Kontakte
Das Telefon dudelte. Ich schob die Zeitung vom Gesicht, tastete ziellos auf dem Tisch herum, fand endlich den schnurlosen Hörer und drückte auf den grünen Knopf.
„Jaa?“
„Hilf mir“, flüsterte eine gebrochene Stimme am anderen Ende. „Bitte.“
„Wer ist denn dran?“ Bestimmt einer von diesen Verrückten, die fremde Frauen anrufen und ins Telefon stöhnen.
„Patrick“, kam es aus dem Hörer. „Hier ist Patrick. Hilf mir. Mir geht’s nicht gut.“
Ich setzte mich mit einem Ruck auf, wobei die Zeitung in einem wüsten Haufen zu Boden rutschte und Pamela Anderson auf Herrn Müntefering zu liegen kam. Patrick und sein Handy waren in unserer alten Clique Zielscheibe unzähliger Witze gewesen. Er nahm es überall mit hin, sogar aufs Klo.
Jetzt hatten ich schon lange nichts mehr von ihm gehört.
„Wo bist du denn?“ rief ich. Es blieb eine halbe Minute still, und ich glaubte abermals an einen schlechten Scherz. Dann kam die gebrochene Stimme wieder. „Weiß nicht genau. Im Wald.“
„Bist du krank?“ rief ich, blödsinnig laut jetzt. „Hattest du einen Unfall?“
Es kam nichts mehr. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, legte das Telefon endlich weg und fing an, die Zeitung einzusammeln. Eine Minute später tutete es wieder.
Ich riß den Hörer an mein Ohr. „Jaaa!“
Nichts passierte. Verflixt, erst den grünen Knopf drücken. „Hallo? Ist da jemand?“
„Ich glaube, mit mir ist’s aus.“ Die Stimme klang fern und hohl.
„Menschenskind“, rief ich in heller Panik, „ich schicke dir den Notarzt, sag‘ doch, wo du bist!“
„Im Wald. In der Klingelmannkurve“, tönte es überraschend deutlich. Dann knackte es, und die Verbindung war wieder unterbrochen.
Klingelmannkurve. Das war ganz bei mir in der Nähe. Hier hatte sich der Sohn des Bauunternehmers Klingelmann vor drei Jahren mit seinem Auto überschlagen. Daher der Name. Seitdem stand ein Holzkreuz mit Plastikblumen in der Klingelmannkurve. In Gedanken sah ich Patrick unter dem Kreuz hingestreckt, die Augen gebrochen, das Handy in der starren Hand am blutüberströmten Ohr, und ich wählte hastig die 110.
Als der Rettungswagen kam, war Patrick bereits tot. Sein Wagen, ein BMW mit Alufelgen, lag im Straßengraben auf der Schnauze. Patrick selbst war hinausgeschleudert worden und auf einer Streugutbox gelandet. So stand es am nächsten Tag in der Zeitung.
Ich ging zur Beerdigung.
Ungern zwar, und wir hatten uns ja auch nicht besonders nahegestanden, Patrick und ich. Aber schließlich hatte er mich angerufen, und es würde komisch aussehen, wenn ich mich nicht blicken ließ.
Es waren noch ein paar andere Leute aus der alten Clique gekommen, die herumstanden, als gehörten sie nicht recht dazu. Ich erkannte meine alte Freundin Trixie, die ich seit zwei Jahren nicht gesehen hatte. Sie trug einen langen schwarzen Mantel, nicht weil sich das bei einer Beerdigung so gehört, sondern weil sie immer Schwarz trägt; sie hatte schwarz ummalte Augen und einen Silberring in der Unterlippe und an den Füßen schwarze Stiefel mit acht Zentimeter hohen Absätzen.
„Sieht die Frau nicht komisch aus?“ fragte sie mich und zeigte auf eine der Hauptleidtragenden, die längst nicht so komisch aussah wie Trixie selbst. „Das ist die trauernde Mutter.“
Patricks Mutter hatte stahlblau gefärbte Haare und trug ein kleines schwarzes Hütchen mit getupftem schwarzem Schleier. Sie hing am Arm eines militärisch aussehenden Herrn mit grauem Bürstenhaarschnitt.
Das sei nicht Patricks Vater, klärte Trixie mich auf, sondern der Stiefvater. Patricks zweiter Stiefvater, wenn sie sich recht erinnere. Das dort sei der jüngere Bruder (Glatzkopf und Bodybuilderschultern), das dort der ältere Bruder (Ziegenbart, abstehende Ohren, Westernstiefel zum schwarzen Anzug). Sie deutete ununterbrochen mit ihrer schwarzbehandschuhten Hand herum und nannte Namen. In der Hand hielt sie eine Zigarette. Trixie ist Kettenraucherin, aber da sie auf dem Friedhof nicht gut qualmen konnte, war die Zigarette kalt.
