinem Kopf wanderten schnell weiter nach Hause. Ich dachte noch einmal an meine Mutter, meine kleine Schwester, meine Onkels und Tanten und an Kamenz in Schlesien.
Die Stadt gehörte zum Kreis Frankenstein. Die Glatzer Neiße floss am Ort vorbei und das Riesengebirge mit dem alten Rübezahl lag vor der Haustür.
Kamenz war eine sehr alte Gemeinde, die sich bereits 1096 im Schutz eines Klosters entwickelt hatte. Das Kloster wurde später sogar berühmt, als am 27. Februar 1741 König Friedrich II, also Friedrich der Große, dort auf der Flucht vor den Truppen der Österreicher Schutz fand. Ich sah das Schloss vor mir, in dem mein Großvater als Ofensetzer-Meister die großen alten Kachelöfen reparierte. Wie oft war ich dorthin gelaufen, um den Männern ihr Vesperbrot zu bringen und hatte stundenlang in den vielen Räumen gespielt. Es gehörte natürlich der Familie der Hohenzollern und wenn der Prinz anwesend war, wurde immer geflaggt.
Dann erinnerte ich mich an unseren Mühlgraben, in dem die Freunde im Sommer badeten. Auf den Schulausflügen wanderten wir regelmäßig ins Riesengebirge. Ich bekam stets eine Zitrone von meiner Mutter mit. Die drückte ich in einer Flasche aus und füllte diese mit herrlichem Bergquellwasser auf. Keine gekaufte Limonade konnte den wunderbaren Geschmack ersetzen. Mutters Klöße und das selbst hergestellte Sauerkraut ließen mir das Wasser im Munde zusammen laufen. Ich war ja im Jahr der Machtergreifung des Führers zur Schule gekommen und zum Führergeburtstag am 20. April gab es damals Würstchen. Was hätte ich jetzt für ein schönes Würstchen mit Senf gegeben!
Das Jungvolk und die HJ hatte ich wie jeder Junge im Dorf durchlaufen und war stolz gewesen, als ich mein Fahrtenmesser bekam. Es ging uns Kindern gut. Wir konnten sogar Witze über den Führer machen und nichts passierte. Ich wollte doch so gerne nach dem Abitur Förster werden! Mit meiner Großmutter ging ich als kleiner Junge oft in den Wald zum Pilze sammeln. Sie war sehr erfahren darin gewesen und fand schnell die besten Plätze mit den schönsten Pfifferlingen. Die schlesischen Wälder sind ein Naturwunder für sich. Im November liefen wir Schlittschuh und pünktlich mit dem ersten Schnee, meistens Anfang Dezember, wurden die Skier hervorgeholt. Wir sausten die wunderschönen Berge hinunter. Natürlich bauten wir Jungens uns kleine Sprungschanzen. Es verging kein Wintertag ohne Blessuren und blaue Flecke, aber das schreckte mich nicht ab. Mein Leben lief wie in Zeitlupe an mir vorbei.
Was dann plötzlich geschah, übertraf alles, was ich bisher erlebt hatte. Der Fallschirmspringer entriss einem der Feldjäger das Maschinengewehr und auf einmal lagen beide Feldjäger tot am Boden.
Und dann liefen wir los. Wieder rannte ich um mein Leben. Ein LKW hielt neben uns an. Darauf saßen die wenigen Kameraden, die übrig geblieben waren. Unser Kommandeur wusste schon lange, dass wir den Krieg verloren hatten. Er wollte nicht auch noch die letzten seiner Soldaten verheizen. Wir fuhren nicht mehr nach Berlin, sondern Richtung Ostsee. So konnte ich dem ‚Kessel‘ entfliehen.
Ich kam nach Himbergen in Niedersachsen in englische Kriegsgefangenschaft und erlebte dort zusammen mit tausenden Kameraden auf einer Wiese hinter einem Stacheldrahtzaun hungernd und ausgezehrt am 06. Mai 1945 meinen achtzehnten Geburtstag. Gemessen an den Lebensmitteln, die wir in der Gefangenschaft erhielten, kann ich mir mit dem, was ich mir heute für die Lebensmittelmarken holen darf, tagelang den Bauch vollschlagen. Nicht einmal an der Front mussten wir derart hungern, wie in Gefangenschaft.
Unser Führer war inzwischen in Berlin den Heldentod gestorben und hatte sein Land in Trümmern liegend zurückgelassen. Ich wusste nicht mehr an wen oder an was ich noch glauben sollte. Irgendwann konnten wir dann nach Hause gehen. Aber wo war mein zu Hause? Ich erfuhr, dass Schlesien nun von Polen besetzt war und sie alle Bewohner aus ihren Häusern vertrieben hatten. Meine Mutter und meine kleine Schwester waren mit der Großmutter und den Tanten sicher auch geflohen. Aber wie sollte ich sie in dem zerbombten Land je wieder finden?
Der Russe stand an der Elbe. Auf der anderen Seite teilten sich die Amerikaner unser tausendjähriges Reich nun mit den Engländern und den Franzosen.
Siegermächte nannten sie sich. Und ich wollte nur meine Mutter und die vierjährige Schwester wieder sehen! Hatten wir unsere Heimat wirklich für immer verloren? Ich war ausgemergelt und fast verhungert. In der Gefangenschaft lernte ich einen hessischen Bauern kennen. Sein Angebot, ihn nach der Entlassung zu ihm nach Hause zu begleiten, nahm ich dankbar an. In Hessen kam ich wieder zu Kräften. Danach fuhr ich im Güterwagen quer durch Deutschland bis nach Österreich und zurück, suchte verzweifelt meine Familie und schlief dabei draußen unter Brücken---wie die meisten anderen, die ich unterwegs traf. Das Leid der Menschen in dem zerstörten Land war unvorstellbar. Ständig kamen neue Flüchtlingsströme aus dem Osten an. Meine Mutter war nie dabei. Die Männer erzählten von Gräueltaten der Sieger an der Bevölkerung. Zu grausam, um sie niederzuschreiben.
Ich hörte ihnen zu und dachte an die eigenen Erlebnisse mit unseren Leuten. Es klingt hart, aber wir waren nicht besser gewesen. Es bewahrheitete sich nur ein altes Sprichwort: Wie du mir, so ich dir. Ich musste hilflos zusehen, wie Kameraden kaltblütig unschuldige Zivilisten und unsere Kriegsgefangenen töteten.
