Kindlein (gelöscht)

E

Edgar Wibeau

Gast
Hallo, Julia!

Nach längerer Schaffenspause meldest Du Dich zurück und beweist erneut, dass Du die Gabe besitzt, Sprache einzusetzen wie einen Elektroschocker. Unvergessen und kaum zu übertreffen in diesem Zusammenhang: "Memories".
Aber auch "Kindlein" besticht durch ähnliche Qualität. Der Leser vermutet zunächst, er habe es mit einem harmlosen, etwas kitschigen Wiegenlied zu tun.
Die Sprache klingt stellenweise süßlich-altertümelnd: "Irgendwann kommt mal die Zeit, / da alles sich zum Guten wendet", Bilder wirken aufgesetzt kindlich: " Siehe, dort im frischen Schee / tollt Teddy mit dem Hund."
Doch dann trifft es den Leser, der in seiner Arglosigkeit Taggespenster und Schwarzen Mann als drohende Vorboten unterschätzt hat, wie ein Starkstromschlag: Das merkwürdige Kinderspiel in der scheinbaren nächtlichen Idylle ist nur eine trügerische Zuflucht vor den Übergriffen des Erwachsenen, der mit dem Kind "die Sachen" macht, "die er so gerne mag".
Ein eindrucksvoller Text, der sich auf ungewöhnliche Weise mit einem schrecklichen Thema auseinander setzt.

Gruß

EW
 

La Luna

Mitglied
Lieber Ed,

in der Tat bin ich positiv überrascht von der Gründlichkeit, mit der du meinen Beitrag last.
Während des Schreibens fragte ich mich, ob ich nicht deutlicher werden müsse, ob der Leser wirklich so lange „durchhält“, bis die Offenbarung das Ganze in einem anderen Licht erscheinen lässt. Andererseits wollte ich auch nicht zu früh die kindliche Gefühlswelt verlassen. Der „schwarze Mann“ sowie die Taggespenster musste das lyr. Ich vorher erwähnen, und zwar aus dem Grund, weil die klare Schuldzuweisung für das misshandelte Kind wichtig ist.

Sprache als Elektroschocker – das amüsierte mich.
Das Wort ist jedoch das einzige Ausdrucksmittel, das wir hier zur Verfügung haben, und darum muss es „sitzen“.
Es ist schon so, dass ich mich meistens vorher frage, welche Gefühle ich im Leser auslösen möchte. Dementsprechend wähle ich dann Stil und Wortwahl aus.
Klar, ich bin dabei maßgeblich auf mein eigenes Gefühl angewiesen, darum werde ich auch nicht jeden erreichen. Aber bemüht bin ich schon, das gebe ich gern zu.

Bemüht bin ich auch darin, nur mitzuteilen, was mitteilungswert ist. Da mache ich schriftstellerisch keinen Unterschied zum gesprochenen Wort. Smalltalk und die Wiedergabe anderer Banalitäten sind m.E. so überflüssig wie ein Kropf.
Wozu sich also damit beschäftigen, wenn doch so viel Wichtigeres auf einen wartet?
Schaffenspause trifft es daher nicht ganz. Es ist eher eine kontinuierliche Schaffenspause mit kleinen Einbrüchen. ;o)


Mit besten Grüßen
Julia
 

Netotschka

Mitglied
Liebe La Luna,

Dein Gedicht hat mich tief berührt. Die Verbindung von Inhalt und Sprache scheint mir mehr als gelungen. Gerade die Wahl des gleichmäßigen Rhythmusses im Kontrast zum inhaltlich formulierten Schrecken hat eine aufwühlende Wirkung auf mich.

Vielen Dank für diesen Lesegenuss.

Gruß, Netotschka
 

La Luna

Mitglied
Liebe Netoschka,

Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.
Gegensätze ziehen sich an und machen nicht nur
Gedichte spannend. ;)


Herzliche Grüße
Julia
 

San Martin

Mitglied
Gefällt mir gut, und ich hab nur eine kleine Dinge zu bemängeln:

Technisch gibt es einige (nicht so wichtige) Unzulänglichkeiten, wie z.B. der Wechsel zwischen Jambus und Trochäus. Das "sowie" in der 5. Strophe passt nicht zum Metrum. Ein "als auch" z.B. würde besser passen.

