otto otter
Mitglied
Meine Klavierlehrerin Berta W., eine Jugendfreundin meiner Mutter, stammte aus der Linie jener Stubenmädchen, auf deren einem Richard Wagner im Palazzo Vendramin zu Venedig verschieden war. Bekanntlich hatte der begnadete Kapellmeister einige Jahre zu Tribschen in Luzern verbracht, allwo er den Diensten einheimischer Bediensteter nie abhold war.
Weshalb meine Eltern darauf gekommen waren, mir schon früh mit der Klaviermusik vertraut zu machen, weiss ich nicht. Meine Mutter, der ich oft beim Klavierspiel zusah, hatte vielleicht angenommen, ich würde mich an den Nokturnen Chopins delektieren, während ich nur Augen dafür hatte, wie sie sich, sobald sie am Klavier sass, in ein zauberhaftes Wesen verwandelte, dessen Liebreiz mich jeweils noch lange nachher, wenn ich ihr später beim Abtröchnen des Essgeschirrs half, noch gefangen hielt.
Ich sah mich von jeher in den Lauf der Dinge eingebettet und angelächelt von der Gleichgültigkeit des Lebens. Meine Haltung war eine abwartende und blieb es auch, als ich mich an einem sonnigen Nachtmittag im August des Jahres 1945 mit frisch geschnittenen Fingernägeln auf den Weg zu meiner ersten Klavierstunde befand. Das Haus, in dem meine Lehrerin wohnte, lag dem unsrigen gleich gegenüber. In seinem Vorgarten lungerte liederlich der Goldregen und huschten die Amseln.
Berta W. empfing mich an der Haustür, geleitete mich in den Salon und liess mich an einem Glastisch Platz nehmen, auf dem eine Schale voller Früchte stand. Sie setzte sich neben mich, ergriff eine Banane, schälte sie mit drei anmutigen Handbewe-
gungen, hielt sie mir mit einem abgespreizten kleinen Finger hin, zog sie zurück, als ich sie fassen wollte, hielt sie mir wieder hin und wiederholte das Spiel so lange, bis ich begriffen hatte, dass sie mich füttern wollte, den Mund öffnete und zu essen begann.
Nachdem mir Berta W. den Mund mit einer Serviette abgetupft hatte, führte sie mich zum Klavier, dessen Deckel geöffnet war. Behutsam, fast zärtlich und ohne einen Ton anzuschlagen, fuhr sie mit der Hand über die weissen und schwarzen Tasten. Sie sehen alle gleich aus, aber das täuscht, jede tönt anders, sagte sie. Mehr müsse ich jetzt noch nicht wissen. Ich war froh, dass kein Frage- und Antwortspiel drohte. Erst vor wenigen Monaten in die Primarschule eingetreten, hatte ich damit nämlich keine guten Erfahrungen gemacht: Fräulein Zumbühl, Zumbätzgi genannt, regte sich stets auf, wenn ich über etwas Auskunft gab, das sie mir vorerst selber beizubringen gedachte.
So stand ich gedankenvoll vor dem Klavier, breitete im Geiste meine Arme aus und begann auszurechnen, wie lange ich noch wachsen müsste, bevor ich, auf dem runden, einem luxuriösen Melkstuhl ähnelnden Sessel unverrückbar in der Mitte festgehalten, alle Tasten überhaupt erreichen würde. Nicht anders schien es mir um die zentral in Bodennähe angebrachten Pedale bestellt. Auch zu diesen, befürchtete ich, würde ich einstweilen mit meinen Füssen wohl nicht gelangen.
Es erwies sich aber, dass ich in meinen Bedenken zu sehr auf meine Vorstellung darüber fixiert war, wie Klavierstunden vor sich zu gehen haben. Meine Lehrerin entpuppte sich nämlich als keine belehrende, sondern als eine geniale. Frei von jeder didaktischen Vorbildung und entsprechenden Einengungen fasste sie, wie ich heute vermute, unsere Zusammenkunft als eine unkorsettierte, sozusagen intransitive auf. Auf dem Heimweg ergriff mich eine unerwartete Vorfreude auf die nächste Lektion.