Meine katholische Erziehung war tief mit meinem Gewissen verwurzelt und ich flehte Gott an, mich nicht solch furchtbaren Erlebnissen auszusetzen. Die Bilder werde ich nie vergessen und als es dann auch die dafür verantwortlichen Kameraden traf, konnte ich kein Mitgefühl mehr für sie aufbringen. Meinen Gefangenen ließ ich in einem unbeobachteten Moment frei und hoffte, dass er es wieder nach Hause ins Mütterchen Russland geschafft hat.
Nach dem Krieg heuerte ich als einfacher Matrose auf einem Minensuchboot an und versah meinen Dienst als Steward beim Kapitän. Vom 11.02.1946 bis zum 18.12.1947 räumten wir Minen in Norwegen. Es war alles in allem keine schlechte Zeit. Ich hatte Arbeit und genug zu essen. Der Kapitän war ein guter Vorgesetzter und auch mit den Kameraden an Bord verstand ich mich bestens. Da ich nicht schwimmen konnte, lag meine Rettungsweste stets griffbereit. Sehr zur Freude der Kollegen, die immer wieder lachten, wenn sie mich in Schwimmweste auf dem Schiff herum laufen sahen. Doch meine Gedanken wanderten vor allem nachts, wenn ich nicht schlafen konnte, zu meiner Familie. Ich hatte noch kein Lebenszeichen von Mutter erhalten und auch sonst nichts von Bekannten oder Verwandten aus dem Dorf erfahren. Als wir wieder nach Kiel Friedrichsort kamen und das Schiff eine Zeitlang auf der Werft überholt werden musste, hörte ich plötzlich, dass jemand auf dem Flaggschiff Kontakt zu Leuten aus Kamenz hergestellt hatte. So erfuhr ich endlich den Aufenthaltsort meiner Mutter. Sie hatte das Elternhaus bei Nacht und Nebel mit nur wenigen Habseligkeiten verlassen müssen und war mit vielen anderen zusammen mit meiner kleinen Schwester im Güterwaggon in den Westen geflohen. Der Flottenkommandant gab mir sofort frei und mit einem Seesack voller Lebensmittel konnte ich ihnen etwas aus der schlimmsten Not helfen. Doch bleiben wollte ich nicht, denn es war ohnehin viel zu wenig Platz in ihrer Notunterkunft im niedersächsischen Dinklage. Aber wir hatten überlebt und waren wieder zusammen.
Mutter meinte, wir müssten dem Herrgott dafür dankbar sein. Durch ihren starken Glauben konnte sie sich mit der Situation arrangieren. Die Heimat sah sie nie wieder.
Langsam fing ich an, mich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ich kannte nur die Nazidiktatur und war wie selbstverständlich damit aufgewachsen. In der Familie gab es zwar keine übermäßige Sympathie, aber andererseits auch keine Ablehnung. Wir fügten uns in das System, welches von der Regierung vorgegeben wurde. Von den Gräueltaten in den Konzentrationslagern wurde nichts in der Wochenschau berichtet. Erst nach dem Krieg hörte ich, was man dem jüdischen Volk und all den anderen, die nicht ins Regime passten, dort angetan hatte.
Fassungslos und ungläubig las ich voller Entsetzen die Zeitungsberichte und schämte mich einmal mehr, damals dem Führer so begeistert wie die anderen Kinder und Erwachsenen zu gejubelt zu haben.
Vor mir liegt das Foto des Kamenzer Schlosses. Es ist eines der wenigen Bilder, die mir von zu Hause geblieben sind. Ob ich es je wiedersehen werde?
Unsere Begeisterung haben wir mit dem Verlust der Heimat teuer bezahlt. Und wie viele Menschen sind in diesem sinnlosen Krieg gestorben! In meinem Kopf sehe ich gefallene Kameraden und verbrannte Erde. Es ist beruhigend zu wissen, dass es auch die dafür Verantwortlichen getroffen hat. Bis zum 11. April 1949 dauerten die Nürnberger Prozesse. Fast alle wurden zur Rechenschaft gezogen. Nur, das macht all das Leid und Grauen leider nicht ungeschehen. Im August 1949 habe ich in Cuxhafen meinen ersten Zollgrenzschutzlehrgang absolviert. Das Gruppenfoto vor mir zeigt die Klasse Sieben mit den Kollegen. Und jetzt bin ich hier in Groß Saarau an der Zonengrenze und versehe meinen Dienst. Unser Zollhaus ist alt und es gibt nur einen Ofen. Wir sind vier Kollegen, die sich zwei feuchte kleine Schlafräume teilen. Wer ein Geschäft zu verrichten hat, muss in den angrenzenden Wald gehen. Es ist wieder bitterkalt und doch fühle ich etwas Wärme in mir. Mutter und die kleine Schwester leben. Es geht ihnen zwar nicht übermäßig gut, aber sie besitzen ein Dach über dem Kopf und sie sind am Leben. Nur das allein zählt im Augenblick. Ich habe nun einen Beruf, der mir ein, wenn auch sehr geringes, Einkommen gewährleistet. Meinen Traum vom Förster- Leben konnte ich nicht verwirklichen und für den Polizeidienst war ich zwei Zentimeter zu klein. Aber die Zollprüfung habe ich mit guten Noten bestanden. Am Schlagbaum stehen wir uns nun mit den russischen Soldaten Auge in Auge gegenüber. Einer schenkte mir gestern eine kleine Friedenstaube auf einer Anstecknadel. Ein gutes Omen?
Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft und seit dem 14. August gibt es in Deutschland eine demokratisch gewählte Regierung. Kurz nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland mit unserem neuen Präsidenten Theodor Heuss, entstand drüben im anderen Teil ebenfalls ein neuer Staat. Überall liegen die Städte in Trümmern. Die Menschen suchen verzweifelt nach ihren Angehörigen. Viele Kameraden sind noch in russischer Gefangenschaft in Sibirien.
Ob die Menschheit jemals vernünftig wird und die Völker lernen werden, in Frieden miteinander zu leben?