Dann inhaltliche Probleme:

Wieso ist sie in der Nacht sicher? Rein statistisch könnte man annehmen, dass Männer Kinder eher im Dunkeln missbrauchen als bei hellichtem Tag (psychologisch erklärbar). Natürlich ist das kein Gesetz - es wundert mich bloß, dass du das Übliche über den Haufen wirfst.
Dann enthält die 5. Strophe einen logischen Widerspruch: Alles Gute endet, steht da, aber es heißt dort auch, dass alles sich zum Guten wendet.

Martin.
 

La Luna

Mitglied
Hallo Martin,

zunächst erstmal herzlichen Dank für deine ausführlichen Anmerkungen. Damit lässt sich doch was anfangen. :)
Die Wechsel zwischen Jambus und Trochäus sind sozusagen meine persönliche Note. Ich bin mir durchaus bewusst, dass es unüblich ist, doch setze ich gerade dadurch gewisse Akzente, und zwar immer dann, wenn ich entweder einen "Hingucker" brauche, oder wenn ich - im Rahmen eines Auftakts - das Tempo wechsele.
Mit dem Metrum ist allerdings nicht zu spaßen. ;)
Das "sowie" habe ich gern durch dein "als auch" getauscht. So gefällt es auch mir besser.
Nun zum Inhaltlichen: Man mag wohl meinen, dass Kinder öfter nachts als tagsüber missbraucht werden. Aber das stimmt nicht. Zudem steht im Gedicht nichts von Missbrauch. Auch Misshandlungen anderer Art geschehen meist am Tage. Wohl deshalb, weil auch Täter ihren Schlaf brauchen.
Bleibt noch der vermeintliche Logikfehler, der kein solcher ist, wenn du die Wendung zum Guten als die der letztmöglichen Konsequenz betrachtest. Was wir als guten oder schlechten Ausweg werten, ist doch immer mit der Stärke des empfundenen Leidensdrucks im Hier und Jetzt gekoppelt.


Lieber Gruß
Julia
 

sekers

Mitglied
Lösest endlich auch einmal/meine Seele ganz

Hallo Mondlicht,

Ein schönes Gedicht hast Du da geschrieben.

Und was für eine begnadete Illusionistin Du doch bist.

Es liegt eine bange Stimmung über dem Text. Durchgehend, dicht, aus dem Nichts kommend. Aber von Deinen Worten oder Bildern wird sie nicht erzeugt. Bangen ... vorm schwarzen Mann, da gibt es Furchterregenderes. Dass ein Kind noch viel lernen muss, und auch das Leid kennenlernen wird, ist so gruselig auch nicht. Und dass der Vater mit dem Kind Sachen macht, die er so gerne mag, da muss der Leser schon einigermassen vorbereitet sein, dass er sich da gleich seinen Teil phantasiert.

Du schaffst diese ungeachtet schaurige Atmosphäre mit den ständigen Rhythmuswechseln. Es entsteht in mir ein Gefühl der Atemnot. Eine Kurzatmigkeit, die viel mit der Angst zu tun hat, die in diesem Gedicht herrscht.

Im übrigen glaube ich nicht, dass dein Gedicht eine Geschichte vom/über Kindesmißbrauch ist. Es erschließen sich mir viel mehr die Gefühle einer Beschützerin, die beim Beschützen versagt hat.

Liebe Grüße

G.
 
L

Larissa

Gast
Liebe Julia,

im Gegensatz zu sekers denke ich schon, dass es sich um Kindesmissbrauch handelt. Besonders schlimm finde ich, dass die Mutter offensichtlich Bescheid weiß und ihr schlechtes Gewissen mit liebevollen Schlummerliedern zu betäuben versucht.
Ein Gedicht, das betroffen macht.
Du hast die bedrückende, angstvolle Atmosphäre eindringlich geschildert.

Liebe Grüße
Larissa
 

La Luna

Mitglied
...lange hat das Kindlein geschlummert. Jetzt reibt es sich die Äuglein und freut sich über die wohlwollenden Worte, die es geweckt haben.
Es sieht sich im Zimmer um. Staub tanzt im Strahl der Sonne, der den Weg ins Zimmer fand.
Teddy sitzt in der Ecke. Ihm fehlt ein Ohr. Ein bisschen Holzwolle quillt aus seinem linken Bein hervor und Püppi trägt einen Schleier aus Spinnweben.
Etwas blass sind sie geworden, die treuen Vasallen.
Das Kindlein lächelt sie an, dann geht es zur Tür.
Doch es wendet sich noch einmal um. "Danke, Larissa!", flüstert es, hebt die Hand und winkt dir freundlich zu.
Ein neuer Tag hat begonnen und es weiß, dass es ein schöner sein wird.
 



 
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