Die Familie warf Schaufeln voll Erde auf den Sarg, während Trixie die Zigarette zerbröselte.
„Dich“, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen, „sollte man am besten mit deinen Fluppen begraben.“
„Du hast recht, ich muß rauchen“, erwiderte sie, nicht die Spur beleidigt. „Gehen wir einen Kaffee trinken?“
Wir schlenderten dorfeinwärts. Trixie sah in dem langen schwarzen Mantel deplaziert aus, wie ein Vampir auf Futtersuche. Ich schwitzte unter meiner modisch engen Jacke, doch ihr schien die Hitze nichts auszumachen.
„Warum hat Patrick eigentlich ausgerechnet dich angerufen?“ fragte sie nach einer Weile.
Ich zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Vielleicht, weil ich ganz in der Nähe dieser Klingelmannkurve wohne.“
„Daß er das noch wußte“, wunderte sie sich. „Und dann die Telefonnummer...“
„Meine Telefonnummer hatte er wahrscheinlich noch einprogrammiert. Du weißt doch, diese Handys können über hundert Nummern speichern. Hast du nicht selbst auch so ein Ding?“
Wie auf Kommando begann es in diesem Augenblick in den Tiefen ihres Mantels zu dudeln. Sie blieb stehen und durchwühlte ihre Taschen. „Wo ist denn... da soll doch gleich... ah, ja.“ Jetzt hatte sie es gefunden, drückte mit ihrer schwarzgelackten Klaue den grünen Knopf und hob das Handy ans Ohr. „Ja, hallo?“
Ich ging einfach weiter, während sie stehenblieb, um nicht mithören zu müssen. Man will ja nicht indiskret sein.
Ich kam jedoch nicht weit. Schon nach drei Schritten holte sie mich wieder ein und hielt mir das schwarze Ding entgegen. „Er will dich.“ Ihr Gesicht war bleich, und das Handy zitterte in ihrer Hand.
„Mir geht’s nicht gut“, klang es aus dem Hörer. „Ich weiß nicht, wo ich bin... Bitte, hilf mir...“
©Anna Rinn-Schad
Das Telefon dudelte. Ich schob die Zeitung vom Gesicht, tastete ziellos auf dem Tisch herum, fand endlich den schnurlosen Hörer und drückte auf den grünen Knopf.
„Jaa?“
„Hilf mir“, flüsterte eine gebrochene Stimme am anderen Ende. „Bitte.“
„Wer ist denn dran?“ Bestimmt einer von diesen Verrückten, die fremde Frauen anrufen und ins Telefon stöhnen.
„Patrick“, kam es aus dem Hörer. „Hier ist Patrick. Hilf mir. Mir geht’s nicht gut.“
Ich setzte mich mit einem Ruck auf, wobei die Zeitung in einem wüsten Haufen zu Boden rutschte und Pamela Anderson auf Herrn Müntefering zu liegen kam. Patrick und sein Handy waren in unserer alten Clique Zielscheibe unzähliger Witze gewesen. Er nahm es überall mit hin, sogar aufs Klo.
Jetzt hatten ich schon lange nichts mehr von ihm gehört.
„Wo bist du denn?“ rief ich. Es blieb eine halbe Minute still, und ich glaubte abermals an einen schlechten Scherz. Dann kam die gebrochene Stimme wieder. „Weiß nicht genau. Im Wald.“
„Bist du krank?“ rief ich, blödsinnig laut jetzt. „Hattest du einen Unfall?“
Es kam nichts mehr. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, legte das Telefon endlich weg und fing an, die Zeitung einzusammeln. Eine Minute später tutete es wieder.
Ich riß den Hörer an mein Ohr. „Jaaa!“
Nichts passierte. Verflixt, erst den grünen Knopf drücken. „Hallo? Ist da jemand?“
„Ich glaube, mit mir ist’s aus.“ Die Stimme klang fern und hohl.
„Menschenskind“, rief ich in heller Panik, „ich schicke dir den Notarzt, sag‘ doch, wo du bist!“
„Im Wald. In der Klingelmannkurve“, tönte es überraschend deutlich. Dann knackte es, und die Verbindung war wieder unterbrochen.