Vor ein paar Tagen habe ich beim Tanzen in Lübeck eine junge Frau kennengelernt. Sie hat einen kleinen Jungen aus erster Ehe mit einem Luxemburger. Es war nicht leicht gewesen, sich dort scheiden zu lassen und sie musste jetzt wieder neu eingebürgert werden. Sie kommt aus Lübeck und erzählte von ihrem Vater. Mit Siebzehn sollte auch sie zum Reichsarbeitsdienst, wie alle jungen Deutschen. Doch der Vater wollte sie nicht gehen lassen. Sie war seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr in Stellung gewesen und musste alles verdiente Geld zuhause abgeben. Als sie zum Dienstantritt nicht erschien, wurde sie abgeholt und kam in ein Straflager für Frauen. Dort gab es wenig zu essen, Schläge und sie musste bis zur Erschöpfung harte Arbeiten verrichten. Unschuldig. Sie hatte sich sogar auf den Dienst gefreut. Ich konnte das Unrecht, das ihr geschehen war, gut nachfühlen.
Jetzt arbeitet sie in einer Fischfabrik und ihre Schwester passt auf den Jungen auf, damit sie wenigstens für ein paar Stunden am Abend in eine andere Welt entfliehen kann. Sie macht einen netten Eindruck. Aber ich verdien als Zöllner zu wenig, um eine Familie zu ernähren. Ans Heiraten kann ich nicht denken. Das wird noch ein paar Jahre dauern.
Meine Eltern heirateten am 24. Dezember 1955 in Lübeck. Am 18.04.1956 wurde ich dort geboren.
(Michael Hansen, geb. Swoboda)
Ich schreibe unter dem Mädchennamen meiner schlesischen Urgroßmutter als Manuel Magiera.
Meinem Vater Wilhelm Swoboda, geb. 06. Mai 1927 in Kamenz/Niederschlesien, gest. am 01.09.2005 in Flensburg und meiner Mutter Wanda Swoboda, geb. 17.Juli 1924 in Lübeck, gest. 21. März 1998 in Löwenstedt, gewidmet.
Seine Lebens-und Kriegserinnerungen erzählte mir mein Vater erst kurz vor seinem Tod. Als Kind konnte ich viele seiner Verhaltensweisen nicht nachvollziehen und ertappte mich sogar dabei, ihn zu belächeln. Ich wuchs behütet während der Zeit des Wirtschaftswunders auf. Als ich seine Geschichte niederschrieb, liefen mir Tränen übers Gesicht.
Der folgende Text erzählt die Wahrheit:
Von einer herrlichen Landschaft in Niederschlesien und einer schönen Kindheit in Kamenz (Glatzer Neiße). Gegenüber stehen der Schrecken des Krieges und die fatalen Auswirkungen auf die schlesische Bevölkerung. Mein Vater lebte von Herbst1944 bis Mai 1945 täglich im Angesicht des Todes. Viele seiner Kameraden kamen nie mehr zurück. Die furchtbaren Erlebnisse prägten ihn und meine Mutter für das ganze Leben.
Ich danke Gott dafür, dass er meinen Eltern erlaubte, das Grauen zu überstehen und ich danke meinen Eltern mit dieser, ihrer Lebensgeschichte, dafür, dass sie mir all ihre Liebe und Fürsorge schenkten, damit ich eine behütete Kindheit und Jugend haben durfte. Ich kann sie beide nur noch auf dem Friedhof besuchen, aber ich kann sie jetzt verstehen.
Mein Kamenz in Schlesien
„Willi, komm, der Zug fährt gleich ein. Wir wollen doch den Führer sehen!“ Aufgeregt winkte mir meine sechzehnjährige Tante Elisabeth zu. Ich sah noch einmal auf die friedlich dahinfließende Glatzer Neiße. Dann drehte ich mich um und rannte, so schnell mich meine elfjährigen Beine tragen konnten, zum Bahnhof. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen. Die Leute beeilten sich, einen Platz mit Blick auf die Bahngleise zu erhaschen. SS Männer in Uniform marschierten an mir vorbei. An den Gebäuden hingen die Fahnen mit den Hakenkreuzen.
Ich lief wie üblich zum Bahnhofsschuppen und kletterte flink auf die alte knorrige Eiche. Von hier oben hatte man den besten Ausblick. Meine Freunde aus dem Jungvolk waren schon da. Einer rückte etwas zur Seite und zeigte plötzlich in die Richtung, aus der sich langsam schnaufend die Lokomotive näherte.
Wie elektrisiert rissen die Menschen ihre Arme hoch. Aus tausend Kehlen riefen sie dem Führer zu. Auch wir Kinder wurden von der Begeisterung angesteckt. Wir streckten unsere Arme soweit es nur möglich war nach vorne und schrien mit Leibeskräften seinen Namen.
Das Erlebnis ist nun zwölf Jahre her. Zwölf Jahre Albtraum, die meine heile Kinderwelt völlig veränderten. Ich sitze am Tisch, schaue meine alten Bilder an und blicke dann auf die Lebensmittelmarken für Januar und Februar 1950. Meine Gedanken wandern zurück und ich sehe alles vor mir, als ob es gestern gewesen wäre.
Ich wurde am 06. Mai 1927 in Kamenz in Niederschlesien geboren. Meine Mutter war eine von sieben Schwestern einer Ofensetzers Familie. Großvater Gustav war nach Urgroßvater Rudolf bereits in zweiter Generation Ofensetzer-Meister gewesen und starb im Oktober 1930. Meine beiden Onkel fielen in sinnlosen Kriegen. Vater war Schlosser von Beruf, aber ich habe ihn leider nie richtig kennengelernt. Warum meine Eltern trotz der katholischen Familie nicht heirateten, hing mit persönlichen Differenzen zwischen meinem Vater und meinen Großeltern zusammen. Doch als kleiner Junge merkte ich davon nicht viel. Nach den sieben Töchtern war ich der erste männliche Nachkomme und wurde entsprechend verhätschelt. Über meine Kindheit im Riesengebirge konnte ich mich nicht beklagen. Meine einige Jahre ältere Tante beschwerte sich später, ich hätte von Schlittschuhen über Skier alles bekommen, was sie sich ein Leben lang sehnlichst gewünscht hatte. Ich wurde im Jahr der Machtergreifung eingeschult und konnte an diesem Tag eine riesige Schultüte mein eigen nennen. Am Führergeburtstag, dem 20. 04. 1933, gab es in der Schule Würstchen. Natürlich nahm ich unkritisch alles hin, was man uns bei brachte. Ich war ein kleines Kind und wer konnte ahnen, dass wir für eine Ideologie missbraucht wurden, die uns nur zwölf Jahre später den Untergang des ganzen Landes bescheren würde!