Meine zweite Klavierstunde begann auf gleiche Weise, wobei mir diesmal die schlanken Hände und die polierten, perlmuttfarbenen Fingernägel meiner Lehrerin auffielen. Während ich gefüttert wurde, hatte das Klavier seinen Deckel noch geschlossen und schimmerte schwarz und hoheitsvoll. Als Berta W. dann aufstand und auf es zuging, wurde mir ganz feierlich zumute und mein Herz begann zu klopfen. Meine Lehrerin hob langsam den Deckel und blickte mich dabei verschwörerisch an, als ob sie ein Geheimnis lüftete. Sie setzte sich vor das Klavier, winkte mich zu sich, fasste mich an beiden Seiten und hievte mich auf ihren Schoss. Sie sagte, dass ich nun einfach zuhören solle und begann zu spielen. Es war eine langsame, mir unbekannt Melodie, die sie mit der rechten Hand anschlug, während mir ihre linke sanft übers Haar strich. Das Fenster stand offen. Es hatte kurz vorher geregnet, der Garten roch frisch. In kurzen Abständen sang eine Amsel, die, wie mir schien, mit meiner Lehrerin musikalische Zwiesprache hielt. Ich hoffte, dass der Vogel nicht wegfliegen möge. Glauser’s Katze kam mir in den Sinn, die in den Gärten immer schmaläugig unterwegs war. Die Hand meiner Lehrerin glitt federleicht über die Tasten, verweilte manchmal, streichelte, sprang anmutig weiter, den Tönen voraus und hinterher.
Jedes Mal, wenn ich an diese Klarvierstunde denke, versuche ich mich zu erinnern, wie sie ausgegangen ist. Ich komme aber nie weiter als bis zu dieser Hand, die fortwährend imaginäre Ornamente auf die Tastatur zeichnet. Es ist mir eine dunkle Vermutung geblieben, noch ein Mal bei Berta W. gewesen zu sein, bevor man mir dann weitere Besuche plötzlich verbot. Meine Mutter hatte mir erklärt, das Berti sei öbere und treibe es mit Verhüroteten. Ich konnte mir darauf einen ungefähren Reim machen und wusste nicht, ob ich enttäuscht oder beleidigt sein sollte. Wenig später haben sich besorgte und ordnungsliebende Mitmenschen meiner Lehrerin angenommen und sie in eine Irrenanstalt verbracht. Kurz vorher, meinen morgendlichen Schulweg antretend, hatte ich sie noch einmal gesehen. Sie stand sie in der Haltung der farnesischen Kallipyga im Vorgarten des Hauses und betrachtete, leicht rückwärts gewandt, mit verlorenem Blick den Goldregen. Um ihre weichen und sanften Hüften floss faltenlos ein schieferblaues Kleid.
Weshalb meine Eltern darauf gekommen waren, mir schon früh mit der Klaviermusik vertraut zu machen, weiss ich nicht. Meine Mutter, der ich oft beim Klavierspiel zusah, hatte vielleicht angenommen, ich würde mich an den Nokturnen Chopins delektieren, während ich nur Augen dafür hatte, wie sie sich, sobald sie am Klavier sass, in ein zauberhaftes Wesen verwandelte, dessen Liebreiz mich jeweils noch lange nachher, wenn ich ihr später beim Abtröchnen des Essgeschirrs half, noch gefangen hielt.
Ich sah mich von jeher in den Lauf der Dinge eingebettet und angelächelt von der Gleichgültigkeit des Lebens. Meine Haltung war eine abwartende und blieb es auch, als ich mich an einem sonnigen Nachtmittag im August des Jahres 1945 mit frisch geschnittenen Fingernägeln auf den Weg zu meiner ersten Klavierstunde befand. Das Haus, in dem meine Lehrerin wohnte, lag dem unsrigen gleich gegenüber. In seinem Vorgarten lungerte liederlich der Goldregen und huschten die Amseln.
Berta W. empfing mich an der Haustür, geleitete mich in den Salon und liess mich an einem Glastisch Platz nehmen, auf dem eine Schale voller Früchte stand. Sie setzte sich neben mich, ergriff eine Banane, schälte sie mit drei anmutigen Handbewe-
gungen, hielt sie mir mit einem abgespreizten kleinen Finger hin, zog sie zurück, als ich sie fassen wollte, hielt sie mir wieder hin und wiederholte das Spiel so lange, bis ich begriffen hatte, dass sie mich füttern wollte, den Mund öffnete und zu essen begann.
