Liebe Petra, deine kritische Haltung in Ehren.
Aber muss man nicht auch Respekt vor den Gedanken, Gefühlen und dem daraus resultierenden
literarischen Schrifttum des Urhebers haben?
Er wollte es eben so ausdrücken - und nicht wie andere es tun würden ... (Das gilt für alle, die ihre Texte hier präsentieren)
Hey aliceg!
Bei Deiner Anmerkung bin ich zwar nicht angesprochen, aber sie spricht mich unmittelbar an
insofern nämlich als die Haltung, die man zu der von Dir aufgeworfenen Frage einnimmt, entscheidend für die Rezeption von Gedichten (resp. allen literarischen Ausdrucksformen, resp. jeder Kunsthervorbringung überhaupt) ist.
Und ich persönlich würde Deine Frage mehrgeteilt beantworten, nämlich mit einem klaren JA und drei klaren JEDOCHen (JEDOCHs? JEDOCHers?) und einem Asterisk
Also:
Muss man Respekt vor dem Schrifttum einer Autorin oder eines Autors haben, weil sie oder er einen Text eben gemäß ihrer Anliegen, Gedanken oder Gefühle geschrieben haben und eine Kritik des Textes daher die Intentionen der Autorin oder des Autors missachtet?
JA: Man muss insofern Respekt haben, als man im Prinzip vor JEDEM Menschen Respekt haben sollte.*
JEDOCH: Ein ästhetischer Solipsismus, bei der jede Kunsthervorbringung durch das Urteil des Hervorbingenden gerechtfertigt (oder widerlegt) wird, beendet effektiv die Möglichkeit eines Diskurses über Kunst und jeden Versuch einer differenzierenden Konsensbildung.
JEDOCH: Viele Autor*innen haben zwar eine (vage) Vorstellung davon, was sie hervorzubringen beabsichtigten, aber gerade diese Vorstellung trübt ihre Fähigkeit, das Produkt ihres Schaffens wirklich nachvollziehbar zu bewerten (im positiven oder auch negativen Sinne). Manche(r) Autor*in (gerade solche mit geringem Talent und/oder wenig Erfahrung) werden ihre Erzeugnisse in stupender Verblendung gnadenlos überschätzen, während andere Autor*innen (gerade solche mit mehr Talent und Erfahrung) dazu tendieren mögen, den Wert ihrer Kunst zu verkennen.
JEDOCH: Die Erfahrung lehrt, dass es sehr wohl einen gewissen objektiven Korridor bei der Bewertung von Ästhetik gibt. Dieser Korridor ist zugegebenermaßen etwas zeitgebunden, so dass es im Fall von Avantgardekünster*innen, die ihre Kunst eher zukünftigen Generationen widmen, zu negativen Fehlurteilen kommen kann (nicht muss!), die später zu revidieren sind und (viel wichtiger m. E.) im Fall von totalen "Mainstream"-Künster*innen, die ihrem Zeitgeist 100% entsprechen womöglich das Urteil der informierten Zeitgenossen zu positiv ausfällt. Dennoch kann man schon sagen, dass die kollektive Bewertung kunstkundiger (hier ist der diskussionwürdige Knackpunkt!) Menschen, im Fall von untalentierten und lernunwilligen Autor*innen häufig so weit daneben nicht liegt. Die meisten Autor*innen, die zu Lebzeiten keinen größeren Zuspruch ernteten, später aber im Ansehen gestiegen sind, waren entweder Avantgardisten oder blieben Mangels Publikationsmöglichkeiten einfach den Zeitgenossen unbekannt. Wobei man wiederum bzgl. der Avantgardisten schon sagen muss, dass viele dieser bunten Vögel, die heute zu Klassikern erhoben werden, auch durchaus zu Lebzeiten eine vielleicht nicht riesige, aber treue und namhafte Anhängerschaft hatten.
Soweit meine Gedanken dazu.
LG!
S.
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*Durchaus differenziert zu diskutierende Grenzfälle von Menschen, die sich ganz außerhalb des menschlichen Grundwertekanons stellen, also quasi das "Hitler-Argument", wollen wir vielleicht hierbei ausklammern, weil die Schnittmenge zu allen sich mehr oder weniger "anständig" verhaltenden Menschen relativ gering ist und man aus diesem Spezialfall wenig für die Allgemeinheit ableiten kann und vice versa, einverstanden?