In der Schule kam ich recht gut mit. Das war wichtig, denn die Lehrer hatten wesentlich mehr Freiheiten als heute. Der Rohrstock gehörte obligatorisch zur Ausstattung eines Klassenzimmers dazu. Man musste die Hände flach nach vorn ausstrecken und der Stock sauste darauf. Es war eine äußerst schmerzhafte Angelegenheit und wohl dem, der davon verschont blieb. Mit zehn Jahren fing ich wie alle anderen im Jungvolk an. An den Nachmittagen hatten wir unsere Gruppentreffen. Sport wurde sehr groß geschrieben. Bälle und Keulen zum Werfen besaßen bereits exakt das Gewicht und die Größe von Handgranaten sowie Panzerfäusten. Wir wurden gezielt auf unseren Einsatz als Soldaten ausgebildet. Es gab nur den Führer und die Nationale Gesinnung. Bevor ich Jungvolkjunge wurde, musste ich die „Pimpfen“ Probe bestehen.
Sie bestand aus einem Sechzig-Meter-Lauf, Weitsprung und Schlagballweitwurf. Zusätzlich nahm man an einer eintägigen Fahrt teil und sollte den Aufbau des Fähnleins (so hieß der Aufbau der gesamten Organisation aller Gruppen und Züge) kennen. Das Wissen um den Lebenslauf des Führers gehörte selbstverständlich genauso dazu, wie das Singen des Horst-Wessel-Liedes, des Deutschlandliedes und unseres HJ Fahnenliedes. Ich erinnere mich noch an das Motto:
Jungvolkjungen sind hart, schweigsam und treu.
Jungvolkjungen sind Kameraden.
Des Jungvolkjungen Höchstes ist die Ehre.
Den Sinn verstanden die Wenigsten, gelernt haben wir es alle. Es war gar nichts anderes möglich. Keiner konnte sich ausschließen. Die Teilnahme war Pflicht und unsere Eltern riskierten eine Menge Ärger, wenn sie ihre Kinder nicht ins Jungvolk schickten. Wir waren zu Hause seit jeher katholisch gewesen und so blieb meine Erziehung immer christlich geprägt.
Die späteren Leistungsabzeichen und Prüfungen habe ich nicht mitgemacht, weil die Schule Vorrang hatte. Darauf legte meine Mutter großen Wert. Da ich zum Besuch der Handelsschule mit dem Zug nach Glatz und ins Aufbaugymnasium nach Münsterberg fahren musste, wurde ich durch die langen Schulwege der HJ-Organisation etwas entrissen. Ich nahm allerdings an Freizeiten teil, fuhr ins Skilager, welches von der SS geleitet wurde und erlebte eine herbe Enttäuschung.
Durch mein eigentliches Hobby, dem Segelfliegen, mit Kameradschaft und Unterbringung verwöhnt, dachte ich, so eine Skifreizeit wäre mal eine kleine Abwechslung in den Ferien. Weit gefehlt!
Es ging sogleich mit militärischem Drill zur Sache. Morgens um halb sechs Uhr hieß es, erst einmal alle in Unterhosen raus zur Schneeballschlacht. Ich dachte, was mich nicht umbringt, macht mich vielleicht härter und sah zu, dass ich diese Freizeit so schnell es ging, überstand. Es war das erste und letzte Mal, dass ich mich für so etwas anmeldete. Zukünftig blieb ich bei der Fliegerei. Dort war die Unterbringung nicht nur besser, auch der harte Drill fehlte. Flieger sind eine Spezies für sich und das vermittelten uns auch die Ausbilder. Wir mussten allerdings viel lernen.
In den Schulungsräumen paukten wir stundenlang theoretische Grundlagen und Wetterkunde. Am Anfang ging es im offenen Gleiter über die Wiese. Es gab den A, B, und C-Schein. Ich hab sie alle gemacht und ein Hakenkreuz ziert heute meine alten Prüfungszeugnisse. Die Segelflugschule in Grunau bei Hirschberg wurde mein zweites zu Hause. Ich verbrachte dort jede freie Minute. Nach den ersten erfolgreichen Starts und Landungen ging es bald in die „richtige“ Maschine und man wurde mit der Winde nach oben gezogen. Zunächst flog noch ein Ausbilder mit. Später kam der große Moment, als wir auf uns allein gestellt, im wahrsten Sinne des Wortes über den Wolken schweben durften. Schnitzer konnten wir uns keine erlauben! Einer der Jungen schaffte es nicht rechtzeitig die Winde wieder auszuklinken, so dass er im Flugzeug mit der Nase vorne über abgestürzt wäre, hätte der Ausbilder diese nicht gekappt. Der arme Bursche konnte seine Sachen packen und nach Hause fahren. Hirschberg war die Heimat unserer großen Fliegerin Hanna Reitsch. Wir Jungen vergötterten sie und schlugen uns fast um die Plätze an ihrer Maschine, wenn es darum ging, ihr Flugzeug wieder in den Hangar zurück zu schieben. Dass sie vorhatte, uns zu Kamikaze-Fliegern auszubilden, treibt mir noch heute eine Gänsehaut über die Arme. Ich wollte eigentlich zur Fliegerstaffel. Doch für diese Ausbildung kam der Krieg zu schnell.
Ich war sechzehn Jahre alt, als ich zum Reichsarbeitsdienst ging und als Siebzehnjähriger meldete ich mich freiwillig an die Front. Mein Vorgesetzter wollte mich nicht gehen lassen. Aufgrund meiner Kenntnisse aus Handelsschule und Aufbaugymnasium konnte er mich in der Schreibstube gut gebrauchen. Er bot mir einen gesonderten Lehrgang an, wenn ich bliebe. Ich war genauso verblendet wie alle anderen und lehnte ab. Erst wollte ich für den Führer und das Vaterland kämpfen. Mir wäre sicher vieles erspart geblieben, wenn ich sein Angebot angenommen hätte. Er sah mich sehr merkwürdig an, als ich ablehnte. Heute weiß ich, warum. Aber damals ahnten wir noch nichts von Tod, Leiden und Entbehrung. Auch ich dachte nur an Heldentum und an die Ehre des Vaterlandes, die es zu verteidigen galt. So hatte man es uns beigebracht. An etwas anderes zu denken, kam mir gar nicht in den Sinn. Wie auch! Wir waren hundertfünfzig junge Männer zwischen siebzehn und zweiundzwanzig Jahren, die ihre Grundausbildung in der Kaserne ‚Hermann Göring‘ zu Berlin erhielten. Den imposanten Reichsadler am Eingang werde ich nie vergessen. Wir hatten alles. Warme Kleidung, gutes, reichliches Essen und jede Menge Spaß in unserer Kameradschaft.