Klingelmannkurve. Das war ganz bei mir in der Nähe. Hier hatte sich der Sohn des Bauunternehmers Klingelmann vor drei Jahren mit seinem Auto überschlagen. Daher der Name. Seitdem stand ein Holzkreuz mit Plastikblumen in der Klingelmannkurve. In Gedanken sah ich Patrick unter dem Kreuz hingestreckt, die Augen gebrochen, das Handy in der starren Hand am blutüberströmten Ohr, und ich wählte hastig die 110.
Als der Rettungswagen kam, war Patrick bereits tot. Sein Wagen, ein BMW mit Alufelgen, lag im Straßengraben auf der Schnauze. Patrick selbst war hinausgeschleudert worden und auf einer Streugutbox gelandet. So stand es am nächsten Tag in der Zeitung.
Ich ging zur Beerdigung.
Ungern zwar, und wir hatten uns ja auch nicht besonders nahegestanden, Patrick und ich. Aber schließlich hatte er mich angerufen, und es würde komisch aussehen, wenn ich mich nicht blicken ließ.
Es waren noch ein paar andere Leute aus der alten Clique gekommen, die herumstanden, als gehörten sie nicht recht dazu. Ich erkannte meine alte Freundin Trixie, die ich seit zwei Jahren nicht gesehen hatte. Sie trug einen langen schwarzen Mantel, nicht weil sich das bei einer Beerdigung so gehört, sondern weil sie immer Schwarz trägt; sie hatte schwarz ummalte Augen und einen Silberring in der Unterlippe und an den Füßen schwarze Stiefel mit acht Zentimeter hohen Absätzen.
„Sieht die Frau nicht komisch aus?“ fragte sie mich und zeigte auf eine der Hauptleidtragenden, die längst nicht so komisch aussah wie Trixie selbst. „Das ist die trauernde Mutter.“
Patricks Mutter hatte stahlblau gefärbte Haare und trug ein kleines schwarzes Hütchen mit getupftem schwarzem Schleier. Sie hing am Arm eines militärisch aussehenden Herrn mit grauem Bürstenhaarschnitt.
Das sei nicht Patricks Vater, klärte Trixie mich auf, sondern der Stiefvater. Patricks zweiter Stiefvater, wenn sie sich recht erinnere. Das dort sei der jüngere Bruder (Glatzkopf und Bodybuilderschultern), das dort der ältere Bruder (Ziegenbart, abstehende Ohren, Westernstiefel zum schwarzen Anzug). Sie deutete ununterbrochen mit ihrer schwarzbehandschuhten Hand herum und nannte Namen. In der Hand hielt sie eine Zigarette. Trixie ist Kettenraucherin, aber da sie auf dem Friedhof nicht gut qualmen konnte, war die Zigarette kalt.
Die Familie warf Schaufeln voll Erde auf den Sarg, während Trixie die Zigarette zerbröselte.
„Dich“, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen, „sollte man am besten mit deinen Fluppen begraben.“
„Du hast recht, ich muß rauchen“, erwiderte sie, nicht die Spur beleidigt. „Gehen wir einen Kaffee trinken?“
Wir schlenderten dorfeinwärts. Trixie sah in dem langen schwarzen Mantel deplaziert aus, wie ein Vampir auf Futtersuche. Ich schwitzte unter meiner modisch engen Jacke, doch ihr schien die Hitze nichts auszumachen.
„Warum hat Patrick eigentlich ausgerechnet dich angerufen?“ fragte sie nach einer Weile.
Ich zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Vielleicht, weil ich ganz in der Nähe dieser Klingelmannkurve wohne.“
„Daß er das noch wußte“, wunderte sie sich. „Und dann die Telefonnummer...“
„Meine Telefonnummer hatte er wahrscheinlich noch einprogrammiert. Du weißt doch, diese Handys können über hundert Nummern speichern. Hast du nicht selbst auch so ein Ding?“
Wie auf Kommando begann es in diesem Augenblick in den Tiefen ihres Mantels zu dudeln. Sie blieb stehen und durchwühlte ihre Taschen. „Wo ist denn... da soll doch gleich... ah, ja.“ Jetzt hatte sie es gefunden, drückte mit ihrer schwarzgelackten Klaue den grünen Knopf und hob das Handy ans Ohr. „Ja, hallo?“
Ich ging einfach weiter, während sie stehenblieb, um nicht mithören zu müssen. Man will ja nicht indiskret sein.
Ich kam jedoch nicht weit. Schon nach drei Schritten holte sie mich wieder ein und hielt mir das schwarze Ding entgegen. „Er will dich.“ Ihr Gesicht war bleich, und das Handy zitterte in ihrer Hand.
„Mir geht’s nicht gut“, klang es aus dem Hörer. „Ich weiß nicht, wo ich bin... Bitte, hilf mir...“
©Anna Rinn-Schad