Nachdem mir Berta W. den Mund mit einer Serviette abgetupft hatte, führte sie mich zum Klavier, dessen Deckel geöffnet war. Behutsam, fast zärtlich und ohne einen Ton anzuschlagen, fuhr sie mit der Hand über die weissen und schwarzen Tasten. Sie sehen alle gleich aus, aber das täuscht, jede tönt anders, sagte sie. Mehr müsse ich jetzt noch nicht wissen. Ich war froh, dass kein Frage- und Antwortspiel drohte. Erst vor wenigen Monaten in die Primarschule eingetreten, hatte ich damit nämlich keine guten Erfahrungen gemacht: Fräulein Zumbühl, Zumbätzgi genannt, regte sich stets auf, wenn ich über etwas Auskunft gab, das sie mir vorerst selber beizubringen gedachte.
So stand ich gedankenvoll vor dem Klavier, breitete im Geiste meine Arme aus und begann auszurechnen, wie lange ich noch wachsen müsste, bevor ich, auf dem runden, einem luxuriösen Melkstuhl ähnelnden Sessel unverrückbar in der Mitte festgehalten, alle Tasten überhaupt erreichen würde. Nicht anders schien es mir um die zentral in Bodennähe angebrachten Pedale bestellt. Auch zu diesen, befürchtete ich, würde ich einstweilen mit meinen Füssen wohl nicht gelangen.
Es erwies sich aber, dass ich in meinen Bedenken zu sehr auf meine Vorstellung darüber fixiert war, wie Klavierstunden vor sich zu gehen haben. Meine Lehrerin entpuppte sich nämlich als keine belehrende, sondern als eine geniale. Frei von jeder didaktischen Vorbildung und entsprechenden Einengungen fasste sie, wie ich heute vermute, unsere Zusammenkunft als eine unkorsettierte, sozusagen intransitive auf. Auf dem Heimweg ergriff mich eine unerwartete Vorfreude auf die nächste Lektion.
Meine zweite Klavierstunde begann auf gleiche Weise, wobei mir diesmal die schlanken Hände und die polierten, perlmuttfarbenen Fingernägel meiner Lehrerin auffielen. Während ich gefüttert wurde, hatte das Klavier seinen Deckel noch geschlossen und schimmerte schwarz und hoheitsvoll. Als Berta W. dann aufstand und auf es zuging, wurde mir ganz feierlich zumute und mein Herz begann zu klopfen. Meine Lehrerin hob langsam den Deckel und blickte mich dabei verschwörerisch an, als ob sie ein Geheimnis lüftete. Sie setzte sich vor das Klavier, winkte mich zu sich, fasste mich an beiden Seiten und hievte mich auf ihren Schoss. Sie sagte, dass ich nun einfach zuhören solle und begann zu spielen. Es war eine langsame, mir unbekannt Melodie, die sie mit der rechten Hand anschlug, während mir ihre linke sanft übers Haar strich. Das Fenster stand offen. Es hatte kurz vorher geregnet, der Garten roch frisch. In kurzen Abständen sang eine Amsel, die, wie mir schien, mit meiner Lehrerin musikalische Zwiesprache hielt. Ich hoffte, dass der Vogel nicht wegfliegen möge. Glauser’s Katze kam mir in den Sinn, die in den Gärten immer schmaläugig unterwegs war. Die Hand meiner Lehrerin glitt federleicht über die Tasten, verweilte manchmal, streichelte, sprang anmutig weiter, den Tönen voraus und hinterher.
Jedes Mal, wenn ich an diese Klarvierstunde denke, versuche ich mich zu erinnern, wie sie ausgegangen ist. Ich komme aber nie weiter als bis zu dieser Hand, die fortwährend imaginäre Ornamente auf die Tastatur zeichnet. Es ist mir eine dunkle Vermutung geblieben, noch ein Mal bei Berta W. gewesen zu sein, bevor man mir dann weitere Besuche plötzlich verbot. Meine Mutter hatte mir erklärt, das Berti sei öbere und treibe es mit Verhüroteten. Ich konnte mir darauf einen ungefähren Reim machen und wusste nicht, ob ich enttäuscht oder beleidigt sein sollte. Wenig später haben sich besorgte und ordnungsliebende Mitmenschen meiner Lehrerin angenommen und sie in eine Irrenanstalt verbracht. Kurz vorher, meinen morgendlichen Schulweg antretend, hatte ich sie noch einmal gesehen. Sie stand sie in der Haltung der farnesischen Kallipyga im Vorgarten des Hauses und betrachtete, leicht rückwärts gewandt, mit verlorenem Blick den Goldregen. Um ihre weichen und sanften Hüften floss faltenlos ein schieferblaues Kleid.