Die Front war weit weg und kaum einer wusste, was wir dort vorfinden würden. In der Wochenschau wurde von den Eroberungen und von den Siegeszügen der Deutschen Wehrmacht berichtet. Die Propaganda gestaltete sich genauso effektiv, wie der schon an Größenwahn grenzende Enthusiasmus, der uns als Kinder in Jungvolk und HJ beigebracht wurde. Wir genossen unsere Grundausbildung und fühlten uns wie erwachsene Männer und zukünftige Helden, die das Deutsche Vaterland erretten und wieder zu höchstem Glanze führen würden. Manch einer träumte schon laut vom Eisernen Kreuz und der feierlichen Zeremonie, wenn es vom Führer persönlich überreicht wird. Eines Tages war unser Glück fast perfekt.
Hermann Göring kam mit seinem Gefolge in die Kaserne und aß mit uns einfachen Soldaten in der Kantine. Er saß nur wenige Meter vor mir am Tisch. Ich konnte es kaum fassen, dem Reichsmarschall des Großdeutschen Reichs so nahe gegenüber zu sitzen. Meine Begeisterung damals war grenzenlos! Zumal ich später einmal Förster werden wollte und Göring als Reichsforstmeister und Reichsjägermeister natürlich eine zentrale Figur für diesen Berufswunsch darstellte. Dass es hinter den Kulissen für ihn nicht zum Besten stand, ahnte ich natürlich nicht.
Wir wussten im Spätsommer 1944 eigentlich überhaupt nichts. Dass der Krieg bereits verloren war, ist zwar den Generälen bekannt gewesen, aber die haben natürlich nichts gesagt. So wurde uns die Wahrheit verschwiegen, und wir fuhren völlig blauäugig ohne auch nur den geringsten Schimmer zu haben, was uns erwartete, an die Ostfront.
Nach den ersten Gefechten folgte auf die anfängliche Begeisterung relativ schnell Ernüchterung. Zu allem Übel bekam ich die Krätze und musste ins Feldlazarett. Wir konnten uns wochenlang nicht ordentlich waschen und das Ungeziefer richtete entsprechenden Schaden an. Der Winter 1944/45 war bitterkalt und wir hatten kaum Unterstände, geschweige denn eine Hütte oder Scheune, um der größten Kälte zu entgehen. Ich dachte manches Mal an die Schneeballschlacht im Skilager. Durch diese Spielerei sollten wir abgehärtet werden. Nicht alle überstanden die eisigen Nächte. Wir mussten uns im Zickzack von Warschau gen Westen zurückziehen. Der Russe kam immer näher und die Gefechte nahmen kein Ende.
Als ich das erste Mal aus dem Feldlazarett zurückkam, fehlte bereits die Hälfte der Kameraden. Es waren einige sehr gute Kumpels darunter gewesen. Nachts, wenn es keiner sah, weinte ich um sie, dachte auch an Mutter und die kleine Schwester zu Hause in Schlesien. Irgendwie hatte ich Glück. Im Schützengraben schlief ich einmal völlig entkräftet und übermüdet ein und als ich erwachte, gab es den Wald um mich herum nicht mehr. Staunend blickte ich mich um. Das nächtliche Sperrfeuer hatte ich nicht mitbekommen und wie tot geschlafen. Anscheinend glaubten auch die Kameraden, dass ich nicht mehr am Leben sei. „Willi, bist du noch da?“, hörte ich meine Freunde leise rufen. „Ja“, antwortete ich nach der ersten Schrecksekunde. Ich musste austreten, doch wohin sollte ich gehen? Es machte wenig Sinn den Graben zu verlassen. Der Feind stand draußen und wartete bloß auf einen unvorsichtigen Jungen, der mal eben nur pinkeln wollte. Ich hätte das allzu menschliche Bedürfnis sicher mit dem Leben bezahlt.
Also machte ich es wie die anderen. Zu essen hatten wir auch nichts mehr und es wurde Zeit, über einen weiteren Rückzug nachzudenken. In der nächsten Nacht kam der entsprechende Befehl. Die Kälte durchdrang die Kleidung, die uns verdreckt und stinkend keinen wärmenden Schutz mehr bot.
Beim Reichsarbeitsdienst hatte ich mich immer über unsere Fußlappen mokiert. Damals lachte ich nicht mehr und hätte gerne ein ganzes Königreich, welches ich nicht besaß, dafür gegeben, wenn ich zusätzlich welche besessen hätte. Wir mussten uns immer weiter vor den angreifenden Truppen der Roten Armee zurückziehen. Viele waren nicht mehr da. Später erfuhr ich, dass nur siebzehn den Krieg überlebt hatten. In mir kam während dieser Tage mehr als einmal der Verdacht auf, dass die Ideale, die man uns als Kinder eingetrichtert hatte, gar nicht so ideal waren und ich ertappte mich daran zu denken, dass lieber fünf Minuten feige im Leben besser wären, als den Rest des Lebens mit dem Heldentod zu verbringen.
Ich beschloss also, künftig weniger Gedanken an das Eiserne Kreuz sowie Ruhm und Ehre auf dem Schlachtfeld zu verschwenden, sondern mehr darauf hinzuarbeiten, diesen verdammten Krieg zu überleben. Irgendwann standen wir auf den Seelower Höhen am Oderbruch. Der Russe folgte uns unbarmherzig. Unsere Einheit gab es faktisch nicht mehr. Ich hatte mich zwei älteren Soldaten angeschlossen. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich mit meinen siebzehn Jahren sicher. Allerdings war ich trotzdem schon ein „alter“ Frontkämpfer. Darauf legte ich großen Wert, wenn ich ältere Jungen traf, die gerade aus der Kaserne kamen und noch keine Kampferfahrung besaßen. Einer der Kameraden war Melder und Anfang Fünfzig. Für mich verkörperte er so etwas wie eine Vaterfigur. Ich hörte ihm gerne zu, wenn er von seiner Familie sprach. Und der andere lachte in der Scheune, in die wir uns über Nacht schlafen gelegt hatten. „Die Kugel für mich ist noch nicht gedreht“, meinte er. Dann, am frühen Morgen, hörten wir das Artilleriefeuer. Es kam näher, zu nahe! Wir mussten aus der Scheune ‘raus.
Plötzlich war nur noch Rauch da. Ich warf mich instinktiv auf den Boden und schloss die Augen. Kein Geräusch mehr, nichts. Beängstigende Stille. Nur dichter Rauch. Ich lag eine ganze Weile eng an den Boden gepresst und wartete.
Nach einiger Zeit konnte ich wieder etwas sehen und begann, nach vorne zu kriechen. Langsam arbeitete ich mich Stück für Stück weiter. Immer auf der Hut, rechtzeitig die zischenden Geräusche einer herannahenden Granate wahrzunehmen. Ich hatte inzwischen ein gutes Gespür für die todbringenden Dinge des Lebens entwickelt. Die damals erlernte Vorsicht sollte meine Persönlichkeit für die ganze Zukunft prägen. Und dann erblickte ich sie. Erst lag da der Kopf des Melders. Einige Meter weiter sah ich weitere Teile seines Körpers. Der andere Kamerad ruhte in einer Mulde. Er hatte die Augen geschlossen, als ob er nur schliefe. Seine Gedärme quollen aus dem Bauch hervor. In mir war ein Gefühl tiefster Leere, die in diesem Moment nicht einmal Grauen oder Trauer zuließ. Fassungslosigkeit und die Hoffnung, dies alles nur zu träumen und im nächsten Augenblick in meinem Zimmer in Kamenz aus einem furchtbaren Albtraum aufwachen zu dürfen, machten sich breit. Ich duckte mich, stand langsam auf und lief. Und wieder rannte ich.
Aber diesmal nicht mehr um den Führer zu sehen, sondern um mein Leben!
Ich konnte mich einer anderen Gruppe versprengter Landser anschließen. Wir waren zu viert. Einer war Fallschirmspringer gewesen und bereits in Frankreich hinter den feindlichen Linien abgesprungen. Seine Geschichten riefen Bewunderung in mir hervor. Er war ein feiner Kerl, mit dem ich mich gut verstand. Wenn unsere Erziehung etwas erreicht hatte, dann die Kameradschaft, die uns Jungen und Männer in diesen schweren Zeiten zusammenschweißte. Jeder half dem anderen völlig uneigennützig und stand für den Kollegen ein. Ich habe später nie wieder einen solchen Zusammenhalt unter Männern erlebt. Während unseres Marsches Richtung Westen überholte uns ein Wagen mit zwei Feldjägern darin. Sie stiegen aus und fragten, was wir hier machten. So genau wusste das natürlich niemand. Der Russe war ja nur einen halben Tag hinter uns. Sie meinten, wir wären Deserteure, nahmen uns die Gewehre ab und wollten uns kurzerhand aufhängen. Meine Gedanken schweiften ab.
Ich war doch erst Siebzehn und hatte, sollte ich den Krieg heil überstehen, noch mein ganzes Leben vor mir! Zweimal war ich nun schon im Feldlazarett gewesen. Das erste Mal mit Krätze, kurz nachdem wir an die Ostfront gekommen waren. Und ein paar Wochen später, verfehlte mich eine Granate nur um wenige Millimeter. Doch die kleinen Splitter drangen in meinen Nacken ein und ich musste operiert werden. Zweimal konnte ich also wieder genesen an die Front zurückkehren.
Während eines Gefechts fand ich neben einem toten Soldaten eine Pistole. Er konnte sie gewiss nicht mehr brauchen und mir würde sie vielleicht noch gute Dienste leisten. Es war eine nahezu neuwertige Mauser und noch bevor ich sie neugierig untersuchen konnte, hatte sie mir ein zweiundzwanzigjähriger Unteroffizier bereits wieder abgenommen. Er fragte, ob sie geladen wäre und ich antwortete, dass ich das nicht wüsste, weil ich sie mir noch nicht hätte ansehen können. Er drückte ab und schoss einem Kameraden in den Fuß. Selbstverständlich bekam ich die Schuld an dem Unglück und musste ihn zum Vorgesetzten begleiten. Das Unfassbare geschah: Ich sollte vor ein Kriegsgericht. Voller Angst erklärte ich unserem Hauptmann, dass ich die Waffe gerade erst gefunden hätte und nicht wissen konnte, ob sie geladen sei. Dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und erzählte, dass ich im Übrigen erst Siebzehn wäre und der Unteroffizier im Gegensatz zu mir bereits ein erfahrener Soldat, der doch wesentlich besser wissen müsste, wie man sich in einem solchen Moment verhält. Der Kommandeur schien beeindruckt zu sein und stimmte mir zu. Ich konnte gehen und war dem sicheren Tod entgangen.
Und nun sollte ich schon wieder unschuldig durch die Hand unserer eigenen Leute sterben! Diesmal sah es allerdings sehr ernst aus. Wir besaßen keine Waffen mehr und konnten uns nicht verteidigen. Es war somit auch unerheblich, dass wir vier und die anderen nur zwei waren.
Ich hatte dem Führer stets treu und enthusiastisch gedient und war mehr als enttäuscht, nun doch noch sterben zu müssen. So schloss ich mit meinem Leben ab.
Die Bilder in meinem Kopf wanderten schnell weiter nach Hause. Ich dachte noch einmal an meine Mutter, meine kleine Schwester, meine Onkels und Tanten und an Kamenz in Schlesien.
Die Stadt gehörte zum Kreis Frankenstein. Die Glatzer Neiße floss am Ort vorbei und das Riesengebirge mit dem alten Rübezahl lag vor der Haustür.
Kamenz war eine sehr alte Gemeinde, die sich bereits 1096 im Schutz eines Klosters entwickelt hatte. Das Kloster wurde später sogar berühmt, als am 27. Februar 1741 König Friedrich II, also Friedrich der Große, dort auf der Flucht vor den Truppen der Österreicher Schutz fand. Ich sah das Schloss vor mir, in dem mein Großvater als Ofensetzer-Meister die großen alten Kachelöfen reparierte. Wie oft war ich dorthin gelaufen, um den Männern ihr Vesperbrot zu bringen und hatte stundenlang in den vielen Räumen gespielt. Es gehörte natürlich der Familie der Hohenzollern und wenn der Prinz anwesend war, wurde immer geflaggt.
Dann erinnerte ich mich an unseren Mühlgraben, in dem die Freunde im Sommer badeten. Auf den Schulausflügen wanderten wir regelmäßig ins Riesengebirge. Ich bekam stets eine Zitrone von meiner Mutter mit. Die drückte ich in einer Flasche aus und füllte diese mit herrlichem Bergquellwasser auf. Keine gekaufte Limonade konnte den wunderbaren Geschmack ersetzen. Mutters Klöße und das selbst hergestellte Sauerkraut ließen mir das Wasser im Munde zusammen laufen. Ich war ja im Jahr der Machtergreifung des Führers zur Schule gekommen und zum Führergeburtstag am 20. April gab es damals Würstchen. Was hätte ich jetzt für ein schönes Würstchen mit Senf gegeben!
Das Jungvolk und die HJ hatte ich wie jeder Junge im Dorf durchlaufen und war stolz gewesen, als ich mein Fahrtenmesser bekam. Es ging uns Kindern gut. Wir konnten sogar Witze über den Führer machen und nichts passierte. Ich wollte doch so gerne nach dem Abitur Förster werden! Mit meiner Großmutter ging ich als kleiner Junge oft in den Wald zum Pilze sammeln. Sie war sehr erfahren darin gewesen und fand schnell die besten Plätze mit den schönsten Pfifferlingen. Die schlesischen Wälder sind ein Naturwunder für sich. Im November liefen wir Schlittschuh und pünktlich mit dem ersten Schnee, meistens Anfang Dezember, wurden die Skier hervorgeholt. Wir sausten die wunderschönen Berge hinunter. Natürlich bauten wir Jungens uns kleine Sprungschanzen. Es verging kein Wintertag ohne Blessuren und blaue Flecke, aber das schreckte mich nicht ab. Mein Leben lief wie in Zeitlupe an mir vorbei.
Was dann plötzlich geschah, übertraf alles, was ich bisher erlebt hatte. Der Fallschirmspringer entriss einem der Feldjäger das Maschinengewehr und auf einmal lagen beide Feldjäger tot am Boden.
Und dann liefen wir los. Wieder rannte ich um mein Leben. Ein LKW hielt neben uns an. Darauf saßen die wenigen Kameraden, die übrig geblieben waren. Unser Kommandeur wusste schon lange, dass wir den Krieg verloren hatten. Er wollte nicht auch noch die letzten seiner Soldaten verheizen. Wir fuhren nicht mehr nach Berlin, sondern Richtung Ostsee. So konnte ich dem ‚Kessel‘ entfliehen.
Ich kam nach Himbergen in Niedersachsen in englische Kriegsgefangenschaft und erlebte dort zusammen mit tausenden Kameraden auf einer Wiese hinter einem Stacheldrahtzaun hungernd und ausgezehrt am 06. Mai 1945 meinen achtzehnten Geburtstag. Gemessen an den Lebensmitteln, die wir in der Gefangenschaft erhielten, kann ich mir mit dem, was ich mir heute für die Lebensmittelmarken holen darf, tagelang den Bauch vollschlagen. Nicht einmal an der Front mussten wir derart hungern, wie in Gefangenschaft.
Unser Führer war inzwischen in Berlin den Heldentod gestorben und hatte sein Land in Trümmern liegend zurückgelassen. Ich wusste nicht mehr an wen oder an was ich noch glauben sollte. Irgendwann konnten wir dann nach Hause gehen. Aber wo war mein zu Hause? Ich erfuhr, dass Schlesien nun von Polen besetzt war und sie alle Bewohner aus ihren Häusern vertrieben hatten. Meine Mutter und meine kleine Schwester waren mit der Großmutter und den Tanten sicher auch geflohen. Aber wie sollte ich sie in dem zerbombten Land je wieder finden?
Der Russe stand an der Elbe. Auf der anderen Seite teilten sich die Amerikaner unser tausendjähriges Reich nun mit den Engländern und den Franzosen.
Siegermächte nannten sie sich. Und ich wollte nur meine Mutter und die vierjährige Schwester wieder sehen! Hatten wir unsere Heimat wirklich für immer verloren? Ich war ausgemergelt und fast verhungert. In der Gefangenschaft lernte ich einen hessischen Bauern kennen. Sein Angebot, ihn nach der Entlassung zu ihm nach Hause zu begleiten, nahm ich dankbar an. In Hessen kam ich wieder zu Kräften. Danach fuhr ich im Güterwagen quer durch Deutschland bis nach Österreich und zurück, suchte verzweifelt meine Familie und schlief dabei draußen unter Brücken---wie die meisten anderen, die ich unterwegs traf. Das Leid der Menschen in dem zerstörten Land war unvorstellbar. Ständig kamen neue Flüchtlingsströme aus dem Osten an. Meine Mutter war nie dabei. Die Männer erzählten von Gräueltaten der Sieger an der Bevölkerung. Zu grausam, um sie niederzuschreiben.
Ich hörte ihnen zu und dachte an die eigenen Erlebnisse mit unseren Leuten. Es klingt hart, aber wir waren nicht besser gewesen. Es bewahrheitete sich nur ein altes Sprichwort: Wie du mir, so ich dir. Ich musste hilflos zusehen, wie Kameraden kaltblütig unschuldige Zivilisten und unsere Kriegsgefangenen töteten.
Meine katholische Erziehung war tief mit meinem Gewissen verwurzelt und ich flehte Gott an, mich nicht solch furchtbaren Erlebnissen auszusetzen. Die Bilder werde ich nie vergessen und als es dann auch die dafür verantwortlichen Kameraden traf, konnte ich kein Mitgefühl mehr für sie aufbringen. Meinen Gefangenen ließ ich in einem unbeobachteten Moment frei und hoffte, dass er es wieder nach Hause ins Mütterchen Russland geschafft hat.
Nach dem Krieg heuerte ich als einfacher Matrose auf einem Minensuchboot an und versah meinen Dienst als Steward beim Kapitän. Vom 11.02.1946 bis zum 18.12.1947 räumten wir Minen in Norwegen. Es war alles in allem keine schlechte Zeit. Ich hatte Arbeit und genug zu essen. Der Kapitän war ein guter Vorgesetzter und auch mit den Kameraden an Bord verstand ich mich bestens. Da ich nicht schwimmen konnte, lag meine Rettungsweste stets griffbereit. Sehr zur Freude der Kollegen, die immer wieder lachten, wenn sie mich in Schwimmweste auf dem Schiff herum laufen sahen. Doch meine Gedanken wanderten vor allem nachts, wenn ich nicht schlafen konnte, zu meiner Familie. Ich hatte noch kein Lebenszeichen von Mutter erhalten und auch sonst nichts von Bekannten oder Verwandten aus dem Dorf erfahren. Als wir wieder nach Kiel Friedrichsort kamen und das Schiff eine Zeitlang auf der Werft überholt werden musste, hörte ich plötzlich, dass jemand auf dem Flaggschiff Kontakt zu Leuten aus Kamenz hergestellt hatte. So erfuhr ich endlich den Aufenthaltsort meiner Mutter. Sie hatte das Elternhaus bei Nacht und Nebel mit nur wenigen Habseligkeiten verlassen müssen und war mit vielen anderen zusammen mit meiner kleinen Schwester im Güterwaggon in den Westen geflohen. Der Flottenkommandant gab mir sofort frei und mit einem Seesack voller Lebensmittel konnte ich ihnen etwas aus der schlimmsten Not helfen. Doch bleiben wollte ich nicht, denn es war ohnehin viel zu wenig Platz in ihrer Notunterkunft im niedersächsischen Dinklage. Aber wir hatten überlebt und waren wieder zusammen.
Mutter meinte, wir müssten dem Herrgott dafür dankbar sein. Durch ihren starken Glauben konnte sie sich mit der Situation arrangieren. Die Heimat sah sie nie wieder.
Langsam fing ich an, mich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ich kannte nur die Nazidiktatur und war wie selbstverständlich damit aufgewachsen. In der Familie gab es zwar keine übermäßige Sympathie, aber andererseits auch keine Ablehnung. Wir fügten uns in das System, welches von der Regierung vorgegeben wurde. Von den Gräueltaten in den Konzentrationslagern wurde nichts in der Wochenschau berichtet. Erst nach dem Krieg hörte ich, was man dem jüdischen Volk und all den anderen, die nicht ins Regime passten, dort angetan hatte.
Fassungslos und ungläubig las ich voller Entsetzen die Zeitungsberichte und schämte mich einmal mehr, damals dem Führer so begeistert wie die anderen Kinder und Erwachsenen zu gejubelt zu haben.
Vor mir liegt das Foto des Kamenzer Schlosses. Es ist eines der wenigen Bilder, die mir von zu Hause geblieben sind. Ob ich es je wiedersehen werde?
Unsere Begeisterung haben wir mit dem Verlust der Heimat teuer bezahlt. Und wie viele Menschen sind in diesem sinnlosen Krieg gestorben! In meinem Kopf sehe ich gefallene Kameraden und verbrannte Erde. Es ist beruhigend zu wissen, dass es auch die dafür Verantwortlichen getroffen hat. Bis zum 11. April 1949 dauerten die Nürnberger Prozesse. Fast alle wurden zur Rechenschaft gezogen. Nur, das macht all das Leid und Grauen leider nicht ungeschehen. Im August 1949 habe ich in Cuxhafen meinen ersten Zollgrenzschutzlehrgang absolviert. Das Gruppenfoto vor mir zeigt die Klasse Sieben mit den Kollegen. Und jetzt bin ich hier in Groß Saarau an der Zonengrenze und versehe meinen Dienst. Unser Zollhaus ist alt und es gibt nur einen Ofen. Wir sind vier Kollegen, die sich zwei feuchte kleine Schlafräume teilen. Wer ein Geschäft zu verrichten hat, muss in den angrenzenden Wald gehen. Es ist wieder bitterkalt und doch fühle ich etwas Wärme in mir. Mutter und die kleine Schwester leben. Es geht ihnen zwar nicht übermäßig gut, aber sie besitzen ein Dach über dem Kopf und sie sind am Leben. Nur das allein zählt im Augenblick. Ich habe nun einen Beruf, der mir ein, wenn auch sehr geringes, Einkommen gewährleistet. Meinen Traum vom Förster- Leben konnte ich nicht verwirklichen und für den Polizeidienst war ich zwei Zentimeter zu klein. Aber die Zollprüfung habe ich mit guten Noten bestanden. Am Schlagbaum stehen wir uns nun mit den russischen Soldaten Auge in Auge gegenüber. Einer schenkte mir gestern eine kleine Friedenstaube auf einer Anstecknadel. Ein gutes Omen?
Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft und seit dem 14. August gibt es in Deutschland eine demokratisch gewählte Regierung. Kurz nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland mit unserem neuen Präsidenten Theodor Heuss, entstand drüben im anderen Teil ebenfalls ein neuer Staat. Überall liegen die Städte in Trümmern. Die Menschen suchen verzweifelt nach ihren Angehörigen. Viele Kameraden sind noch in russischer Gefangenschaft in Sibirien.
Ob die Menschheit jemals vernünftig wird und die Völker lernen werden, in Frieden miteinander zu leben?
Vor ein paar Tagen habe ich beim Tanzen in Lübeck eine junge Frau kennengelernt. Sie hat einen kleinen Jungen aus erster Ehe mit einem Luxemburger. Es war nicht leicht gewesen, sich dort scheiden zu lassen und sie musste jetzt wieder neu eingebürgert werden. Sie kommt aus Lübeck und erzählte von ihrem Vater. Mit Siebzehn sollte auch sie zum Reichsarbeitsdienst, wie alle jungen Deutschen. Doch der Vater wollte sie nicht gehen lassen. Sie war seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr in Stellung gewesen und musste alles verdiente Geld zuhause abgeben. Als sie zum Dienstantritt nicht erschien, wurde sie abgeholt und kam in ein Straflager für Frauen. Dort gab es wenig zu essen, Schläge und sie musste bis zur Erschöpfung harte Arbeiten verrichten. Unschuldig. Sie hatte sich sogar auf den Dienst gefreut. Ich konnte das Unrecht, das ihr geschehen war, gut nachfühlen.
Jetzt arbeitet sie in einer Fischfabrik und ihre Schwester passt auf den Jungen auf, damit sie wenigstens für ein paar Stunden am Abend in eine andere Welt entfliehen kann. Sie macht einen netten Eindruck. Aber ich verdien als Zöllner zu wenig, um eine Familie zu ernähren. Ans Heiraten kann ich nicht denken. Das wird noch ein paar Jahre dauern.
Meine Eltern heirateten am 24. Dezember 1955 in Lübeck. Am 18.04.1956 wurde ich dort geboren.
(Michael Hansen, geb. Swoboda)
Ich schreibe unter dem Mädchennamen meiner schlesischen Urgroßmutter als Manuel Magiera.
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